Archiv

500 Jahre Camagüey
Aufwachen aus dem Dornröschenschlaf

Die kubanische Stadt Camagüey gehört zu den ältesten in ganz Lateinamerika. Obwohl sie kulturell viel zu bieten hat, steht sie doch im Schatten Havannas oder wird nur als Transitort auf dem Weg zu den Traumstränden Kubas wahrgenommen. Aber das soll sich ändern.

Von Henning von Löwis |
    Plaza de los Trabajadores
    Die Plaza de los Trabajadores in Camagüey (Deutschlandradio / Henning von Löwis)
    "Mi ciudad Camagüey" – Ständchen für eine 500jährige, die sich rühmt, zu den ältesten Städten der Neuen Welt zu gehören, älter zu sein als New York, Mexico-City, Rio de Janeiro, Buenos Aires oder Lima.
    Die Plaza de los Trabajadores ist in sanftes Abendlicht getaucht. An der Fassade des Postamtes die angestrahlte stählerne Silhouette des Kopfes von Ernesto Che Guevara. Vor dem Funkhaus von Radio Cadena Agramonte präsentieren Musikanten ein Potpourri von Melodien, die teilweise speziell zum Stadtjubiläum komponiert wurden. Junge Mädchen in farbenfrohen Kostümen stellen unter Beweis, dass sich Camagüey nicht zu unrecht den Ruf erworben hat, eine Hochburg der Tanzkunst auf Kuba zu sein.
    Als eine von Kubas ersten sechs spanischen Siedlungen wurde Camagüey am 2. Februar 1514 an der Küste gegründet – daher der einstige Name Santa Maria del Puerto Príncipe. Doch schon zwei Jahre später verlegte man den Ort ins Landesinnere an die Ufer des Flusses Caonao, wo die aus Sevilla eingewanderten Bauern bessere Böden vorfanden. Es sollte nicht der letzte Umzug sein. 1528 zogen die Siedler weiter, um sich schließlich im Reich der Kaziken zwischen dem Rio Hatibonico und dem Rio Tínima niederzulassen. Rinderzucht, Zuckerrohranbau – und auch Schmuggel – ließen das Gemeinwesen aufblühen. Der Reichtum gründete sich nicht zuletzt auf Sklavenarbeit. Mitte des 18. Jahrhunderts bestand ein Viertel der Bevölkerung aus schwarzen Sklaven. 1817 wurde Puerto Príncipe das Stadtrecht verliehen, aber erst im Jahre 1903 - nachdem Kuba 1898 seine Unabhängigkeit von Spanien erlangt hatte, wurde aus der "Hafenstadt" Puerto Príncipe Camagüey, was übersetzt aus der Sprache der indigenen Bevölkerung soviel heißt wie "Sohn des Camagua-Baumes". Heute ist Camagüey Hauptstadt von Kubas größter Provinz, in der mehr Rinder als Kubaner leben. Ihr spanisches Gesicht hat Kubas drittgrößte Stadt bis in die Gegenwart nicht verloren.
    Enge Gassen wie in einem Labyrinth
    "Herzlich willkommen in Camagüey! Wir sind im Moment im Boulevard. Wir laufen, um diese Stadt besser kennenzulernen."
    Ohne Stadtführerin kann man sich leicht verlaufen in Camagüey - im Gewirr der engen gewundenen Gassen und Gässchen, die zu Plätzen mit Gotteshäusern hinführen oder abrupt im Nichts enden. Der Legende nach soll das verwinkelte Straßennetz einst angelegt worden sein, um mögliche Invasoren in die Irre zu führen. Es hinderte den englischen Freibeuter Sir Henry Morgan allerdings nicht daran, die Stadt 1668 zu plündern. Und er war nicht der einzige Pirat, der hier im Herzen Kubas 100 Kilometer vom Meer entfernt auf Raubzug ging. Das Labyrinth namens Camagüey schreckte niemanden ab, doch ist es so faszinierend, dass es zuweilen als "Korinth der Karibik" apostrophiert wird und sich seit 2008 mit dem Titel Weltkulturerbe der UNESCO schmücken darf. Besondere Attraktion: die Tinajones, mannshohe, bauchige Gefäße aus rotem Ton mit einem Durchmesser bis zu drei Metern, in denen in der Kolonialzeit Regenwasser aufgefangen und gekühlt wurde – litt die Stadt doch permanent unter Wasserknappheit. Der älteste erhaltene Tonkrug stammt aus dem Jahre 1760. Wohlhabende Camagüeyanos verzierten die Räume ihrer Anwesen mit kleinen Tinajones, für die spezielle Möbelstücke angefertigt wurden. Sie enthielten nicht nur Wasser, sondern auch Wein. Mit einer Fläche von 300 Quadratmetern ist das historische Stadtzentrum von Camagüey größer als das von Havanna.
    Iglesia de Nuestra Senora del Carmen
    Iglesia de Nuestra Senora del Carmen (Deutschlandradio / Henning von Löwis)
    "Etwas Besonderes sind die Straßen. Die sind so einzigartig hier in Kuba, die sind so eng. Es gibt so viele Straßen, die gleich aussehen. Und auch die Leute, die Leute hier in Camagüey, die sind eigentlich nett."
    "Ganz anders als die Habaneros?"
    "Ja, ganz anders als die Habaneros. In Camagüey sind sie netter als die Habaneros. In Havanna wohnen die Leute ein bisschen separat. Sie sind ein bisschen kompliziert zu verstehen. In Camagüey nicht. Du kannst hier laufen, du kannst hier etwas fragen. Und alle werden dir antworten. In Havanna passiert das nicht. Es ist etwas anders."
    Die Camagüeyanos beantworten nicht nur freundlich Fragen, sondern sie präsentieren ihre Stadt darüber hinaus im angeblich besten Spanisch, das man auf Kuba spricht.
    Das Provinzmuseum Ignacio Agramonte, benannt nach dem1841 in Camagüey geborenen und 1873 im ersten Unabhängigkeitskrieg gefallenen Generalmajor Agramonte y Loynaz begreift sich nicht zu unrecht als eine der wichtigsten Einrichtungen, in der das Erbe der Vergangenheit bewahrt wird.
    Das Museum dokumentiert nicht nur Stadtgeschichte, es hat selbst Geschichte geschrieben. 1848 als Kavallerie-Kaserne errichtet, wurde es 1905 von der Eisenbahngesellschaft in ein Hotel verwandelt - dem ersten in Camagüey. Nach einer gründlichen siebenjährigen Restaurierung wurde dann 1955 in der Avenida de los Mártires No. 2 das Provinzmuseum eröffnet, das in mehreren Sälen sehr anschaulich Orts- und Landesgeschichte vermittelt und außerdem mit einer Sammlung kubanischer Kunst aufwartet, die nur vom Kunstmuseum in Havanna übertroffen wird.
    Camagüey hat viel zu bieten, vor allem was Kunst und Kultur betrifft. Hier entstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts das erste Stück Literatur auf Kuba: "Espejo de Paciencia – Spiegel der Geduld", aus der Feder des von den Kanarischen Inseln eingewanderten Spaniers Silvestre de Balboa Troya y Quesada. Camagüey war Heimatstadt der Schriftstellerin Gertrudis Gómez de Avellaneda, und hier erblickte 1902 Nicolas Guillén das Licht der Welt, Begründer einer Schule afrokaribischer Dichtung und bis zu seinem Tode 1989 Poeta laureatus Kubas. Besonders stolz sind die Camagüeyanos auf ihr 1967 gegründetes Ballett, das es mit dem Nationalballett in Havanna durchaus aufnehmen kann, auf die zahlreichen Kunstgalerien der Stadt – und nicht zuletzt auf den zweihundertjährigen Stadtfriedhof mit seinen sehr gut erhaltenen Grabmälern. Einen ersten Überblick über das Sehenswürdige in Camagüey verschafft man sich am besten auf einer Fahrt mit dem Bici-Taxi, der kubanischen Spielart der Rikscha.
    Fahrradtaxis buhlen um die Kunden
    Plaza de los Trabajadores, morgens um 11. Direkt vor der 1748 in kubanischem Barock errichteten Kathedrale Nuestra Senora de la Merced: Eine Parade von Dutzenden mehr oder minder bunter Fahrrad-Taxis. Mit origineller Bemalung und prägnanten Huptönen werben Camagüeys Bici-Taxistas um Fahrgäste. Besonders umworben: Ausländer, die mit CUC bezahlen, dem konvertierbaren kubanischen Peso.
    Luis ist stolzer Besitzer eines der bunt bemalten Fahrrad-Taxis. Kollege Alfredo, ist mit einem ganz gewöhnlichen, schon etwas verschlissenen Bici-Taxi unterwegs. Rund 500 Bici-Taxis zählt die 300.000 Einwohner-Stadt Camagüey. Die Konkurrenz ist groß - und die Arbeit hart. Von morgens um 7 bis nachmittags um 5 tritt Alfredo in die Pedale, sechs Tage in der Woche und am Sonntagmorgen - strampelt sich ab - zumeist für ein paar Pesos in moneda nacional, nationaler Währung.
    So begehrte Artikel wie Mobiltelefone, Sportschuhe der internationalen Nobelmarken oder Gummibären aus Deutschland lassen sich damit nicht kaufen, aber immerhin kann man im Supermarkt Plaza Mercado oder in der Peleteria La Principal damit bezahlen. Man muss nicht vorher zur CADECA, der staatlichen Wechselstube, um umzutauschen. Die Vereinheitlichung der Währung gehört zu den wichtigsten - und zugleich schwierigsten - von Staats- und Parteichef Rául Castro eingeleiteten Reformen.
    Motor des Aufschwungs in ganz Kuba soll Gesetz Nr. 118 sein, das von der Nationalversammlung am 29. März verabschiedete Gesetz über ausländische Investitionen, das kürzlich in Kraft getreten ist.
    Das lange im Dornröschenschlaf vor sich hindämmernde Camagüey hofft auf Investoren, die den Tourismus in Schwung bringen. Bis heute gibt es in der Stadt nur relativ kleine Hotels. Das größte - das Gran Hotel - verfügt über gerade mal 72 Zimmer. Beflügelt vom 500jährigen Stadtjubiläum, werden Hotels modernisiert und neu errichtet. So musste die Kommunistische Partei das Gebäude in der Calle Cisneros räumen, in dem bisher die Stadtparteiorganisation ihren Sitz hatte. Hier entsteht jetzt das neue Hotel La República.
    Camagüey möchte nicht länger nur Transitstadt sein auf dem Weg zu den Traumstränden von Santa Lucia oder zur Inselkette der Jardines del Rey – der Gärten des Königs mit ihren faszinierenden Korallenriffen und Flamingokolonien, sondern Touristenziel für ausländische Besucher, die zumindest zwei, drei Tage in der Stadt verbringen.
    An Sehenswürdigkeiten mangelt es nicht in der historischen Altstadt. Allein die zahlreichen Kirchen lohnen einen Besuch, darunter ein architektonisches Kleinod: die Iglesia de Nuestra Senora del Carmen - mit ihren zwei symmetrischen Türmen ein typisches Beispiel des kubanischen Barock.
    Postamt mit Kopf von Che Guevara.
    Postamt mit Kopf von Che Guevara. (Deutschlandradio / Henning von Löwis)
    "Hier auf der rechten Seite, das ist das Ursulinenkloster. Es wurde im Jahre 1829 fertig gebaut. Und die Ursulinen in Kuba hatten einen sehr guten Ruf. In Camagüey waren sie diejenigen, die die erste Grundschule für Mädchen gegründet haben."
    Besonders stolz ist man in Camagüey darauf, dass Papst Johannes Paul II. im Januar 1998 in der Stadt eine Messe zelebrierte. Ein Teil der Möbel, die der Heilige Vater damals benutzte, sind heute in der Kirche Nuestra Senora de la Merced zu besichtigen.
    "Johannes, der hat eine Messe hier in Camagüey gehalten. Der ist an mehreren Plätzen gewesen, aber die Messe hat hier stattgefunden. Er war in Havanna, Santiago, Sancti Spiritus, Camagüey."
    "Sind die Menschen sehr religiös wieder?"
    Zentrum des Katholizismus
    "Ja, Camagüey gilt als Hochburg des Katholizismus. 43 Prozent der kubanischen Bevölkerung sind Katholiken, aber nicht so strenge Katholiken. Man geht nicht jeden Tag zur Kirche, vor allem die jüngste Generation nicht jeden Tag, aber die alten Menschen. "
    "Kehrt die Religion zurück nach Kuba?"
    "Ja, langsam kehrt sie zurück, kommt sie zurück."
    Die Religion kehrt zurück, und das reiche kulturelle Erbe von Camagüey wird Zug um Zug erschlossen. So ranken sich unzählige Legenden um die Tinajones – die großen Tonkrüge, die heute Patios, Gärten und Restaurants zieren. So soll einem Mambí-Befreiungskämpfer im 19. Jahrhundert die Flucht vor spanischen Soldaten nur gelungen sein, weil er sich in einem Tinajón verbarg. Wer einmal aus einem solchen Tonkrug trinke, der werde immer wieder nach Camagüey zurückkehren und in der Stadt Wurzeln schlagen.
    Mithilfe der Biblioteca Nacional de Cuba wird das musikalische Erbe der Stadt aufbereitet. Dabei stellte sich heraus, dass nicht weniger als 117 Lieder zum höheren Ruhme von Camagüey geschrieben wurden - die neuen Lieder zum Stadtjubiläum nicht mitgezählt.