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50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit
Die Zukunft der Politischen Philosophie

Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, eng verbunden mit der liberalen Demokratie der Nachkriegszeit, war lange Jahre gültig. Sie gab dem Traum einer gerechten Gesellschaft philosophische Gestalt. Lässt sich – und wenn ja, wie – Rawls' einflussreiche Theorie aktualisieren?

Von Katrina Forrester. Aus dem Amerikanischen von Jakob Huber |
Demonstranten in Austin, Texas protestieren am 08. Juli 2021 gegen Diskriminerung und Benachteilung
Das Ziel eines gesellschaftlichen Konsens' wirkt angesichts der tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaften heute realitätsfremd, schreibt Katrina Forrester (AFP / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / Tamir Kalifa)
John Rawls‘ Arbeit über eine "Theorie der Gerechtigkeit" in der Mitte des 20. Jahrhunderts führte zu einem Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie. Philosophen und Philosophinnen begannen damit zu erkunden, was Gerechtigkeit und Gleichheit im Kontext moderner kapitalistischer Sozialstaaten bedeuteten. Und sie griffen auf ebendiese Begriffe zurück, um akribisch und beeindruckend genau im Detail die ideale Struktur einer gerechten Gesellschaft zu beschreiben – die, wie sich herausstellte, einer Version der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit stark ähnelte.
Innerhalb dieses theoretischen Rahmens haben Philosophinnen seitdem einen Korpus abstrakter moralischer Grundsätze erarbeitet, die das philosophische Rückgrat des modernen Liberalismus darstellen.

50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit

Eine Reihe in drei Teilen
  1. Die Zukunft der Politischen Philosophie (05.09.2021)
  2. Verlorener Begriff und feministische Kritik (12.09.2021)
  3. Wie Rawls über Umverteilung, Sozialstaat und Weltordnungen dachte (19.09.2021)

Lange Jahre gültig: Rawls' Leitbegriffe und Ziele

Es ist die Geschichte eines Triumphs: aus philosophischer Sicht war John Rawls‘ Projekt ein großer Erfolg. Das heißt keineswegs, dass es nach Rawls unter politischen Philosophen keine Meinungsverschiedenheiten mehr gab; detaillierte und leidenschaftliche Auseinandersetzungen sind schließlich das, worin Philosophinnen und Philosophen am besten sind.
Die Zeichnung von Dariush Radpour zeigt den us-amerikanischen Philosophen John Rawls.
Harvard-Philosoph John Rawls. In den USA erschien seine "Theorie der Gerechtigkeit" 1971, in Deutschland erst 1975 (akg-images / Fototeca Gilardi)
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte haben sie in Bezug auf die grundlegenden Spielregeln jedoch einen robusten Konsens gebildet, der sie einem gemeinsamen intellektuellen Projekt zugehörig fühlen lässt. Die bei Rawls formulierten Leitbegriffe und Ziele der politischen Philosophie sind seit Generationen als selbstverständlich angesehen worden. Seine Ideen sollen uns helfen zu verstehen, was Gerechtigkeit und Gleichheit erfordern – von unserer Gesellschaft, unseren Institutionen, und letztlich von uns selbst.

Eng verbunden mit liberaler Demokratie der Nachkriegszeit

Wenn die moderne politische Philosophie jedoch mit dem modernen Liberalismus verbandelt ist, und der Liberalismus im Scheitern begriffen ist, könnte es tatsächlich an der Zeit sein zu hinterfragen, ob diese angeblich zeitlosen Ideen noch von Nutzen sind. Rawls‘ Ideen wurden während einer ganz bestimmten Epoche der amerikanischen Geschichte entwickelt, und seine Theorie ist mit der liberalen Demokratie die Nachkriegszeit eng verbunden.
Portrait des Soziologen und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz.
Populismus als Symptom eines politischen Paradigmenwechsels
Der Liberalismus steckt derzeit in der Krise. Der Soziologe Andreas Reckwitz interpretiert dies als Zeitenwende, in der sich ein neues politisches Paradigma herausbilden könnte.
Ist die liberale politische Philosophie womöglich mitschuldig am Scheitern liberaler Demokratie? Befindet sich die politische Philosophie, wie der Liberalismus selbst, in einer Krise und bedarf er der Neuerfindung? Und wenn ja, wie sieht ihre Zukunft aus?
John Rawls veröffentlichte "Eine Theorie der Gerechtigkeit" 1971. Aber an den zentralen Ideen seiner Theorie hatte er bereits seit über 20 Jahren gearbeitet. Die 600 Seiten starke Theorie ermöglichte es nun Philosophen, die Gesellschaft an zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit zu messen:
  • ein Grundsatz der Freiheit, der die Grundrechte und -freiheiten der Bürgerinnen bekräftigt, sowie
  • ein Grundsatz der Gleichheit, der fordert, dass Ungleichheiten begrenzt und Güter so verteilt werden, dass sie den am schlechtest gestellten Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen.
Rawls‘ Vision beschrieb eine auf ideale Weise gerechte Gesellschaft – eine "Demokratie mit Eigentumsbesitz", in der Ungleichheiten stark begrenzt und jeder involviert sein würde. Er begründete diese Behauptungen mit einer Reihe komplexer Argumente – am bekanntesten darunter die Idee eines "Urzustands", ein Gedankenexperiment in dem sich Parteien hinter einem "Schleier des Nichtwissens" auf Grundsätze der Gerechtigkeit festlegen müssen, nach denen die Gesellschaft organisiert, reguliert und beurteilt werden kann. Diese und weitere Konzepte veranschaulichen, dass Rawls eine ganz eigene Sprache erfand und damit das begriffliche Vokabular der politischen Philosophie auf beispiellose Weise transformierte.

Wiederbelebung der politischen Philosophie

Einer der Gründe für den lang anhaltenden Einfluss von Rawls‘ Ideen war, dass sie eine Leerstelle der philosophischen Vorstellungskraft zu füllen schienen. Aus der Sicht vieler Philosophen war die Disziplin der Politischen Philosophie mit dem Zweiten Weltkrieg gestorben. Der Krieg hatte es scheinbar unmöglich gemacht, über Gerechtigkeit oder Utopie nachzudenken; angesichts des vorherrschenden Anti-Totalitarismus wurde hinter jeder progressiven Reform ein Dammbruch in Richtung Autoritarismus vermutet.
Vor diesem Hintergrund wurde die Theorie der Gerechtigkeit 1971 als Wiederbelebung der politischen Philosophie aufgenommen. Sie gab dem Traum einer gerechten Gesellschaft, die Liberale in der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit verkörpert sahen, philosophische Gestalt. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie erfolgreich Rawls‘ Ideen wurden: Nur ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung listete eine Bibliographie 2512 Bücher oder Aufsätze, die sich mit ihnen auseinandersetzten. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die politische Philosophie im Laufe der 1970er Jahre nach Rawls’ Vorbild erneuert wurde.
Menschen bei der Demonstration Unteilbar in Berlin am 4. September 2021. Die Protest richtet sich gegen den Klimawandel, gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit.
Wie Rawls über Umverteilung, Sozialstaat und Weltordnungen dachte
Eine gerechte Umverteilung unterschiedlicher Berufsgruppen war eines der Hauptanliegen von John Rawls. Es sei ihm dabei nicht um einfaches Umschichten von Vermögen und Eigentum gegangen, sondern um Änderungen von Gesetzen und Grundstrukturen, sagte die Philosophieprofessorin Tamara Jugov im Dlf.

Verteilungsgerechtigkeit als Common Sense

Die Ideen von Rawls und seinen Schülerinnen liefen in einer als "liberaler Egalitarismus" bekannten Doktrin zusammen. Zunächst fragten seine Leser, ob diese Argumente überzeugten, wieviel Gleichheiten sie verlangten, und worauf sie praktisch hinausliefen – Liberalismus, Sozialismus oder etwas ganz Anderes. Im Laufe der Zeit wurde Rawls‘ Theorie der "Gerechtigkeit als Fairness" mit ihren Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit auf neue moralische und politische Situationen angewendet. Die Tendenz der liberalen Philosophie zu Abstraktion und Komplexität veranlasste Philosophen, nach immer herausfordernderen philosophischen Rätseln zu suchen, und in Rawls’ Theorie fanden sie jede Menge davon. Zum Beispiel:
  • … welche Arten der Ungleichheit zwischen den Menschen ungerecht waren (und welche zulässig);
  • … wie Institutionen, vor allem Gerichte, und demokratische Verfahren strukturiert sein sollen, damit Individuen und Kollektive gedeihen können;
  • … über das begriffliche Verhältnis von Ideen wie Gleichheit und Freiheit, Gerechtigkeit und Fairness, Moral und Verantwortung;
  • … sowie die klassische Frage der "Verteilungsgerechtigkeit": Wem steht was zu, nicht nur in Bezug auf Vermögen und Einkommen, sondern auch Selbstachtung, und wer schuldet wem was.
Ab Mitte der '70er Jahre wurden John Rawls‘ Ideen in neue politische Denkrichtungen erweitert. Manche Philosophen griffen Forderungen nach globaler Gerechtigkeit auf, die im globalen Süden aufkamen, um Rawls’ Theorie für ein neues Zeitalter internationaler Interdependenz, also wechselseitiger Abhängigkeit zu aktualisieren. Andere ließen sich von der durch die Ölpreiskrise ausgelösten Umweltbewegung in den 1970ern anregen, um Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen zu formulieren und entwickelten neue Theorien der Generationengerechtigkeit.
Auch wenn in folgenden Generationen Rawls‘ Methoden und Konzepte angefochten wurden, in den 1970ern waren sie der Inbegriff eines "common sense"; selbst diejenigen, die sie ablehnten, waren doch von ihnen geprägt.

Rawls als Schutzheiliger

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts agierte die englischsprachige politische Theorie im Schatten der Gerechtigkeitstheorie, und Rawls war eine Art Schutzheiliger geworden, der Visionär hinter einem Traum der Verteilungsgerechtigkeit.
Der von John Rawls entwickelte Apparat wurde nicht nur zu einer Doktrin, die angesichts jeglicher neuer Probleme zu Rate gezogen werden konnte, sondern zugleich zur philosophischen Architektur einer höchst flexiblen und anpassungsfähigen Ideologie – der Ideologie des modernen Liberalismus. In dieser Flexibilität bestand die philosophische Eleganz der Doktrin: Sie stellte einen allgemeinen theoretischen Rahmen zu Verfügung, um zahllose Einzelfragen zu beantworten. Auf diese Weise wurde der philosophische Liberalismus das Synonym für John Rawls, und die politische Philosophie wurde gleichbedeutend mit einer Art des Liberalismus.
Die Geschichte der anglo-amerikanischen liberalen politischen Philosophie ist aber nicht nur eine philosophische Erfolgsgeschichte. Sie ist auch eine ghost-story, eine Spukgeschichte, in der Rawls‘ Theorie in geisterhafter Präsenz weiterlebte, lang nachdem die Umstände, die sie beschrieb, passé waren.

Theorie verlor Bezug zur sich verändernden Realität

Rawls selbst sah seine Theorie der Gerechtigkeit als eine dynamische an, aber in der Praxis wurde sie von den Annahmen des Nachkriegsliberalismus heimgesucht und verlor den Bezug zur einer sich verändernden Realität.
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Der liberale Egalitarismus wurde in einer Gesellschaft formuliert, die ganz anders war als unsere im 21. Jahrhundert: Eine Gesellschaft mit dauerhaftem Wachstum, geringerer ökonomischer Ungleichheit, mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad sowie geringerer Ungleichheit zwischen Ethnien und Geschlechtern. In der Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieß der Sozialstaat auf breite Akzeptanz, wenngleich er ausgrenzend, bruchstückhaft und instabil war. Es war dies auch eine Gesellschaft die von Krieg und Imperialismus geformt, vom Kalten Krieg strukturiert und dem Bretton Woods System aufrechterhalten wurde. Der Nachkriegsliberalismus in dem Rawls‘ Theorie entstanden war, war nicht ganz die rosige Zeit der Sozialdemokratie, als die sie sich einige heute ausmalen.
Und in der Tat war Rawls‘ Idee von der "Demokratie mit Eigentumsbesitz" nie einfach eine Verteidigung des Wohlfahrtsstaats. Seine unveröffentlichten Aufsätze offenbaren, dass Rawls als junger Mann, der in den 1940er- und 1950er-Jahren schrieb, eine viel minimalistischere Spielart des Liberalismus verteidigte als die, für die er heute tatsächlich erinnert wird. Er befürchtete Machtkonzentrationen, insbesondere im Staat, sorgte sich um Zwang durch Unternehmen, aber auch Gewerkschaften. Und er sehnte sich nach sozialer Stabilität. Zu Beginn seines Wirkens war er einigen frühen Neoliberalen näher als Sozialdemokraten, bewegte sich aber allmählich politisch nach links.

Ideologie des liberalen Konsens‘

Die Nachkriegsjahre waren von einer Ideologie des liberalen Konsens’ geprägt: Die unter weißen wohlhabenden Liberalen weitverbreitete Annahme war, dass die US‑Amerikanische Gesellschaft im Kern auf einem Konsens beruhte oder ein solcher zumindest erreichbar war. Rawls war da keine Ausnahme. Seine Philosophie reflektierte viele der Widersprüche des Nachkriegsliberalismus und seiner Nachwehen.
Die 1960er-Jahre, in denen Rawls in den USA seine Theorie vollendete, waren von Wohlstand, Bürgerrechten und der "Great Society" geprägt, einem Programm sozialpolitischer Reformen der US-Regierung unter Präsident Lyndon B. Johnson. Gleichzeitig aber war es auch eine Zeit der urbanen Krise, der Masseninhaftierungen sowie der Anfang einer neuen Phase von Deindustrialisierung, einer Schrumpfung des industriellen Sektors, und der Finanzkapitalisierung, in der öffentliche Investitionen gekürzt und die Arbeiterbewegung geschwächt wurden.
Philosophinnen, die im Rawlsianischen Paradigma arbeiteten, nahmen die Erfolge als gegeben an, konnten deren Kosten aber nicht vorhersehen.
Beim Entwurf seiner Theorie war Rawls davon ausgegangen, dass sich die Dinge zum Besseren entwickeln: Auf die Bürgerrechtsbewegung würde ein ethnisch differenzierter Liberalismus folgen, die Exzesse des Kapitalismus würden eingehegt und die Ungleichheit begrenzt werden können. Als Rawls seine Ideen 1971 veröffentlichte, reflektierten diese den Optimismus vergangener Tage. Diese Unzeit war jedoch Teil von Rawls‘ Erfolg: als die sozialen Bewegungen der '60er Jahre den liberalen Nachkriegskonsens zunichtemachten, überstand Rawls‘ Theorie – die ja noch nicht veröffentlicht war - alle Turbulenzen unbeschadet. Als sie schließlich veröffentlicht und bekannt wurde, bot sie eine Grundlage für einen neuen Konsens, just in dem Moment, da sich andere liberale Theorien in einer Krise befanden.

Minimaler Liberalismus – von Haus aus flexibel

Die politische Theorie, die sich aus Rawls‘ Interpretation des Nachkriegsliberalismus ergab, war flexibel: von Haus aus ein minimaler Liberalismus, konnte sie zu einer Rechtfertigung eines liberalen Sozialismus ausgeweitet werden. Ihre Konzentration auf Verteilungsgerechtigkeit verdrängte alternative Arten, über die Dynamik und die Organisation des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens nachzudenken.
In dem Maße, in dem sich seine Theorie verbreitete, wurden Ideen, die damit inkompatibel waren, aussortiert oder fielen ganz aus dem Diskurs philosophischen Mainstreams heraus.
Folgende Generationen bauten auf die Argumente ihrer Vorgänger auf, und so erhielt ein philosophisches Paradigma eine politische Gestalt, die keine seiner Verfechterinnen wohl so intendiert haben dürfte. Dessen Logik und politische Ausrichtung trugen maßgeblich dazu bei, zu bestimmen, welche Arten von ethischen und politischen Problemen als ausreichend interessant galten, um überhaupt philosophische Zuwendung zu verdienen.

Forderungen nach Reparationen für Sklaverei abgelehnt

So bestanden liberale Egalitaristen etwa in der Regel auf institutionellen Lösungen für bestehende Ungleichheiten; vergangenes Unrecht war nicht relevant und Argumente, die auf historischen Ansprüchen beruhten, wurde abgelehnt. Dies bedeutete auch, dass Forderungen nach Reparationen für die Sklaverei und anderes historisches Unrecht, wie sie von "Black Power" sowie Antikolonialen Bewegungen in den späten 1960er und 1970er Jahren erhoben wurde, abgelehnt wurden. Es bedeutete ebenso, dass spätere Einwände gegen die universalistische Vorannahme des amerikanischen Liberalismus aus der Sicht von politischen Philosophen im Rawlsianischen Fahrwasser lediglich eine identitätspolitische Ablehnung von Gleichheit darstellten, anstatt eine von der Geschichte des Imperialismus und der Dekolonisierung informierte Kritik.
Das Gleiche galt für demokratietheoretische Ideen, die kompatibel mit Theorien der Diskussion und Deliberation gemacht werden mussten. Wie der britische Philosoph Brian Barry in den Anfängen der Debatten um die Theorie Globaler Gerechtigkeit ausführte, um in den Kanon der Gerechtigkeitstheorie zu passen, mussten die Forderungen der Verfechterinnen einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, die die Beziehungen zwischen dem globalen Norden und Süden grundlegend verändern wollten, "domestiziert" werden.
Demonstranten in Austin, Texas protestieren am 08. Juli 2021 gegen Diskriminerung und Benachteilung
50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit - Die Zukunft der Politischen Philosophie
Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, eng verbunden mit der liberalen Demokratie der Nachkriegszeit, war lange Jahre gültig. Sie gab dem Traum einer gerechten Gesellschaft philosophische Gestalt. Lässt sich – und wenn ja, wie – Rawls‘ einflussreiche Theorie aktualisieren?

Kaum ein Thema: Legitimitätskrisen und post-industrielle Gesellschaft

Gerade die Geräumigkeit der Liberalen Philosophie würgte jede Gelegenheit zu radikaler Kritik ab. In diesem Moment der konzeptuellen Verfestigung zogen die politischen Krisen der 1970er-Jahre weitgehend an der angelsächsischen liberalen Philosophie vorbei. Wenige Philosophinnen schrieben über die Legitimitätskrisen und die Herausforderungen der post‑industriellen Gesellschaft.
Viele Sozialtheoretiker befassten sich mit dem Zusammenbruch der "großen Erzählungen" von Marxismus und Liberalismus – etwa indem sie das Sujet der Arbeiterklasse überdachten, und Analysen der Arbeitswelt über die Fabrik hinaus in die Schulen, Gefängnisse, Kliniken und Schlafzimmer verlagerten.
Anhänger von Rawls interessierten sich hingegen nicht besonders für diese Zusammenbrüche oder die sozialen Veränderungen, die rivalisierende Theorien zu erklären versuchten – Veränderungen in Bezug auf Klasse, Kapital, Arbeit, den Staat, oder das Individuum. Zum Teil war es genau diese Weigerung, sich neuen Herausforderungen zu stellen, die den liberalen Egalitarismus angesichts des Niedergangs der Nachkriegsordnung überleben ließen.

Die Erfolgsgeschichte einer elitären Gruppe

Der Aufstieg des Rawlsianismus bleibt damit eine Geschichte des Erfolgs – des Erfolgs einer kleinen Gruppe wohlhabender, weißer, überwiegend männlicher, analytischer politischer Philosophen, die an handverlesenen Eliteinstitutionen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien arbeiteten, insbesondere in Harvard, Princeton und Oxford. Die universalisierende liberale Theorie, die sie entworfen hatten, verselbständigte sich zunehmend. Sie gingen von ihrem eigenen Standpunkt aus und konzentrierten sich fast vollständig auf nordamerikanische und westeuropäische Sozialstaaten, von ihrer Vorstellung des Globalen abgesehen. Ihre politische Philosophie sollte jedoch eine größere Reichweite haben; sie versuchten, ihre Theorien räumlich zu expandieren, um größere Gemeinschaften, Nationen, den internationalen Kontext, und letztlich den Planeten mit einzuschließen.
Seit einigen Jahren testet nun eine neue Generation die Grenzen des Rawlsianischen Paradigmas aus. Der gerät damit unter Druck. Denn dessen maßgebliche Annahmen und das Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses wirken heute, angesichts einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaften, immer realitätsfremder. Ihre Zweifel haben viele Philosophen zu Einsichten gebracht, welche die ersten Generationen der Rawlsianer ignorierten.
Selbsternannte politische Realisten haben versucht, das Politische zurück in die politische Philosophie zu bringen, indem sie dem tatsächlichen Wesen politischen Konflikts zentrale Bedeutung für die Demokratie einräumten.

Von der Politik losgelöste Theorie des idealen Sprechens

Zu einer von Politik losgelösten Form idealen Sprechens gewordenDiese kritischen Ansätze haben die Grenzen früherer Phasen des liberalen Egalitarismus erhellt. Es überrascht wohl kaum, dass eine politische Philosophie, die von Anfang an der Ideologie, den Interessen und der Zwangsgewalt von Staaten, Unternehmen und Gewerkschaften abgeneigt war, zu einer von der Politik völlig losgelösten Theorie des idealen Sprechens geworden ist.
Erst heute wird dies jedoch als Defizit wahrgenommen. Probleme, die einst vom geschichtslosen Wesen der Gerechtigkeitstheorie verdeckt wurden, werden nun ebenfalls hinterfragt, da vom Vermächtnis des Kolonialismus aufgeworfene ethische Fragen aufs Neue gestellt werden. Die Ideologieforschung lebt ebenso wieder auf wie die Ethik der Unterdrückten, wobei Einsichten aus der Critical Race Theory, dem Feminismus und des Marxismus einbezogen werden.
Politische Philosophinnen adaptieren und erweitern also ständig den egalitaristischen Rahmen in neue Richtungen. Aber ist das genug? Es ist nicht gesagt, dass Rawls’ Ideen uns helfen können, den Anforderungen unseres historischen Moments gerecht zu werden. Wie weite Teile der Geisteswissenschaften – und teilweise bedingt durch die Beschränkungen eines professionalisierten und zunehmend prekarisierten Wissenschaftssystems – ist die politische Philosophie weiterhin darauf ausgerichtet, spezifische Probleme zu lösen statt neue, systematische Theorien zu entwickeln.

Radikale Denker: Eher vom Marxismus als vom Liberalismus inspiriert

Auch wenn sich die substantiellen Anliegen der politischen Philosophie langsam zu verabschieden beginnen und neue Themen die philosophische Bühne betreten, spielt sich die Debatte weiterhin im Schatten einer Reihe von Ideen ab, welche die Annahmen eines vergangenen Zeitalters widerspiegeln. In dieser intellektuellen Tradition zu arbeiten hat Vorteile, aber es hat Nachteile, wenn diese Tradition Schwierigkeiten damit hat, mit sich verändernden Umständen umzugehen. Letzten Endes lassen sich radikale Denker in den Vereinigten Staaten heute mehr vom Marxismus als vom Liberalismus inspirieren.
Dies liegt auch am uneindeutigen politischen Erbe der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. In der Entwicklung seiner Theorie war es Rawls darum gegangen, eine Grundlage auszuarbeiten, um die schrittweise Reform in Gesellschaften, die sich allmählich in Richtung Gerechtigkeit bewegten, beurteilen zu können.
Von unserem historischen Standpunkt aus, nach der Finanzkrise, mag der liberale Egalitarismus nun als die perfekte Art des Linksliberalismus für das vom Ende des Kalten Krieges herbeigeführten "Ende der Geschichte" erscheinen.

Rückblick auf einen Moment des Sozialstaats

Gleichzeitig kann Rawls’ Theorie jedoch als willkommener Rückblick auf einen Moment des Sozialstaats in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gesehen werden.
Im heutigen Klima muten die distributiven Arrangements, die der liberale Egalitarismus verlangt – von universeller Krankenversicherung zu kostenloser Bildung und einer breiten Streuung des Kapitals – radikal an.
Was bleibt, ist die Frage, ob die egalitaristische Tradition in der Lage ist, mit den Krisen unserer Zukunft umzugehen. Viele Aspekte der Rawlsianischen Vision legen nahe, dass sie dieser Herausforderung nicht gewachsen ist. Einige der dringendsten Anliegen befinden sich just in deren blinden Fleck.
In den Jahren seit dem Aufkommen des liberalen Egalitarismus wurde der Staat ausgebaut, aber auch privatisiert. Kapitalismus und Arbeit haben sich dem Wesen nach transformiert und werden das weiterhin tun, vermutlich auf dramatische und unerwartete Weise. Die Gruppe der am schlechtest Gestellten hat sich neu konstituiert, und sowohl ihre Zusammensetzung als auch ihre Rolle als ein Akteur des Wandels statt einer Empfängerin von Gütern muss aufs Neue hinterfragt werden.
Die Politik wandelt sich, in einer Zeit, in der sich autoritäre, radikale Bewegungen und neue Oligarchen in einer neuen internationalen Landschaft auseinandersetzen, die von nicht rechenschaftspflichtigen Finanzinstitutionen, neuen Medienplattformen und Technologien sowie dem Klimawandel geformt wird.
Dieser Essay erschien im Original im Boston Review und entspricht einem Kapitel aus "In The Shadow of Justice", erschienen 2019 bei Princeton University Press.