"Bei Schlichter in dem kleinen Hinterzimmer saß einer. Es war Bert Brecht ... Und im Rausgehen sagte er zu mir: ‚Dann hab‘ ich noch eine Bearbeitung ... Es ist die "Beggar‘s Opera" von John Gay, 1729 aufgeführt, und seitdem in England immer auf dem Spielplan‘... am nächsten Tage – wir setzten uns hin und lasen – und waren fasziniert. Das war echtes Theater."
So schildert Ernst Josef Aufricht den entscheidenden Moment seiner Laufbahn als Theaterdirektor. Noch hieß dieses Stück, mit dem er sein neues Theater am Schiffbauerdamm eröffnen konnte, "Gesindel". Schon bald nach der Welturaufführung am 31. August 1928, Aufrichts 30. Geburtstag, erwies sich Brechts "Dreigroschenoper" dann als der größte Theatererfolg der Weimarer Republik. Allein bis zum Ende der Saison 1928/29 verzeichnete man 4.000 Aufführungen in 200 Inszenierungen. Der Schriftsteller Elias Canetti fasste die Stimmung zusammen:
"Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst, und sie gefielen sich. Erst kam ihr Fressen, dann kam ihre Moral."
Ein Welterfolg
1933 wurde die "Dreigroschenoper" von den Nationalsozialisten verboten. Bis dahin war das Stück in 18 Sprachen übersetzt und mehr als 10.000-mal an europäischen Bühnen aufgeführt worden.
In seinem späteren Lebensbericht beschrieb Aufricht nicht nur diesen furiosen Anfang seines Weges als Theaterleiter, sondern auch den Niedergang seiner Bühne, in deren Gründung er sein ganzes Vermögen investiert hatte. Doch unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, dem Börsenkrach und dem anwachsenden Druck der nationalsozialistischen Kräfte, wandelte sich der Geschmack der Massen. "Zwischen 1931 und 1932 begann in Berlin das Sterben der Theater."
Mit der Uraufführung von Ödön von Horvaths "Italienischer Nacht" endete Aufrichts Arbeit im Theater am Schiffbauerdamm. Und sein Umfeld drängte ihn, Deutschland zu verlassen. "Es wäre höchste Zeit. Ich wusste es und wollte es nicht wissen."
20 Jahre Odyssee
Schließlich wurde der Reichstagsbrand zum Fanal seiner Arbeit, seines Lebens: "Ich fuhr nach Haus und sagte zu meiner Frau: ‚Es ist aus mit dem Theater.‘ Ich war 34 Jahre alt und hatte den letzten normalen Tag meines Lebens verbracht."
Es begann eine zwanzigjährige Odyssee – zunächst in Frankreich, dann in den USA. Für den Theatermann ein Albtraum: der des Sprachverlusts. "Zweimal in den Jahren habe ich meine Sprache verloren. Das erste Mal musste ich Französisch, das zweite Mal Englisch neu zu denken, zu sprechen und zu schreiben lernen."
"Als ich zurückkam, kam ich nicht nach Haus'"
Der Versuch, im unbekannten Terrain des Exils die Arbeit dennoch fortzusetzen, erweist sich als schwierig: "Für mich und andere war die zweite Emigration zu viel. Mein Beruf hängt von der Kenntnis des geschriebenen und gesprochenen Wortes ab."
Trotz aller Widrigkeiten versucht er mit Insistenz Nischen zu finden – immer mit Blick auf Deutschland. "Das Unglück, das mir widerfuhr, war nicht mehr gutzumachen. Eine Gemeinschaft hatte mich ausgestoßen. Ich ging durch fremde Länder. Als ich zurückkam, kam ich nicht nach Haus'."
Diese Rückkehr hat sich tatsächlich als Tiefschlag erwiesen – als Theaterleiter gab es auch in Deutschland keine Zukunft für ihn. Der Schauspieler, Regisseur und Theaterintendant Gerd Heinz erinnert sich an viele Besuche und Gespräche mit Ernst Josef Aufricht in Berlin in den Jahren vor seinem Tode am 24. Juli 1971:
"Da habe ich gemerkt, was wir durch diesen fürchterlichen Judenmord alles vernichtet und verloren haben. Nämlich Menschen, die mutig sind, Menschen, die eine große Ahnung von Qualität haben, sowohl was Literatur und was auch Künstler, Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler angeht. Und die auf der anderen Seite aber auch ein sehr gutes und enormes Geschäftsgefühl haben. Und diese wunderbare Mischung, die war halt, denke ich, eine einmalige Angelegenheit. Und insofern war es besonders bitter, dass man ihm in den 50er-Jahren nicht eine zweite Chance wieder gegeben hat."