"Wer erkannt hat, dass die Idee der Liebe der geistige Lichtstrahl ist, der aus der Unendlichkeit zu uns gelangt, der hört auf, von der Religion zu verlangen, dass sie ihm ein vollständiges Wissen biete. So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie im Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass jedem von uns die Gabe verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen."
Der 30jahrige Pfarrer Albert Schweitzer hat 1905 in Straßburg eine glänzende Karriere als Orgelinterpret und evangelischer Theologieprofessor vor sich. Als er beschließt, all dies aufzugeben, um Medizin zu studieren und in Afrika den Ärmsten zu helfen, sind viele Freunde und Bekannte fassungslos. Nur bei seiner zukünftigen Ehefrau, der Berliner Lehrerin und Krankenschwester, Helene Breslau, findet er Verständnis, als er ihr schreibt:
"Ich will mich aus diesem bürgerlichen Leben befreien, das alles in mir töten würde. Ich will etwas tun – nicht eine Professur, ein bequemes Leben."
Denken ist keineswegs ein Feind des Glaubens
Schweitzer zählt in jener Zeit zu den liberalen Theologen, die von der praktischen Zuwendung Jesu zu den Leidenden weitaus mehr fasziniert sind als von theologischen Lehrsätzen. Er begeistert seine Studenten mit Ideen, die konservative Kirchenvertreter schockieren:
"Bei der übernatürlichen Geburt Jesu handelt es sich nicht um eine sicher bezeugte Nachricht, um etwas was Jesus und die Apostel zu glauben befohlen haben, sondern um eine Ansicht, welche in der ältesten Christenheit verbreitet war. Wir wissen sie zu achten und zu schätzen, stehen ihr aber frei und ungebunden gegenüber. Jeder soll's damit halten wie es ihm sein Gewissen gebietet."
Für Schweitzer ist das Denken keineswegs ein Feind des Glaubens. Jeder Art der Denkfeindlichkeit im Christentum hält er entgegen:
"Der denkende Mensch steht der überlieferten religiösen Wahrheit freier gegenüber als der nicht denkende; und das Tiefe und Unvergängliche, das in der Überlieferung enthalten ist, erfasst er lebendiger als dieser."
Albert Schweitzer geht es nicht um einen dogmatischen Christus-Glauben oder heilsgeschichtliche-theologische Konstruktionen, sondern um eine existentielle und emotionale Begegnung mit Jesus. Dabei muss man allerdings beachten, dass Jesus in einer völlig anderen Vorstellungswelt lebte und dachte als die Menschen heute. Deshalb kann es nicht darum gehen, dass man heute seine mythischen und vorwissenschaftlichen Vorstellungen von damals einfach übernimmt.
"Jesus redet nicht von der Religion, vom Glauben, von der Seele oder sonst etwas, sondern einzig von Menschen."
Albert Schweitzer hat sein ganzes Leben lang unbeirrt daran festgehalten, dass Christsein und Menschsein gleichgesetzt werden können, weil Jesus dies als tiefsten Sinn des menschlichen Lebens erkannt hat.
Nicht bekehren, sondern von Leiden befreien
Der philosophische und theologische Umgang Schweitzers mit der christlichen Tradition stößt in kirchlichen Kreisen nicht selten auf Misstrauen und Ablehnung. Als er sich als approbierter Arzt um eine Stelle als Missionsarzt in Afrika bewirbt, bezweifelt man seine Eignung. Denn der junge Mediziner und Theologe macht deutlich, dass er die Afrikaner nicht bekehren, sondern sie in erster Linie von ihren Leiden befreien möchte. Später wird Albert Schweitzer sogar noch weiter gehen und mit dem rücksichtslosen kolonialen Gebaren mancher Kirchenvertreter abrechnen:
"Den Kampf gegen die Krankheiten, von denen die hilfsbedürftigen Völker bedrängt sind, hat man fast überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, was wir Weißen über sie gebracht haben, seit dem Tag, da unsere Schiffe den Weg zu ihnen fanden."
Trotz des angespannten Verhältnisses zu manchen Vertretern in den protestantischen Kirchen, beschließt Schweitzer zunächst offiziell mit den Missionsgesellschaften in Afrika zusammen zu arbeiten.
1913 ist er dann mit seiner Frau Helene erstmals in Französisch Äquatorial-Afrika, die heutige Republik Gabun, eingetroffen. Mitten im Urwald beginnen sie nahe der Ortschaft Lambarene am Fluss Ogowe ein Hospital aufzubauen.
Denken, wenn es sich zu Ende denkt, endet in Mystik
Angesichts der üppigen tropischen Natur entwickelt Schweitzer nun auch ein völlig neues Gefühl für die schicksalhafte Verbindung der Menschheit mit der gesamten Schöpfung.
"Langsam krochen wir den Strom hinauf. Ich saß auf dem Deck des Schleppkahns. Als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort 'Ehrfurcht vor dem Leben' vor mir. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind. Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet sind."
Lange bevor die Ökologie zu einem Schlagwort wird, spürt Albert Schweitzer, dass der Mensch ohne die Natur, in die er eingebunden ist, keine Zukunft hat.
Für den Chirurgen und späteren Nachfolger Schweitzers in Lambarene, Walter Munz, und für die anderen Mitarbeiter sind die Ideale des "Grand Docteur" – wie man Schweitzer in Gabun nennt – bis heute wegweisend:
"Ich glaube, dass der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben die ganz zentrale Botschaft von Albert Schweitzer an die Menschen ist. Als Theologe hat er meditiert über Gott, als Philosoph hat er meditiert über das, was er selbst 'den unendlichen Willen zum Leben' nannte. Ich glaube, er hat im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben gelebt und so hat er auch in der Nachfolge Jesu gelebt."
"Von meiner Jugend an war es mir gewiss, dass alles Denken, wenn es sich zu Ende denkt, in Mystik ende. In der Stille des Urwaldes Afrikas ward ich fähig, diesen Gedanken durchzuführen und auszusprechen."
Mystik ist für Schweitzer keine visionäre Entrückung aus der Welt, sondern tätige Mystik.
"Denn in der Welt- und Lebensbejahung und in der Ethik erfülle ich den Willen des universellen Willens zum Leben, der sich in mir offenbart. Das Ethische aber kommt immer nur im Einzelnen zustande."
Kulturphilosophische Überlegungen
Und gerade hier ist nach seiner Meinung ein Umdenken in der modernen westlichen Kultur dringend erforderlich.
"Politische, religiöse und wirtschaftliche Gemeinschaften sind heute bestrebt, sich so zu gestalten, dass sie die größtmögliche innere Geschlossenheit erlangen. Ihr inneres Leben verliert an Reichtum und Vielfältigkeit, weil die Persönlichkeiten in ihnen notwendig verkümmern. Unser ganzes Leben läuft nur noch innerhalb von Organisationen. Von Jugend auf wird der moderne Mensch so mit dem Gedanken der Disziplin erfüllt, dass er sein Eigendasein verliert und nur noch im Geiste einer Kollektivität zu denken vermag.
In ganz einzigartiger Weise geht der moderne Mensch in der Gesamtheit auf. Die Gesamtheit verfügt über ihn, von ihr bezieht er als fertige Ware die Meinungen, von denen er lebt."
Schweitzer ist überzeugt, dass die Demoralisierung des Einzelnen durch die Institutionen in vollem Gange ist. Dass Schweizer neben seiner Theologie und seinem Engagement in Lambarene mit seiner kulturphilosophischen Überlegungen auch das Terrain der Philosophie betritt, war durchaus nichts Neues. Schon sein Studium in Straßburg hatte er mit Philosophie und Theologie begonnen. Und seine erste Veröffentlichung war eine Arbeit über Immanuel Kant gewesen. Und auch in seinem ethischen Denken der Welt- und Lebensbejahung blieb er immer auch der Philosophie verbunden.
"Wenn meine Philosophie der Ehrfurcht vor dem Leben als eine Synthese von Schopenhauer und Nietzsche bezeichnet worden ist, habe ich gegen diese Charakterisierung nichts einzuwenden. Beide waren tiefe ethische Denker, indem sie die Ethik im Gegensatz zu den braven Nützlichkeitsethikern, als ein aus innerer Notwendigkeit kommendes und auf die Vollendung der Persönlichkeit gehendes Verhalten erfassten."
Der unbequeme Denker Albert Schweitzer genießt im Laufe der Jahre internationales Ansehen. Er reist mit seiner Frau rund um die Welt, um Vorträge zu halten. 1952 verleiht man ihm dann den Friedensnobelpreis, den er erst 1954 in Oslo entgegennehmen kann.