Archiv

50 Jahre Neujahrsansprache aus dem Kanzleramt
Machtworte aus der Glotze

Es ist neben "Dinner for One" das jährliche Ritual, wenn sich Kanzler oder Kanzlerin am Silvesterabend an die Nation wenden. In diesem Jahr wird die Neujahrsansprache aus dem Kanzleramt 50 Jahre alt. Die Reden sind meist feierlich getragen, nur eine Person bringt gelegentlich Witz hinein.

Von Stefan Fries |
Bundeskanzler Helmut Kohl im Vordergrund auf einem Fernsehbildschirm und im Hintergrund persönlich
Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 bei Proben für seine Neujahrsansprache (picture-alliance / dpa / Martin Gerten)
Am Silvesterabend kommt sie so verlässlich wie "Dinner for one": die Neujahrsansprache des Kanzlers – und seit 15 Jahren der Kanzlerin. Ebenso beständig ist die Form: eine ausgeruhte, meist nüchterne Rede, zwischen 6 und 15 Minuten lang, frontal in die Kamera.
Helmut Kohl (1985): "Am Silvesterabend denken wir zurück an das, was im ausklingenden Jahr unser Leben in der Familie und im Beruf geprägt hat, und an das, was wir uns gemeinsam vom neuen Jahr erhoffen."
Willy Brandt (1973): "Die Jahreswende gibt Gelegenheit, sich und anderen Rechenschaft abzulegen."
Angela Merkel (2014): "Der Jahreswechsel ist traditionell ein Zeitpunkt guter Vorsätze."
...und ein Zeitpunkt getragener Reden. Seit 50 Jahren wenden sich Kanzler oder Kanzlerin an Silvester an ihre Bürger – bis dahin taten sie das zu Weihnachten. 1970 tauschten Bundespräsident und Bundeskanzler den Termin. Michael Mertes, der Reden für Helmut Kohl schrieb, nannte vor einigen Jahren dem "Tagesspiegel" als Grund für den Tausch, dass sich der Präsident wohl besser fürs Salbungsvolle an Weihnachten eigne und der Kanzler zur Jahreswende politisch zurück und nach vorne schauen wolle.
Karl-Rudolf Korte: "Der Bundeskanzler zieht Bilanz und verweist auf das, was im neuen Jahr auf uns alle zukommt. Er versucht, Gemeinschaft herzustellen mit den Bürgern, die ihn gewählt haben und auch mit denen, die sie nicht gewählt haben."
...sagt Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg/Essen. Er hat wichtige Reden aller Kanzler analysiert, Regierungserklärungen ebenso wie Neujahrsansprachen.
"Eher eine präsidiale Rede"
"Es ist eher eine präsidiale Rede, auch wenn es ein Kanzler hält. Die wichtigste Vokabel ist das ‚Wir‘, das inklusive ‚Wir‘, auf das man verweist, um konsensfähig zu formulieren. Also die Funktion ist, noch mal nicht nur eine Leistungsbilanz, sondern darauf zu verweisen, dass wir zusammenarbeiten sollten. Also der Appell an die hohe Solidarität im Land."
Angela Merkel (2010): "Deutschland hat die Krise wie kaum ein anderes Land gemeistert. Was wir uns vorgenommen hatten, das haben wir auch geschafft. Wir sind sogar gestärkt aus der Krise hervorgekommen, und das ist vor allem Ihr Verdienst."
Helmut Kohl (1994): "Wir brauchen ein Bündnis für die Zukunft, und jeder ist dazu eingeladen."
Gerhard Schröder (1998): "Lassen Sie mich deshalb wiederholen, dass wir auf die Schaffenskraft und die Kreativität aller angewiesen sind und allen, die einen Beitrag leisten wollen, auch Gelegenheit dazu geben."
Bundeskanzler Gerhard Schröder sitzt im Kanzleramt in Berlin vor der Neujahrsansprache auf einem Stuhl, vor sich eine große Fernsehkamera
Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Aufzeichnung seiner Neujahrsansprache 2003 (picture-alliance / dpa / Michael Dalder)
ARD, ZDF, das Deutschlandradio und viele öffentlich-rechtliche Radiosender strahlen die Neujahrsansprachen freiwillig aus – ebenso wie die Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten. Anders als bei Wahlwerbespots und bei den Verkündigungssendungen der Kirchen sind sie nicht per Staatsvertrag dazu gezwungen. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg, der in diesem Jahr federführend für die Aufzeichnung der Merkel-Ansprache zuständig ist, begründet die Ausstrahlung mit einer jahrzehntelangen Tradition, das Publikum erwarte die Rede. Journalistisch eingeordnet werde sie dann in den politischen und nachrichtlichen Formaten.
"Ausnahmeminuten im Programm"
Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte hält die eins-zu-eins-Ausstrahlung solch einer Rede für unproblematisch.
"Es sind ja Ausnahmeminuten im deutschen Sendeprogramm und sehgewohnheitsmäßig auch absolut Seltenheit; dass eine Direktansprache an die Bürger erfolgt, ist ja nur an Weihnachten, Neujahr über die beiden Staatsorgane vorstellbar. Dass es nach Jahrzehnten einmal unterbrochen war, jetzt im Corona-Jahr ist eben eine besondere Ausnahme mit Merkel."
Die Neujahrsansprachen sind nicht live, ARD und ZDF zeichnen sie auf – und tauschen jedes Jahr. 2020 ist die ARD für Frau Merkel zuständig und das ZDF für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier; voriges Jahr war es umgekehrt.
Als Bundeskanzler Helmut Kohl zum fünften Mal seine Neujahrsansprache hielt, kam es in der ARD zu einer Verwechslung. Am Ende der Rede zu Neujahr 1987 wünscht Helmut Kohl in der Aufzeichnung "...Ihnen allen ein friedvolles und glückliches Jahr 1986."
Der zuständige Norddeutsche Rundfunk hatte das Band vom Vorjahr nochmal abgespielt. Die Empörung in CDU und CSU war groß. Regierungssprecher Friedhelm Ost sprach von einer Beleidigung für alle Zuschauer. CDU-Generalsekretär Heiner Geißler konnte sich nicht vorstellen, wie er sagte, dass daran ein "Redakteur namens Zufall" oder ein "Techniker namens Versehen" schuld sei. Einen Monat später stand eine Bundestagswahl an, Politiker vermuteten Sabotage.
Verkettung unglücklicher Umstände
NDR-Programmdirektor Rolf Seelmann-Eggebert erläuterte nach hausinternen Recherchen später in einer fünfminütigen Sondersendung minutiös, wie es dazu gekommen war:
"In der Sendezentrale der Tagesschau, in der aus technischen Gründen keine besonders günstigen Lichtverhältnisse herrschen, liegen am Silvesterabend zwei Videobänder vor. Das eine ist gekennzeichnet mit 'Neujahrsansprache des Bundeskanzlers', Datum '27. Dezember 1985', das andere mit 'TS' für Tagesschau, 'Sammelband', Datum '29. Dezember 1986'.
Seelmann-Eggebert spricht von einer Verkettung mehrerer unglücklicher Umstände, dass am Ende das falsche Band aufgelegt wurde. Helmut Kohls neue Neujahrsansprache wurde dann am nächsten Tag gezeigt, also tatsächlich zu Neujahr, verbunden mit klaren Worten der Ansagerin zur Verwechslung: "Wir bitten den Bundeskanzler und Sie, meine Damen und Herren, dafür um Entschuldigung."
Bundeskanzler und Außenminister Helmut Schmidt (SPD) am 27.09.1982 auf der Regierungsbank im Deutschen Bundestag in Bonn.
Bundeskanzler und Außenminister Helmut Schmidt (SPD) am 27.09.1982 auf der Regierungsbank im Deutschen Bundestag in Bonn. (dpa )
Kein Jahr war wirklich schlecht
Die Reden sind feierlich, getragen, nachdenklich, die Kanzler geben sich empathisch, verständnisvoll, ausgleichend. Die wenigen amüsanten Stellen in den Reden der letzten 50 Jahre kommen ausgerechnet von einer Person, der man sie am wenigsten zugetraut hätte: Angela Merkel. Bei ihrer ersten Ansprache 2005 schaut sie voraus auf die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland:
"Natürlich drücken wir unserer Mannschaft die Daumen, und ich glaube, die Chancen sind gar nicht schlecht. Die Frauen-Fußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußball-Weltmeister. Und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das gleiche leisten können wie Frauen."
Keins der jeweils zurückliegenden Jahre finden Kanzler und Kanzlerin insgesamt schlecht, auch wenn sie viele davon als schwierig oder herausfordernd bezeichnen. Immer schauen sie optimistisch ins kommende Jahr, für das ihre eigene Politik gute Voraussetzungen geschaffen habe. Fast immer danken sie den Bürgern und bitten um Mitwirkung.
Selten wendeten sich Kanzler per Fernsehen direkt ans Volk. Angela Merkel tat das 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie, Helmut Schmidt 1977 zur Entführung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF. Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte findet es richtig, das Instrument einer solchen direkten Ansprache nicht zu überreizen.
"Macht verliert an Konsequenz, auch an Potenzial, wenn man sie zu oft demonstriert. Und das Demonstrieren der Macht durch solche doch letztlich machtvollen Auftritte verpufft dann in der eigentlichen Wirkung. Das Instrument der Kanzlerin, um mit den Bürgern zu kommunizieren, zu erklären, zu deuten, einzuordnen ist der Deutsche Bundestag. Da muss sie viel mehr kommunikative Arbeit leisten als jetzt in Interviews. Und insofern ist der Ort des Gesprächs mit den Bürgern auch vorrangig das Parlament und nicht das Fernsehstudio."