Andreas Main: Der Bedeutungsverlust der akademischen Theologie, er lässt sich womöglich auch daran festmachen, dass es wohl unvorstellbar ist, dass heute einem evangelischen Theologen gelingen könnte, was Karl Barth einst gelungen ist. Er hat es auf den Titel des amerikanischen "Time Magazine" geschafft, und zwar in der Karfreitags-Ausgabe 1962. Und drei Jahre vorher zierte er den Titel des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel": Barth, mit Pfeife im Mund, er blickt über den Rand seiner dicken Brille, er wirkt ganz und gar wie diese aussterbende Gattung des Bildungsbürgers.
Über diesen Jahrhundert-Theologen, der heute vor 50 Jahren gestorben ist, hat die Theologin Christiane Tietz jetzt eine Biografie vorgelegt mit dem Titel: "Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch". Es ist die erste umfassende Barth-Biografie seit Jahrzehnten. Christiane Tietz ist Professorin für systematische Theologie an der Universität Zürich. Geboren in Deutschland, hat sie international geforscht und gelehrt, vor allem in den USA und in Jerusalem. Mit ihr bin ich verbunden in Zürich – Christiane Tietz, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, guten Morgen!
Christiane Tietz: Guten Morgen, Herr Main.
Main: Frau Tietz, den Titel und Untertitel Ihres Buches, den lese ich doppeldeutig. "Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch", wie sollte ich ihn lesen, diesen Untertitel?
Tietz: Auf der einen Seite wollte ich damit zum Ausdruck bringen, dass Barth selber immer wieder der Kirche seiner Zeit, der Politik seiner Zeit widersprochen hat – und dass ihm gleichzeitig auch heftig von anderen widersprochen worden ist. Also es ist quasi der äußere Ablauf seines Lebens, der damit angesprochen ist. Und auf der anderen Seite geht es auch um innere Stimmungslagen Barths, um die Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit, die ich versucht habe, in meinem Buch nachzuzeichnen. Dazu gehört auch die besondere familiäre Konstellation, in der Barth gelebt hat.
Main: Also er ist auch in sich widersprüchlich, das meinen Sie schon? Es ist nicht bösartig, wenn ich das da reinlese?
Tietz: Vielleicht besser "spannungsreich". Spannungen, die er nicht vermitteln kann und mit denen er es sozusagen aushalten muss.
"Das finde ich anstößig"
Main: Menschen und Porträts sind ja oft dann spannend, wenn es auch Ecken und Kanten, Widersprüchliches gibt. Deswegen an Sie, die Sie ihm theologisch und inhaltlich nahestehen, so verstehe ich jedenfalls Ihr Werk: Was ist für Sie das Widersprüchliche an Barth schlechthin? Oder, platter gefragt, was mögen Sie nicht an ihm?
Tietz: Ehrlich gesagt fällt mir das schwer. Es gab immer wieder Punkte, wo ich den Eindruck hatte, er ist sehr forsch und weiß sehr genau, was richtig ist. Das finde ich anstößig. Gleichzeitig konnte ich bei der Beschäftigung mit ihm nachvollziehen, wieso er gemeint hat, die Dinge so scharf kompromisslos formulieren zu müssen. Sofern würde ich sagen, es gibt eigentlich nichts, was ich wirklich nicht an ihm mag.
Main: Positiv gedreht, woran wird man sich auch noch am 10. Dezember 2068, also an seinem 100. Todestag erinnern?
Tietz: An den Mut, mit dem er im "Dritten Reich" aufgestanden ist und sich gegen die nationalsozialistische Ideologie gewehrt hat.
Main: Christiane Tietz, nach der Ouvertüre lassen Sie uns jetzt mal ans Eingemachte gehen: Es ist ziemlich genau 100 Jahre her, da macht dieser Schweizer, geboren am 10. Mai 1886 in Basel, seinen theologischen Aufschlag. Es ist ein knallharter Aufschlag, gerichtet gegen die Liberale Theologie, die seit Schleiermacher, und dann vor allem zur Jahrhundertwende, vor dem Ersten Weltkrieg dominierend war. Ist das einfach nur Vater- oder Königsmord? Oder was motiviert Barth zu seinen Attacken auf Schleiermacher und von Harnack und Troeltsch und wie sie alle heißen?
Tietz: Es war, kurz gesagt, die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg, die Barth dazu motiviert hat. Man kann sich das damals gar nicht drastisch genug vorstellen, was es bedeutet hat, 1914 zu merken, wie die Welt, von der man dachte, dass sie sich positiv weiterentwickelt, plötzlich anfängt, sich gegeneinander zu richten. Und Barth war erschüttert, dass viele seiner deutschen Lehrer die Kriegspolitik Deutschlands zu Beginn des Krieges nachhaltig unterstützt haben. Und er hatte den Eindruck, eine Theologie, die dem zugrunde liegt, die kann eigentlich kaum richtig sein.
Main: Also ist es ein politisches Argument. Aber zugleich auch ein theologisches?
Tietz: Es ist ein theologisches, weil er den Eindruck hatte, wenn die Theologie zu solchen politischen Äußerungen führt, dann kann irgendwas an der Theologie nicht stimmen.
"Gott ist der ganz Andere"
Main: "Gott ist der ganz Andere" – das ist dann ein zentrales Motiv bei ihm. Einem "ganz Anderen" können wir uns nicht nähern aus eigener Kraft und mit Empfindsamkeit und mit der Offenheit für religiöse Erfahrungen, was ja eher die liberale Theologie behauptet. Barth sagt dann auch immer wieder, Christentum sei mehr als Religion. Was hat er gegen Religion?
Tietz: Also zuerst muss man sagen, Barth meint: Auch das Christentum ist eine Religion, und deshalb ist das Christentum wie alle Religionen zu kritisieren. Barth hatte den Eindruck, alle Kulturleistungen sind durch diese Katastrophe des Ersten Weltkrieges problematisiert. Also alles, was Menschen zustande bringen, einschließlich der Religion, muss sozusagen von Gott her verurteilt werden. Und eine positive Perspektive gibt es nur von Gott her, auf keinen Fall vom Menschen her.
Main: Also er dividiert dann Gott und den Menschen auseinander?
Tietz: Genau. Er sagt: Zwischen Gott und Mensch besteht ein unendlicher qualitativer Unterschied. Es gibt keine Brücke von der Seite des Menschen aus zu Gott.
Main: "Gott ist der ganz Andere" - ist das auch dann mit dem Begriff "Dialektische Theologie" gemeint? Oder: Erklären Sie uns den bitte!
Tietz: Das ist sozusagen die Voraussetzung für den Begriff der Dialektischen Theologie. Weil Gott der "ganz Andere" ist, kann keine menschliche Sprache, kein menschliches Denken Gott wirklich erfassen. Das führt bei Barth dazu, dass er in seinen Texten – in dieser sogenannten "dialektischen Phase" - immer wieder Sätze gegeneinander stellt. Ich nehme ein Beispiel. Er sagt in einem ganz berühmten Text - "Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie": Wir sind Theologen und müssen deshalb von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können deshalb nicht von Gott reden. Also das ist quasi die Grundspannung, in der er seine theologische Existenz vollzieht, und er fügt dann hinzu: Wir müssen beides, unser Müssen und unser Nicht-Können wissen, und Gott darin die Ehre geben. Also er versucht diese Spannung auch nicht aufzulösen, sondern das Ganze in dieser Spannung zu halten.
Und das führt dann in dem Römerbrief-Kommentar, also dem berühmten Text von 1919, den Sie angesprochen haben, dazu, dass er sagt: Gott ist die Liebe. Und wir müssen aber gleichzeitig mitsagen: Gott ist der Zorn. Und der Mensch ist ein Geschöpf Gottes, aber wir müssen gleichzeitig mitsagen "Der Mensch ist der Sünder". Und wir müssen schon wieder mitsagen, dass Gott diesem Sünder vergibt. Also es ist ein Denken, wenn man diese Texte liest, das einen ganz unruhig macht, weil er eben in diesen Sätzen und Gegensätzen alles so in der Schwebe hält, dass man merkt, kein menschlicher Gedanke kann Gott eigentlich erfassen.
"Man muss Gott und Welt wirklich scharf unterscheiden"
Main: Jetzt helfen Sie mir noch mal auf die Sprünge: Wenn ich davon ausgehe, dass Gott der ganz Andere ist, wieso bin ich dann gefeit, einer Kriegsbegeisterung wie vor dem Ersten Weltkrieg anheimzufallen?
Tietz: Das hängt damit zusammen, dass es Theologen gab, die gesagt haben: In dem, was wir gerade erleben, in der Mobilisierung in Deutschland, da ist doch eigentlich Gott selber am Werk, da müsste doch Gott seine Freude dran haben, da singen doch die Engel im Himmel, wenn sie sehen, wie die Deutschen jetzt zu den Waffen greifen. Und da sagt Barth: Nein, das hat mit Gott gar nichts zu tun, man muss Gott und Welt wirklich scharf unterscheiden. Und das gelingt eben genau mit diesem Gedanken "Gott ist der ganz Andere".
Main: Karl Barth versteht sich, beginnend in den 1920er-Jahren, als religiöser Sozialist. Dann engagiert er sich auch parteipolitisch, und zwar als Sozialdemokrat. Er entwickelt seine Reich-Gottes-Theologie. Ist darin angelegt, was heute als "Politisierung der evangelischen Kirche" begrüßt oder verurteilt wird, je nach Sichtweise?
Tietz: Ganz sicher ist darin angelegt, dass Barth zur Geltung gebracht hat: Theologie kann nicht unpolitisch sein. Also er hat immer wieder versucht, herauszufinden, inwiefern eigentlich in der Botschaft von Jesus Christus etwas genuin Politisches steht. Es gibt einen schönen Satz von ihm, als er Pfarrer in Safenwil war und dort Anteil nimmt an den Geschehnissen in seiner Arbeitergemeinde. Viele haben in der Fabrik dort gearbeitet, unter schlechten Bedingungen. Dass er dann an einen Freund schreibt: Ich kann doch nicht einfach aus dem Pfarrhaus gucken und dem zusehen. Ich muss doch mich fragen, was die christliche Botschaft mit diesen Lebensumständen der Menschen zu tun hat! Und insofern fragt er sich immer wieder: Welche politischen Konsequenzen hat das?
Wichtig ist hier die Denkrichtung, also dass Barth nicht sagt: Ich beginne mit der Politik und frage mich jetzt, wie passt die Theologie dazu? Sondern auch hier umgekehrt: Also von theologischen Grundüberzeugungen, zum Beispiel man soll nur dem ersten Gebot gehorchen, – "Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." - dass von daher dann sich politische Konsequenzen nahelegen. Also die Denkbewegung beginnt auch hier, wenn man so will, bei Gott.
"Weil Hitler sich hier zu einem zweiten Gott aufspielt"
Main: Barth ist nicht unumstritten, das hat sich auch schon ein wenig angedeutet im Verlauf unseres Gesprächs. Sicher ganz und gar unumstritten und von allen Lagern bewundert: seine Standhaftigkeit gegenüber dem NS-Regime, das haben Sie eben auch schon angesprochen. Wie ist dies begründet? Ist das Folge seiner politischen Haltung weit links von der Mitte? Oder ist seine Ablehnung der Nazis auch in seiner Theologie begründet?
Tietz: Ganz zweifellos in seiner Theologie begründet, und nicht in seiner politischen Position. Er sagt, er muss sich gegen den Totalitarismus Hitlers wehren, weil das dem ersten Gebot widerspricht, weil Hitler sich hier sozusagen zu einem zweiten Gott aufspielt, und wenn man wahrhaft Christ sein will, kann man das als Christ nicht akzeptieren, sondern muss dem widerstehen.
Main: Heute feiern ihn alle – Ihre Zunft, die Männer auf den Theologie-Lehrstühlen, haben ihn, der unter anderem in Bonn, Göttingen und Münster gelehrt hat, in der Nazi-Zeit ganz schön hängenlassen, als er ins Visier der Nazis geriet.
Tietz: Es war eine gemischte Lage. Also, manche waren auf der Seite Barths, andere waren nicht auf der Seite Barths. Also er hatte Freunde auf den Lehrstühlen, gerade in Bonn viele Kollegen, die Dinge ähnlich sahen wie er. Aber er hatte auch natürlich Feinde. Sogar innerhalb der Bekennenden Kirche war die Sicht auf Barth nicht einmütig, weil manche den Eindruck hatten, er ist so radikal, so kompromisslos, dass er das Verhalten der Anderen damit kompromittiert.
Main: Was war das Kompromisslose an dem Punkt?
Tietz: Also zum Beispiel bei der Eidesfrage: Die Beamten mussten damals einen Eid auf Adolf Hitler schwören. Und Barth war der Meinung, hat das auch den zuständigen Behörden gegenüber zum Ausdruck gebracht: Er kann den Eid nur schwören, wenn er den Zusatz hinzufügen darf: Soweit ich das als evangelischer Christ verantworten kann.
Und im Anschluss bekam er dann Briefe von Kollegen, die gesagt haben - auch Mitglieder der Bekennenden Kirche - die gesagt haben: In welche Lage bringen Sie uns denn, wenn Sie sagen, wir müssen diesen Zusatz machen? Die hatten selber schon geschworen ohne diesen Zusatz, und hatten jetzt den Eindruck, Barth suggeriert, sie selber wären nicht wirklich kritisch gegenüber dem Staat.
"Er wurde entlassen in Deutschland"
Main: In der Folge geht er zurück in die Schweiz. In dieser Zeit schreibt er weiter seine "Kirchliche Dogmatik". Sie erinnern in Ihrem Buch daran, dass diese "Kirchliche Dogmatik" immer als "Weißer Wal" bezeichnet wurde, wegen des weißen Einbands und wegen des Volumens von mehr als 9000 Seiten. Jetzt mal Hand aufs Herz: Wieviel Prozent davon haben Sie in etwa gelesen? Und als Theologin dürfen Sie nicht lügen!
Tietz: Vielleicht muss ich erst noch kurz sagen: Er ging nicht einfach zurück in die Schweiz, er wurde entlassen in Deutschland aus dem Dienst. Also das finde ich schon wichtig, dass man das noch mal im Zusammenhang der Ereignisse sieht. Wieviel Seiten ich gelesen habe, kann ich schwer abschätzen. Vielleicht 1000 insgesamt.
Main: Die Sprache – ich kenne nur Auszüge, ich habe sicherlich keine 1000 gelesen – ist ja sehr speziell, wie Schweizer sagen würden. Die Sätze mäandern und mäandern und mäandern und dann kommt nach vielen Zeilen das sinntragende Verb. Hätten Sie trotzdem so etwas wie eine Einstiegsdroge für unerfahrene Barth-Leser? Also, was könnten Sie empfehlen zur Lektüre?
Tietz: Ich glaube, ich würde tatsächlich andere Texte als die "Kirchliche Dogmatik" zum Einstieg lesen. Ich würde Vorträge von ihm lesen oder die "Einführung in die evangelische Theologie" oder die kleine Vorlesung "Dogmatik im Grundriss", die Barth 1946, nach Kriegsende, in den Ruinen des Bonner Schlosses gehalten hat. "Dogmatik im Grundriss", das war damals eine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten, und da kriegt man einen relativ guten Zugang zu seinem Denken.
Main: Frau Tietz, machen wir einen Sprung: Nach 1945 spricht Barth von "Gottes geliebter Ostzone". Wie sollen wir jemanden ernst nehmen, der sozialistischen Totalitarismus runterspielt?
Tietz: Sie sprechen ein schwieriges Kapitel an: Barth hat zur damaligen Zeit offensichtlich nicht richtig eingeschätzt, wie schwierig die Existenz der Kirche im kommunistischen Totalitarismus war. Gleichzeitig gibt es Menschen, die damals in der DDR gelebt haben und die gesagt haben, die Theologie Barths war für sie in dieser Zeit eine ganz wichtige Unterstützung, um selber auch kirchliche Opposition, soweit das damals möglich war, sein zu können.
Barths Anliegen war, sich gegen den radikalen Anti-Kommunismus im Westen zu wehren. Er hatte den Eindruck, dass das viel zu schnell geht, dass man sagt: Im Westen sind jetzt die Guten nach dem Krieg, und im Osten sind die Bösen. Und er wollte noch genauer drauf schauen, dass der Westen sich auch fragt, was machen wir eigentlich wirklich besser? Und er hatte Angst tatsächlich vor einem Dritten Weltkrieg und fürchtete, dass - wenn die beiden Blöcke sich so gegeneinander stellen - dass es dann schneller dazu kommen könne.
Barth lebte jahrzehntelang lang mit zwei Frauen
Main: Ich erfahre aber bei Ihnen, dass er die bundesrepublikanische Wiederbewaffnung vergleicht und parallel setzt mit nationalsozialistischer Massensuggestion. Das kann man doch wohl nur verbuchen unter der Rubrik "Auch Theologen können sich irren".
Tietz: Das ist ganz sicher, da haben Sie recht und das ist auch sicher so, dass auch Theologen, da sie nur Menschen sind, sich irren können.
Main: Christiane Tietz, dieses Programm ist nun nicht berühmt-berüchtigt für Voyeurismus oder großes Interesse an Schlafzimmer-Geschichten. Aber es ist nun mal so: Der wichtigste Theologe des 20. Jahrhunderts hat rund 40 Jahre lang, korrigieren Sie mich, wenn die Zahl nicht stimmt, mit zwei Frauen unter einem Dach gelebt – die eine als Ehefrau, die andere als Muse, Mitarbeiterin und Geliebte. An dem Thema kommen wir nicht vorbei. Wie gern oder ungern haben Sie sich mit diesem Kapitel im Leben des Karl Barth beschäftigt?
Tietz: Das war eigentlich für mich die erschütterndste Phase, mit der ich mich beschäftigt habe. Und ich habe damit gerechnet, als ich anfing, die Briefe zwischen Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum, die vor zehn Jahren veröffentlicht worden sind, zu lesen, dass ich Barth sehr schnell nicht mögen werde und ihm vorwerfen werde, er hat es sich da sehr einfach gemacht.
Aber wenn man sieht, wenn man das aufmerksam wahrnimmt, wie alle drei sich miteinander abquälen, da eine Lösung zu finden, dann hat man eigentlich nur – oder ich hatte nur – Empathie für alle drei. Und mir gelang es nicht, da einseitig irgendjemanden zu verurteilen, sondern ich habe nur mitgefühlt, wie furchtbar das gewesen sein muss.
Main: Die drei sprechen ja immer von einer "Notgemeinschaft", vor allem Barth spricht von der "Notgemeinschaft". Was war das: mehr Not oder mehr Gemeinschaft?
Tietz: Das war auf jeden Fall Not. Und Not hat diese doppelte Bedeutung im Sinne von Elend: Es ist ganz furchtbar, wir finden eigentlich keinen richtigen Weg, keinen besseren Weg, keinen Weg, der für alle angenehm ist oder erträglich.
Und Not heißt auf der anderen Seite aber auch Notwendigkeit. Also es war eben so, dass Barth, als er Charlotte von Kirschbaum kennengelernt hat, anfangs gedacht hat, er kann das irgendwie zwar wissen, dass er sie liebt und sie ihn, aber er muss das nicht in irgendeiner Weise in eine äußere Form gießen. Er hat es seiner Frau sofort erzählt und hat dann aber sehr schnell gemerkt, dass er ohne Charlotte von Kirschbaum nicht leben kann.
Und dann zusammenzuziehen war für ihn Notwendigkeit, weil er den Eindruck hatte, anders komme ich eigentlich gar nicht mehr durchs Leben, als indem sie täglich in meiner Nähe ist.
"Die beiden Frauen hatten es sehr schwer miteinander"
Main: Man muss sich aber vorstellen: Karl Barth und seine Frau haben fünf gemeinsame Kinder. Mit denen zieht die Geliebte ständig um. Oder wie ist die Konstellation?
Tietz: Ja, genau so ist das. Also, sie zieht dann eben 1929 ein noch in Münster und in zieht dann mit der Familie nach Bonn und zieht dann mit der Familie nach Basel in verschiedene Wohnungen. Die Kinder scheinen sie sehr gemocht zu haben, sie haben sie immer "Tante Lollo" genannt. Aber die beiden Frauen hatten es verständlicherweise sehr, sehr schwer miteinander.
Main: Wir wollen ja vermutlich beide nicht die Moralapostel geben und uns über andere erheben, aber ich frage Sie jetzt als Frau und als Professorin: Wie und warum sollte jemand solch eine Konstellation ertragen? Oder, anders gefragt: Warum ist da niemand ausgestiegen?
Tietz: Das haben die ja immer wieder diskutiert. Die haben immer wieder überlegt, ob es andere Optionen gibt, also immer wieder überlegt: Soll die Charlotte von Kirschbaum ganz weggehen? Sie haben immer wieder auch überlegt, ob nicht eine Scheidung eine Option wäre. Barth wollte sich nur von seiner Frau scheiden lassen, wenn seine Frau wirklich zustimmt. Und gleichzeitig hatte seine Frau das Gefühl, sie darf sich nicht scheiden lassen, weil sie eigentlich sich Vorwürfe machen muss, nicht die Frau sein zu können, von der Barth sich nicht scheiden lassen muss.
Und schließlich haben sich noch Leute von außen eingemischt, die gesagt haben: Wenn du dich jetzt scheiden lässt, in der Situation des Kirchenkampfes, eine Hauptkrise war 1933, dann ist deine ganze Autorität im Kirchenkampf dahin.
Also es war wirklich nicht so, dass sie nicht ständig wieder drum gerungen haben, ob es andere Optionen gibt. Aber sie sind eben nie zu dem Punkt gekommen, wo sie den Eindruck hatten, eine andere Lösung ist besser. Barth hat einmal davon gesprochen, es sei die "am wenigsten unvollkommene Lösung", diese Notgemeinschaft zu dritt.
Main: Diese Notgemeinschaft, könnte die auch dahingehend motiviert gewesen sein, dass man den Schein einer bürgerlichen Ehe aufrechterhalten musste?
Tietz: Das ist vielleicht ein Aspekt, aber ich habe Barths Briefe nicht nur so wahrgenommen, sondern dass er wirklich auch den Eindruck hatte, indem er Nelly Barth geheiratet hat, hat er auch eine Verantwortung ihr gegenüber – und das meine ich jetzt nicht zynisch - eine Verantwortung, diese Ehe in irgendeiner Weise aufrechtzuerhalten.
Die Geliebte als Co-Autorin?
Main: Wer hat denn profitiert von dem Ganzen?
Tietz: Das finde ich zu berechnend. Ich kann das sozusagen jetzt nicht so eindeutig beantworten. Sie wollen wahrscheinlich hören, Karl Barth hat davon profitiert – aber er hat selber auch genauso darunter gelitten. Und er hat, das möchte ich doch noch ausdrücklich sagen, immer das Gefühl gehabt, er lädt damit Schuld auf sich.
Es gibt ein bewegendes Briefzeugnis von 1947, wo er schreibt: Was das größte Glück für mich im Leben ist, ist gleichzeitig die größte Schuld. Insofern fällt es mir schwer, jetzt zu sagen: Na ja, er hat halt eben davon profitiert. Ich finde das zu eindimensional gelesen und hatte den Eindruck, das wird der Komplexität und Vielschichtigkeit und der Problematik dieser Konstellation nicht wirklich gerecht.
Main: Na ja, mit dem Profitieren meinte ich auch, dass ich davon ausgehe, dass große Teile der 9000 Seiten, von denen Sie 1000 gelesen haben, vielleicht auch von seiner Muse und Geliebten geschrieben worden sind.
Tietz: Das wird immer wieder diskutiert, dass Charlotte von Kirschbaum große Teile der "KD" geschrieben hat. Nach meinem Eindruck hat sie zugearbeitet. Also sie hat - für die Bibelauslegungsteile und für die kirchengeschichtlichen Teile hat sie Material zusammengestellt. Man kann aber zeigen, dass Karl Barth die Exkurse selber geschrieben hat, weil die handschriftlichen Notizen im Archiv von diesen Exkursen in Barths Handschrift sind. Und es ist nicht zu erwarten, dass Barth das handschriftlich noch mal abgeschrieben hat, was Charlotte von Kirschbaum erarbeitet hat.
Main: Nun lassen wir mal das Private. Kommen wir zum Schluss zu dem Punkt, dass sich kluge Menschen mit evangelischem Hintergrund dazu verhalten müssen, welchem Lager sie angehören: eher Barth und seiner "Wort-Gottes-Theologie" oder eher Schleiermacher und den auf ihm aufbauenden liberalen Theologen. Welchem Lager fühlen Sie sich eher zugehörig? Das haben Sie im Prinzip schon angedeutet, aber sagen sie warum.
Tietz: Ich fühle mich Barth zugehörig, weil ich den Eindruck habe, dass dieser Ansatz, von Gottes Reden her, von Gottes Selbstoffenbarung her zu denken, ein ganz wichtiges Korrektiv ist zu den religiösen Lieblingsgedanken, die Menschen eh schon haben. Und ich meine, dass die Kirche tatsächlich dafür da ist, immer wieder dieses Reden Gottes zur Sprache zu bringen.
"Die Kirche mit der Theologie Barths aus der Krise führen"
Main: Es gibt ja auch Theologen, die sagen, diese Auseinandersetzung zwischen liberaler Theologie und dialektischer Theologie, die sei letzten Endes hinfällig und sei nicht mehr das, was junge Theologen heute beschäftigt – oder auch Pastorinnen und Pastoren. Sollten die sich damit beschäftigen oder sollen sie das ad acta legen, diesen Konflikt?
Tietz: Ich meine, man sollte sich damit beschäftigen. Es ist auch auffällig, dass vor allem von liberaler Seite aus gesagt wird, der Konflikt sei ad acta gelegt. Ich habe gestern eine E-Mail von einer kirchenleitenden Persönlichkeit aus Deutschland bekommen, der mein Buch gelesen hat und der gesagt hat, er sei früher sehr auf der Seite Schleiermachers gewesen und habe aber jetzt, im Kontext der Kirchenleitung, gemerkt, dass man die Kirche aus der gegenwärtigen Krise nur mit der Theologie Barths herausführen kann; und er bedauere die Schleiermacher-Renaissance gegenwärtig.
Main: Wie könnte Barth in der aktuellen Krise, wenn ich Sie richtig verstanden habe, helfen?
Tietz: Ich meine, dass die Kirche sich auf ihre eigentliche Sache noch mal besinnen muss. Also, die Sache der Kirche ist nicht, einfach auf religiöse Bedürfnisse der Menschen oder die Religiosität, die eben noch irgendwie da ist zu reagieren und dafür irgendwie einen Platz zu bieten für die individuelle, subjektive Religiosität. Sondern noch mal neu vom biblischen Zeugnis aus zu fragen, wie man Gott als den Menschen ansprechenden, ihm seine Gnade zusagenden, seine Liebe zusprechenden Gott zur Sprache bringen kann.
Main: Eine Zeit lang hieß es ja mal, Barth sei dominierend in Ihrer, der evangelischen Kirche. Sie sprachen eben von einer Schleiermacher-Renaissance. Was stimmt nun?
Tietz: Ich würde denken, im Moment ist es richtig, dass es zurzeit eine Schleiermacher-Renaissance gibt, allerdings: Das ist vor allem in Deutschland der Fall. Das ist in anderen Ländern nicht so der Fall. Wenn Sie im internationalen Kontext schauen, in den USA, in Südafrika, in Asien, da ist Barth nach wie vor ein ganz, ganz wichtiger Theologe für alldiejenigen, die versuchen, konstruktive Theologie zu treiben. Also Theologie gedanklich nach vorne zu entwickeln.
Main: Danke Ihnen für dieses Gespräch, Frau Tietz.
Tietz: Sehr gern.
Christiane Tietz: "Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch"
C.H. Beck, Hardcover, 538 Seiten, 29,95 Euro
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Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.