Am Anfang stand die Bestürzung. Filmproduzentin Joan Ganz Cooney war schier fassungslos, dass amerikanische Kinder zwar einen TV-Spot, der für Bier warb, nachsingen konnten, doch bei der Einschulung nicht in der Lage waren, ihren eigenen Nachnamen aufzusagen. Das war Mitte der 1960er Jahre, damals war Amerika DIE Fernsehnation. Kinder sahen wöchentlich 50 Stunden fern, doch außer geistlosen Zeichentrickfilmen wurde ihnen nichts geboten.
Cooney wollte das ändern und gründete mit dem Psychologen Lloyd Morrisett den gemeinnützigen "Children‘s Television Workshop". Unterstützt von Pädagogen und Bildungsforschern, schrieben sie ein 40-seitiges Curriculum mit Lernzielen für Vorschüler. Eine erste Umsetzung fürs Fernsehen war am 10. November 1969 zu bestaunen.
Da hatte die "Sesame Street" Premiere. Der Schauplatz war spektakulär: Eine Straße in der Großstadt, rauchende Gullys, scheppernde Mülltonnen und herumlungernde Kinder, die sich von seltsamen Monsterpuppen die Welt erklären ließen: von Kermit, dem Frosch, Oscar, der in der Tonne lebt, Graf Zahl, einem Buchstabenschmuggler im Trenchcoat, Ernie und Bert... Die wilden Puppen verpackten Grammatik in Spaßlieder und sangen: "Welche Zahl kommt nach der zwei?"
Weltstars als Menschen wie du und ich
Kinder lernten von ihnen Rechnen und Buchstabieren genauso wie tolerantes Verhalten. Denn die Welt der Erwachsenen, die in der Sesamstraße auftraten, war ebenso vielfältig und bunt wie das Reich der Puppen: Afroamerikaner, Hispanics, Asiaten und Amerikaner mit weißer Hautfarbe - eine Multikulti-Gesellschaft, wie sie damals kurz nach der Ermordung Martin Luther Kings in den USA nicht überall akzeptiert wurde.
Den Sound zum bunten Leben in dieser Straße lieferte Showprominenz. Ray Charles intonierte "Beein‘ Green" und erzählte, wie wichtig es sei, sich in der eigenen Haut wohlzufühlen. Harry Belafonte und Susan Sarandon besangen das Alphabet, Popstar Kylie Minogue schmachtete Frosch Kermit an und Tenor Andrea Bocelli half der Handpuppe Elmo beim Einschlafen. Weltstars als Menschen wie du und ich. Auch das eine Botschaft für die Kinder.
Das Konzept - ein bisschen anarchistisch, doch pädagogisch wertvoll - ging auf, die Sesamstraße war sofort erfolgreich. Vor allem die von Jim Henson kreierten und von seiner erfolgreichen Muppet Show übernommenen Puppen hielten die Kinder vor dem Bildschirm. Nur einige Pädagogen diskutierten, ob die schnelle Schnittfolge nicht Epilepsie auslösen könnte.
Der Beginn der Sesamstraße
Vereinzelt Einwände gab es auch in Deutschland, als die Sesamstraße dort 1973 von einigen dritten Programmen übernommen wurde. Man könne die Lebensumstände in den USA und in Deutschland nicht miteinander vergleichen, protestierte der Bayerische Rundfunk.
Vor allem Szenen, die in einem New Yorker Slum spielten, erregten Anstoß. Wie groß hingegen der popkulturelle Einfluss der Sesamstraße geworden ist, zeigt sich an den anhaltenden Gerüchten um einzelne Charaktere. So wird von den Fans heftig darüber debattiert, ob die Freunde Ernie und Bert schwul seien, was von den Produzenten der Show jedoch nie bestätigt wurde.
Bis heute ist die Sesamstraße das erfolgreichste Kinderprogramm aller Zeiten, mehr als 4.500 Folgen liefen bereits allein in den USA. Von Australien bis Bangladesch läuft das Format in mehr als 140 Ländern.
Dabei folgt man dem Zeitgeist, packt auch heiße Eisen an. In der israelischen Show werben die Puppen Mahmud und Noah für die Verständigung zwischen Arabern und Juden. Und das Krümelmonster bekommt neuerdings Äpfel und Kohlrabi, und falls Kekse, dann doch nur aus Vollkorn. Doch das ebenfalls angepeilte Ziel, zum Förderinstrument für sozial benachteiligte Kinder zu werden, hat man nicht erreicht. Überall auf der Welt wird die Sesamstraße vor allem in Familien mit ohnehin hohem Bildungsniveau gesehen.