"Wir müssen der Gemeinde die Messgesänge zurückgeben", wird Martin Luther zitiert und damit auf die große Bedeutung der Musik für die Reformation hingewiesen. Dabei wurde gar nicht überall gesungen: In Süddeutschland und auch in der der Schweiz hatte sich zunächst ein Feiertypus durchgesetzt, der auf Musik ganz verzichtete. Man kam zusammen, betete und las aus der Bibel. Allerdings auf deutsch und nicht mehr auf lateinisch. Der in Bern lehrende Hymnologe und Kirchenmusiker Andreas Marti ist Experte für die Entwicklung des Genfer Psalters. Er bestätigt, dass sich der reine Wortgottesdienst nicht besonders lange gehalten hat:
"Es hing stark zusammen mit dem steigenden Bildungsniveau, den steigenden intellektuellen Ansprüchen der städtischen Bevölkerung, die lernten nämlich alle lesen. Die mittelalterliche Religionsvermittlung ging über Bild und Ritus und nicht über Wort und Schrift. Die wollten nun wissen was denn nun wirklich im Evangelium steht. Dann hat man relativ schnell gesehen, dass es ganz nützlich wäre, zusammen zu singen."
Worte des traditionellen Protestantismus
Gemeinsam singen, aber was? Die Reformation war auch eine Bewegung der Rückbesinnung – weg von den ganzen Verfälschungen und Neuerungen der römischen Tradition, zurück zur 'ursprünglichen' Kirche oder zu dem, was man dafür hielt. Es lag also nahe, auf das zurückzugreifen, was tatsächlich in der Bibel steht, und das sind, wenn es um Musik und Gesang geht, die Psalmen. Lobgesänge, Bußlieder, Anrufungen verschiedenster Art, versammelt im Alten Testament, 150 insgesamt. Diese biblisch-jüdischen Lieder waren über Jahrhunderte in der Synagoge gesungen worden und in unterschiedlichen, meist verknappten Formen auch in christlichen Kirchen. Die Art und Weise aber wie Luther daraus Psalmenstrophenlieder machte, war ganz neu, erzählt Andreas Marti. Konsequent weiterverfolgt hätten das dann Gelehrte aus Frankreich und der Schweiz, allen voran Johannes Calvin. Er hat sich im Gegensatz zu Luther aber kaum Freiheiten in der Übersetzung erlaubt.
"Psalmensingen deswegen, das hat Calvin so begründet, weil wir ja von uns aus nicht die richtigen Worte finden zum Beten. Die muss uns der Heilige Geist geben. Nach der alten Auffassung hat der Heilige Geist die Bibel über Väter der Autoren geschrieben. Also stammen die Psalmen vom Heiligen Geist. Wenn wir also Psalmen beten oder singen, dann beten wir mit Worten, die uns der Heilige Geist gegeben hat. Das ist die Meinung Calvins und des traditionellen Protestantismus."
Die Singer-Songwriter der damaligen Zeit
Johannes Calvin hat nicht nur aus theologischer Sicht andere Schwerpunkte als Martin Luther gesetzt und damit der Reformation eine eigene Prägung verliehen, sondern auch gesanglich-musikalisch. Ostern 1538 wurde er wegen Differenzen um die Kirchenzucht aus seiner damaligen Wirkungsstätte Genf ausgewiesen. Er ging nach Straßburg, damals auch ein wichtiges Zentrum sakraler Musik, und übernahm die Betreuung der französischen Flüchtlingsgemeinde. Für sie gab er 1539 eine erste Sammlung von Psalmliedern heraus. Calvin kehrte 1541 nach Genf zurück und arbeitete an der Veröffentlichung weitere Gesangbücher. 1562 ist dann der komplette Psalter erschienen, 150 Nachdichtungen der biblischen Vorlage in französischer Sprache.
Die Lieder von Luther seien eher in der Tradition der Meistersinger, den Singer-Songwritern der damaligen Zeit, anzusiedeln, erläutert Andreas Marti. Der Genfer Psalter stehe dagegen in der sogenannten Straßburger Tradition, die mit den säkularen Melodien der damaligen Zeit nicht viel zu tun gehabt hätte.
"Es ist eine ziemlich strenge Komposition, die nur mit langen und kurzen Tönen arbeitet. Die eine deutliche Zeilengliederung hat und auch nicht so ganz einfach zu singen ist. Man hat es dem Volk über Jahrhunderte mit allerlei Mühe beibringen müssen."
"Musikalisches Alphabetisierungsprogramm"
Während Luther offensichtlich kein Problem damit hatte, dem Volk in der Kirche das zu präsentieren, was es musikalisch auch aus dem alltäglichen Leben kannte, verfolgten die Reformatoren um Calvin ein pädagogisches Ziel – die Menschen sollten das singen, was man für wirklich angemessen hielt. Das schlug sich auch in den Gesangbüchern nieder.
"Es gibt Ausgaben des französischen Psalters, da stehen die Solmisationssilben neben den Tönen. Damit man es damit lernen kann. Das ist eine Art musikalisches Alphabetisierungsprogramm, was man da gestartet hat."
Auch aus einem anderen Grund war es nötig, den Menschen pädagogische Hilfestellung zur neuen Musik zu geben. Denn eigentlich war der Psalter als einstimmiger, unbegleiteter Gesang gedacht. Sowohl von Luther als auch von Calvin, in Genf wie in Wittenberg. Aber das, was vielleicht dem Wunsch nach Übersichtlichkeit und Klarheit entwuchs, hatte nicht lange Bestand.
"Als dann der Genfer Psalter in der deutschen Übersetzung in der Nachdichtung von Lobwasser eingeführt wurde, da kam relativ schnell das Bedürfnis nach etwas mehr Sound in der Kirche. Offenbar hat man im Kanton Zürich schon im 17. Jahrhundert angefangen, das vierstimmig zu singen, zunächst dann natürlich nur mit den Schülern, denn das muss man den Leuten auch beibringen."
Ambrosius Lobwasser war ein Schriftgelehrter aus Ostdeutschland. Dass er bei seiner Übersetzung den Text veränderte, aber nicht die Melodie, mag daran liegen, dass er kein Komponist war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es ein gefährliches Unterfangen war, sich kompositorische Freiheiten zu nehmen.
"Die Melodie ist gegeben, da wird nichts geändert. Da gab es ein paar wenige Leute, die diese Melodien gemacht haben, übrigens der zweite dieser drei Komponisten, der war mal für ein paar Tage im Gefängnis, weil er ohne Obrigkeitserlaubnis einige Melodien verbessert hatte."
Bis heute bewundert und gesungen
Das Dichten und Komponieren sakraler Musik als politische, hochbrisante Angelegenheit? Aber ja! Es galt vor rund 500 Jahren für Martin Luther im Osten Deutschlands genauso wie für Calvin und seine Mitstreiter südlich und westlich des Rheins. Eine gefährliche, aber auch ungemein fruchtbare Angelegenheit. Denn später erlebten sowohl die Lieder von Luther, wie auch die Psalmenübersetzungen von Calvin kunstvolle Interpretationen. Der Genfer Psalter wird bis heute in den mehrstimmigen Bearbeitungen des Franzosen Claude Goudimel oder des niederländischen Komponisten Jan Pieterszon Sweelnick bewundert und gesungen.