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50 Jahre Sesamstraße
Ernie, Bert und viele ungezogene Monster

Als die "Sesamstraße" vor 50 Jahren aus Amerika kam, waren die Figuren ein Schock fürs Bildungsbürgertum. Besonders der in einer Mülltonne lebende Oskar und das vielfressende Krümelmonster sorgten für Empörung. Auch bei der Einführung in Deutschland gab es kräftig Gegenwind.

Von Beatrix Novy |
Die Puppen Ernie und Bert aus der Sesamstraße
Der aufgedrehte Ernie und der seriöse Bert gehören zu den genialen Puppen des Muppet-Schöpfers Jim Henson (Georg Wendt/dpa)
Die Kinder der ersten bundesdeutschen Fernsehgeneration wuchsen mit pädagogisch untadeligen Jugendsendungen à la "Sport Spiel Spannung" auf und mit pädagogisch immerhin vertretbaren Import-Serien, die von klugen Pferden oder Hunden handelten, wie Fury und Lassie. Fernsehen für Vorschulkinder war selbstverständlich tabu. Das konnte, bedenkt man die zügige Entwicklung zum damals noch allein herrschenden Massenmedium, nicht ewig so bleiben.
Aber als in den USA Ende der 60er-Jahre die unter Sechsjährigen in den televisionären Blick genommen wurden, ging es nicht nur um die Bindung neuer Zielgruppen. Die Sesamstraße war ein Kind der von sozialen Konflikten bewegten Johnson- und Nixon-Ära, als man sich nach Strategien gegen Armut, Rassenspannungen, Chancenungleichheit umsah. Man setzte voraus: Kinder, vor allem die weniger privilegierten, sitzen viel vor dem Fernseher. Und wenn sie da schon sitzen, kann man ihnen doch nachreichen, was fehlt: intellektuelle Förderung, Anregung, Wissen.
Rasant durch die Flimmerkiste
Die am 10. November 1969 ausgestrahlte erste Folge von "Sesame Street" bewies: Kompensatorische Erziehung kann sehr witzig sein. Nicht lustig, nein: witzig. Kein bemüht harmloser Kinderton, sondern Schwung, Skurrilität, Esprit. Am kindgerechten und doch erwachsenen Humor der genialen Puppen des Muppet-Schöpfers Jim Henson fanden auch die Großen ihr Vergnügen.
Etwas zwiespältig: das enorme Tempo. Diese Rasanz war den Lieblingssendungen kleiner Kinder abgeschaut, den Werbespots. Schon damals war die Theorie von den kürzesten Einheiten, die kindlicher Aufmerksamkeit zuzumuten sind, zur self-fulfilling-prophecy geworden. Zack, jetzt lernen wir Zahlen, zackzack, jetzt die Buchstaben, zackzackzack, ein Lied.
Zu viel essen und im Müll leben
Kein Wunder, dass sofort die Fetzen flogen, als sie 1973 im deutschen Fernsehen ankamen: der aufgedrehte Ernie, der seriöse Bert, das Krümelmonster mit seiner erfrischend ungesunden Lebensweise, Graf Zahl "the Count" und die anderen Sesamstraßenbewohner. Der Bayrische Rundfunk hatte sich erst gar nicht an der Kooperation mit dem New Yorker Children's Television Network beteiligt, schon wegen des charakteristischen US-Großstadt-Hinterhofambientes der Sesamstraße, das stark nach Slum aussah.
Auch der für deutsche Verhältnisse ungewohnte Anblick schwarzer Gesichter sei doch realitätsfern, hieß es - für ein kluges Kind wahrlich kein Argument. Heute sind Minderheiten- und soziale Themen klares Programm, heute dürfen Ernie und Bert auch gern schwul sein - damals beschwerten sich entsetzte Eltern über den übellaunigen Mülltonnenbewohner Oskar; dabei hätte ein bildungsbürgerlicher Vergleich mit Diogenes in der Tonne durchaus nahegelegen.
Ganz anderer Trash überschwemmte nach der Einführung des Privatfernsehens die Bildschirme. Endlose Diskussionen, ob und wie gefährlich kindliches Fernsehschauen sei, versiegten irgendwann ohne rechtes Ergebnis. Im lärmigen Geschnatter schrottiger Animationsdutzendware erscheinen die Sesamstraße und andere engagierte Kinderprogramme nicht mehr als Einstiegsdroge, sondern als Festung der Qualität - jedenfalls, soweit sie noch auffindbar sind. Ohnehin hatte der federführende NDR sie schon in den 70ern ent-amerikanisiert, einen eigenen Rahmen und eigene Figuren geschaffen. Die vielen Debatten um die Eignung des Mediums zur Wissensvermittlung machten die Serie alltagsbezogener und bedächtiger.
Die Ersten waren die Besten
Das neue deutsche Personal, das Zottelmonster Samson, die altkluge Tiffy sowie ihre erwachsenen Partner - wirkten vergleichsweise kindertümelnd, manche Eltern schauten die Sesamstraße nur noch heldenhaft mit, damit der Nachwuchs nicht auf "Ein Colt für alle Fälle" ins ZDF umschaltete.
Die Kinder von damals allerdings lassen auf ihre Sesamstraße nichts kommen: "Das war doch schön mit Lilo Pulver" und so geht es wohl jeder Generation. Auch ein Stück Fernseh-Kindheit gehört unversehrbar zu der Persönlichkeit, die man geworden ist.