Archiv

500 Jahre Reformation
Neue Facetten in der Lutherforschung

Es ist sogar umstritten, ob Martin Luther tatsächlich die Thesen an das Eingangsportal der Wittenberger Schlosskirche schlug. Die neuere Luther-Forschung bringt aber neue Erkenntnisse über den Menschen Luther, über die gesellschaftlichen Umstände - und auch über seine dunklen Seiten.

Von Peter Leusch |
    Der Reformator Martin Luther in einer Darstellung von Lukas Cranach.
    Luther ist in Bildern und Biographien präsent wie kein zweiter. Er ist die am meisten dargestellte Persönlichkeit der deutschen Geschichte. (dpa/picture-alliance/epd-Bild Norbert Neetz)
    "Martin Luther schlägt hier am großen Eingangsportal außen der Wittenberger Schlosskirche womöglich seine 95 Thesen an – das ist bis heute so ein Fachdiskurs: Hat es stattgefunden, hat es nicht stattgefunden? – Wir wissen, dass es Dozenten vor Martin Luther gab, die hier ihre Thesenpapiere, ihre Bekanntmachungen angeheftet haben. - Warum gerade hier? - Weil es eben nicht nur die Privatkirche des Fürsten ist, sondern auch die Universitätskirche, es war so etwas wie das Schwarze Brett der Universität."
    Oliver Friedrich, Stadtführer in Wittenberg, schildert die Schlüsselszene zum Auftakt der Reformation am 31. Oktober 1517 in Wittenberg. Luthers Thesenanschlag ist legendär. Es ist der Geburtsmythos der Reformation, ein Akt, der vielleicht genauso, vielleicht anders, vielleicht aber auch überhaupt nicht stattgefunden hat. Denn die Gewährsmänner Philipp Melanchthon und Luthers Sekretär Georg Rörer, die beide diesen Thesenanschlag überliefern, waren 1517 noch gar nicht in Wittenberg.
    Letztlich sind die Spekulationen, ob Luther selbst, einer seiner Studenten oder der Hausmeister der Universität oder eben niemand die Thesen angeheftet hat, müßig. Denn wissenschaftlich gesichert ist, dass Luther die geharnischte Kritik am kirchlichen Ablasshandel, bei dem man sich mit Geld von seinen Sünden freikaufen konnte, an seinen obersten Dienstherrn, den Magdeburger Erzbischof Albrecht von Hohenzollern schickte. Zugleich gelangten die Thesen auf nicht mehr rekonstruierbaren Wegen zu auswärtigen Druckern, die Luthers Kritik ebenso rasch wie geschäftstüchtig verbreiteten. Damit war die Kampfansage in der Welt. Eine Zeitbombe tickte.
    - "Ich bin ja selber evangelisch und fand, das war für die damalige Zeit eine revolutionäre Geschichte, - passte ja auch nicht mehr mit dem Ablass und damit kam es zum Wandel."
    - "Die Reformation, den christlichen Glauben letztendlich, das verbinden wir damit."
    - "Eigentlich alles. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bin gebürtige Wittenbergerin. Ich liebe die Stadt und wollte eigentlich nie weg hier."
    - "Es gibt wichtigere Sachen auf dem Planeten als Luther. Es ist überall Krieg. Und die Kirche, was macht sie dagegen? – Nichts. Kassiert nur, halten nur die Hände auf."
    - "Wir sind einfach hier zu Hause. Wir haben keine richtige Verbindung dazu. Wir sind nicht kirchlich. Aber das Lutherfest nehmen wir mit."
    Statements Wittenberger Bürger zu der Frage, was sie mit Luther verbinden. Und auch, wie sie zu Luthers dunklen Seiten stehen, seiner Haltung im Bauernkrieg und seinem Judenhass.
    - "Er hat den Bauernkrieg verraten, um seine Ziele durchzusetzen, das muss man auch sehen."
    - "Nein, darüber spricht man hier nicht."
    - "Da gibt es die Judensau hier an der Stadtkirche. Wir Wittenberger wissen das. Jeder hat eine dunkle Seite, auch wir."
    - "Und das war auch der Zeitgeist, wo man gegenüber anderen ein bisschen intolerant war. Das kratzt ein bisschen an Herrn Luther, wo man sagt: Oh Gott. Aber es war auch seine Sicht der Dinge, und damit muss man sich heute auch auseinandersetzen."
    In der Lutherstadt Wittenberg, "am Rande der Zivilisation", wie Luther schrieb, ist der Reformator allgegenwärtig. Man begegnet ihm buchstäblich auf Schritt und Tritt. Nicht nur dem mächtigen Denkmal auf dem Marktplatz. Nein, sein Konterfei schaut ebenso aus vielen Schaufenstern: Martinstropfen, Luther-Bier, Luther-Rose, - der Reformator verkauft sich bestens. Luther ist eine Marke. Da wirbt ein Anstecker mit der Parole: Protestant seit 1517. Aber der Reformator spielt auch im Comic mit: Luther bei den Abrafaxen. Und einer der witzigsten Renner im Weihnachtsgeschäft ist die Luther-Socke - mit dem Aufdruck: Hier stehe ich.
    Wer war Martin Luther wirklich?
    Wer war Martin Luther wirklich? Ein Held, der Papst und Kaiser widerstand, Urbild deutscher Aufrichtigkeit und Gewissenstreue, ein christlicher Erneuerer des Glaubens für die einen, ein Ketzer, der die Kirche spaltete für die anderen. Luther, der die Bibel übersetzte und damit das Fundament für ein national einendes Hochdeutsch legte, sprachmächtig und bildgewaltig, intellektuell wie emotional, mal feinsinnig, mal derb, gegen Ende seines Lebens auch ein Hassprediger gegen die Juden. Luther ist in Bildern und Biografien präsent wie kein zweiter. Er ist die am meisten dargestellte Persönlichkeit der deutschen Geschichte.
    Nicht zufällig. Denn Luther hat eine Masse an Zeugnissen hinterlassen. Über keinen Menschen, der vor einem halben Jahrtausend gelebt hat, wissen wir so viel wie über Martin Luther. Über keinen gibt es allerdings auch so viele Legenden. Ganze Bibliotheksabteilungen könnte man füllen mit den Darstellungen und Deutungen seiner Persönlichkeit. Und zu allem, was Werk und Wirkung Luthers angeht.
    Aber wo hört die historische Persönlichkeit auf, wo fängt der Mythos an? Luther schillert auch heute noch: In seinen Zeugnissen ist er uns scheinbar nah, dann aber auch wieder sehr fern.
    Zum 500-jährigen Jubiläum beschäftigen sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen Symposien, Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen mit Luther und der Reformation. Und eine Reihe von neuen Luther-Biografien und Darstellungen des Reformationszeitalters sind zu diesem Anlass erschienen.
    Martin Luther wurde 1483 in Eisleben geboren. Er selber charakterisierte sich später gern als Bauernsohn oder Kind eines armen Hauers, also Bergmanns, aber das hat die jüngere Lutherforschung korrigiert.
    "Sein Vater hatte eine Schmelzhütte, das heißt, er war Besitzer von einem Bergwerk. Also er kam nicht aus ärmeren Verhältnissen, sondern aus gut gestellter Familie."
    Regionaler und sozialhistorischer Hintergrund
    Die australische Historikerin Lyndal Roper, Professorin in Oxford, hat zehn Jahre lang über Luther geforscht, und dabei vor allem das Archivmaterial in Ostdeutschland durchgearbeitet, das vor der Wende den westdeutschen Reformationsforschern nicht oder nur eingeschränkt zugänglich war. In ihrer Arbeit wird der regionale sozialhistorische Hintergrund von Luthers Elternhaus besonders plastisch.
    "Bergwerk war damals eine sehr unsichere Sache. Es hatte viel mit Glück zu tun, wer plötzlich Erz findet und wer kein Glück hat. Es war sehr viel, was unsicher war: ´Man war auf die Kapitalisten in Nürnberg oder in Augsburg angewiesen, es gab große globale Märkte. Und das waren alles Kräfte, die man damals nicht ganz durchschaute."
    Luthers Vater verfolgte deshalb mit seinem aufgeweckten und intelligenten Sohn einen klaren Plan: Martin sollte durch Studium und Heirat die Zukunft des Familienunternehmens sichern.
    "Es war für das Bergwerk von großer Bedeutung, dass man eine rechtliche Absicherung hatte. Und genau das hatten sie nicht, die ganzen Besitzverhältnisse waren ungewiss. Man brauchte Jura in der Familie und man brauchte auch Eheverbindungen. Man heiratete in den Kreis der Hüttenleute hinein. Es war ein großes Ding, wo Luther gesagt hat, ich will Mönch werden, das machte die ganzen Pläne zunichte."
    Die Gründe, die Luther bewegt haben, sein Jurastudium aufzugeben und Mönch zu werden, sind unklar. Jahrzehnte später erzählte Luther in einer seiner Tischreden rückblickend, er sei im Jahr 1505 bei Stotternheim von einem Blitzeinschlag zu Tode erschreckt worden und habe die Mutter Marias angerufen: "Hilf, du heilige Anna, ich will ein Mönch werden."
    Gab es dieses Damaskus-Erlebnis wirklich - unwillkürlich muss man an Paulus' Bekehrung denken - oder ist es eine Selbststilisierung, eine dramatisierende Bearbeitung der eigenen Lebensgeschichte?
    Luther litt jedenfalls unter der Ablehnung des Vaters, der seinen Klostereintritt weiterhin missbilligte. Er hatte es dem Vater nicht recht gemacht. Und noch mehr litt Luther darunter, dass er als sündiger Mensch keinerlei Rechtfertigung vor Gott erlangen könnte.
    Luther war ein Eiferer
    Luther kasteite sich im Kloster der Augustinereremiten aufs Äußerste, er war ein Eiferer - selbstquälerisch, zwanghaft würde man heute sagen. Aber alles Fasten und Beten, alle Bußübungen und jeder Schlafentzug erlösten ihn nicht aus seiner Verzweiflung. Er zweifelte an sich, aber er zweifelte und verzweifelte auch an Gott, der ihm buchstäblich keine Chance ließ, der eigenen Sündhaftigkeit zu entkommen. Luther schrieb:
    "Da wird der Mensch so bald Gott feind um der Strafe willen, dieweil er fühlt, dass er ein Sünder ist, ja er lieber wollte, dass kein Gott ist."
    Lyndal Roper hat in ihrer gerade erschienenen Biografie mit dem Titel "Luther. Der Mensch Martin Luther" den Versuch unternommen, seiner Persönlichkeit nicht nur historisch, sondern auch psychologisch nahe zu kommen.
    Die Sorge, dass hier der Reformator erneut auf Freuds Couch gelegt wird, wie es der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson vor 40 Jahren angestellt hat, ist aber unbegründet. Luther behält seine Komplexität, seine Theologie wird nicht auf einen Vaterkonflikt reduziert. Aber Roper schafft es, diesen Menschen aus einer fernen und anderen Zeit, aus der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, heranzuholen. Sie zeigt uns einen Gottsucher aus Fleisch und Blut.
    "Er ist nicht einer, der meint, den Glauben ein für alle Male zu haben, sondern er ist einer, der immer mit diesen Fragen ringt, der eine intensive Beziehung zu Gott hat - eine Beziehung, wo er ganz plötzlich in Melancholie gestürzt werden kann. Und es ist nicht etwas Selbstverständliches, seine Religiosität. Und das ist für uns, das ist für mich etwas, was ich verstehen kann, etwas Lebendiges, das macht ihn für mich interessant."
    Gerade die existenzielle Gottsuche des jungen Luther ist eine Seite, wo - nach einem langen Annäherungsprozess - inzwischen auch die Katholiken positiv anknüpfen können, erklärt Wolfgang Thönissen, katholischer Theologe und Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn.
    "Luther war für Katholiken der Häretiker, den man am besten gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Und im Zuge dieser Veränderungen bekommt man den frommen Menschen, den Beter, da bekommt man den Theologen in den Blick. Und dieser Theologe hat jetzt plötzlich etwas zu sagen. Und was er zu sagen hat, ist die Neuartigkeit eines Gottesverhältnisses: Also, dass der Mensch vor Gott steht, das ist etwas, was Luther für seine Zeit in einer besonderen Weise beschrieben hat, das ist auch für Katholiken faszinierend. Wir nennen das heute das existenzielle oder existenziale Gottesverständnis. Das hat Joseph Ratzinger also Benedikt XVI ganz klar gesehen: Luther suchte einen gnädigen Gott."
    "Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
    Herr Gott, erhör mein Rufen.
    Dein gnädig Ohren kehr zu mir
    Und meiner Bitt sie öffne." (Choral von Luther)
    Luther hat die Anfälle von Gottes- und Selbstzweifel geistig wie körperlich durchlitten. Die Anfechtungen, wie er das selber nannte, schrieb er buchstäblich dem Teufel zu. Der Leibhaftige war für ihn präsent, spürbar und mächtig. Bis zuletzt spielte der Teufel in Luthers Leben eine wichtige Rolle.
    "Auch eine paradoxe Rolle. Normalerweise, wenn man vom Teufel angegriffen wird, ist das etwas, wovor man Angst hat und wo die Befürchtung naheliegt, dass man vom Teufel besessen ist. Aber Luther kann das genau umdrehen, denn bei ihm heißen die Angriffe des Teufels, das ist der Beweis, dass er auf der Christi Seite steht, umso mehr er vom Teufel angegriffen wird. Und das ist er auch körperlich: Er bekommt Kopfweh, er bekommt Zahnweh, Zittern, Sausen im Ohr, das sind alles körperliche Erscheinungen, die vom Teufel kommen, seiner Meinung nach. Aber genau das sind die Beweise, dass es sich für den Teufel lohnt, Luther anzugreifen." (Lyndal Roper)
    Sein Beichtvater und Förderer, Johann von Staupitz, Theologe und Prior im Augustinerorden, versuchte, das Selbstquälerische des jungen Luther zu lindern, auch durch Humor, sprach von "Puppensünden."
    "Staupitz versteht sein Ringen um Glauben und weiß genau, wie man mit Luther umgehen muss, wo man über ihn lachen muss, wo er ihm zeigen muss, dass er alles zu ernst nimmt und Luther zu viel Askese geübt hat."
    Staupitz half Luther aber auch einen theologischen Lösungsweg zu finden, er lenkte ihn zu Augustinus und er empfahl ihm die Beschäftigung mit der deutschen Mystik.
    "Seinen Beichtvater Staupitz hat ihn intensiv an die Mystiker herangeführt."
    Nikolaus Schneider, ehemaliger Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland:
    "Der mystische Zugang heißt, dass der Einzelne für sich selber einen emotionalen und rationalen Zugang zu Gott findet - der Einzelne. Und zwar durch sein ganzes Leben, deshalb eben keine Bußübungen: Abgehakt fertig! Sondern eine Umkehr des inwendigen Menschen, dass das ganze Leben neu wird aus der Beziehung des inwendigen Menschen zu Gott, dass an dem guten Baum dann auch gute Früchte wachsen. Aber der ganze Mensch muss sich ändern."
    Wie viel Luther der deutschen Mystik verdankt und inwieweit er auch in spätmittelalterlichen Denkgleisen stecken bleibt, diese These hat der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seinem aktuellen Buch mit dem Titel "Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln" zu belegen versucht.
    Mystik spielte eine große Rolle
    Auf jeden Fall verhelfen der Rückgriff auf Augustinus' Gnadenlehre und die Anknüpfungen an die Mystik Luther zu seinem reformatorischen Durchbruch, wie er ihn rückblickend als legendäres Turmerlebnis beschrieben hat. Übrigens wieder ein Ereignis, von dem die Forscher nach wie vor nicht wissen, in welchem Jahr es eigentlich stattgefunden haben soll.
    Luther jedenfalls erzählt, er habe im Turm des Klosters über eine Stelle im ersten Paulus-Brief an die Römer gegrübelt, wie Gottes Gerechtigkeit zu verstehen sei. Und dabei sei ihm folgendes aufgegangen: Die Gerechtigkeit Gottes kann keine urteilende und zumessende wie bei einem Richter sein, - da hätte der Mensch nie ein Chance, er mag noch so viele gute Taten, Bußübungen, Werke, vollbringen, Messen lesen lassen oder Ablassbriefe kaufen, - denn der Sünder sei, schreibt Luther, "ein krummer Hund, der in allen Dingen sich auf sich selbst biegt, und nur das Seine sucht". Mit anderen Worten: Selbst der asketische Mönch folge nur seinem Eigeninteresse, er verzichte auf irdische Vergnügen, um himmlische Freuden zu gewinnen. Doch auf diese Weise versuche er Gott in Dienst zu nehmen.
    Da sei Luther die erleuchtende Einsicht gekommen: Gottes Gerechtigkeit ist keine, die der Mensch sich durch Taten gewissermaßen sichern kann, Gottes Gerechtigkeit ist vielmehr allein eine Gnade, ein Geschenk, das dem Menschen im Glauben, allein im Glauben zu Teil wird.
    "Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,
    die Sünden zu vergeben.
    Es ist doch unser Tun umsonst
    auch in dem besten Leben." (Choral, von Luther)
    1517 lief eine große Ablasskampagne. Im Auftrag von Papst und Erzbischof war der Dominikaner Johannes Tetzel in den Diözesen Magdeburg und Halberstadt unterwegs. Er sollte Gelder eintreiben für den Bau des Petersdoms in Rom, - was bekannt war - aber auch für Erzbischof Albrecht, der damit seine Schulden beim Bankhaus der Fugger begleichen wollte – was nicht bekannt war, auch Luther nicht.
    Der Prediger Tetzel machte den Menschen buchstäblich die Hölle heiß, er malte die Qualen, die die Gläubigen im Fegefeuer erwarteten oder die ihre verstorbenen Angehörigen gerade durchlitten, in den grässlichsten Farben.
    Tetzel versprach den verängstigten Menschen im Gegenzug aber auch das Blaue vom Himmel: Wer seine Ablassbriefe kaufe, der sei – auch ohne Buße - seiner Sünden ledig, selbst wenn er die Jungfrau Maria geschwängert hätte.
    Luther lehnte Ablassbriefe aus verschiedenen Gründen ab
    Für Luther waren diese Heilsaktien nur der schlimmste Auswuchs jener mittelalterlichen Leistungsfrömmigkeit, der er sein neues Verständnis von Glaube und Gnadengerechtigkeit entgegenstellte.
    Die Ablasskampagne begegnete Luther aber nicht bloß theologisch, er bekam sie auch als Prediger in der Stadtkirche und als Beichtvater zu spüren, wo Gläubige mit einem solchen Papier zu ihm kamen und Lossprechung einforderten, ohne irgendein ein Zeichen von Reue oder Bereitschaft zur Buße. Luther war empört und reagierte – mit seinen 95 Thesen:
    • 1. These: Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sei.
    • 6. These: Der Papst kann keine Schuld vergeben als allein sofern, dass er erkläre und bestätige, was von Gott vergeben sei ...
    • 36. These: Ein jeder Christ, der wahre Reue und Leid hat über seine Sünden, der hat völlige Vergebung von Strafe und Schuld, die ihm auch ohne Ablassbrief gehört.
    • 86. These: Warum baut jetzt der Papst nicht lieber St. Peters Münster von seinem eigenen Gelde als von der armen Christen Gelde, weil doch sein Vermögen sich höher erstreckt, als des reichsten Crassus Güter?
    Luther hat seine 95 Ablassthesen auf Latein geschrieben – Latein, die Sprache der Gebildeten, verstanden lediglich wenige Gebildete in einer Zeit, wo schätzungsweise überhaupt nur zehn Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben konnten.
    Er hatte mit den Thesen zu einer akademisch-theologischen Diskussion eingeladen. Und außerdem hatte er sie als loyaler Diener der Kirche seinem obersten Dienstherrn Albrecht Erzbischof von Magdeburg geschickt. Dass dieser selber an der neuesten Ablasskampagne mitverdiente, wusste Luther mit Sicherheit nicht.
    Luther wollte Missbrauch anprangern, Weiterführendes hatte er nicht im Sinn, am allerwenigsten die Einheit der Kirche zu sprengen. Dass er implizit die Autorität des Papstes infrage stellte, darauf hat ihn erst ein Universitätskollege aus den Rechtswissenschaften hingewiesen. Kurzum: Luther gab den Anstoß zur Reformation, was er zu diesem Zeitpunkt weder wollte noch ahnte.
    Innerhalb weniger Tage war der Text ins Deutsche übertragen. Es ist die Sternstunde des Buchdrucks, der neuen revolutionären Technik, die Gutenberg ein halbes Jahrhundert zuvor erfunden hatte. An allen möglichen Orten werden Luthers Thesen gedruckt, verkauft und vertrieben. Wie im Fluge verbreitete sich seine Ablasskritik in deutschen Landen, im nächsten Jahr auch im Ausland. Es war, schreibt Waltraud Lewin in "Die Zeit" als hätte er eine Eiterbeule aufgestochen, - denn vor allem die kleinen Leute murrten schon lange darüber, wie ihnen für ihr Seelenheil der letzte Groschen abgepresst wurde.
    Der Historiker Heinz Schilling, bis zur Emeritierung Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt Universität, begreift den Ablassstreit als Dominoeffekt. Er setzte eine Dynamik in Gang, eine dramatische Verkettung von persönlichen und politischen Interessen und von Ereignissen, deren Ergebnis Reformation hieß.
    Luther ist in diesem Drama zwar eine Schlüsselfigur, aber er steht in einem Kontext von Handelnden an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. "Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs" heißt Schillings Luther-Biografie von 2012, die das Leben und Wirken des Reformators in ein großes Zeitpanorama rückt. Es ist eine Sicht, der sich auch die evangelische Seite heute anschließen kann.
    "Luther wird heute sehr viel stärker im Kontext einer Entwicklung betrachtet. Es ist nicht mehr der Blitz vom Himmel, der kam und die Zeit und die Verhältnisse aufmischte und alles neu machte. Er ist auch nicht mehr der Herkules Germanicus, der eben für das Deutschtum eintrat, sondern wir sehen Luther in vielfältiger Hinsicht im Kontext seiner Zeit. Und in den Umbrüchen seiner Zeit. Er ist mit einem Bein sozusagen im Mittelalter und mit dem anderen in der Neuzeit." (Nikolaus Schneider)
    1517, als die Entwicklung eskalierte, war Luther schon lange nicht mehr der einsame Augustinermönch, der in klösterlicher Einsamkeit lebte, in seiner Zelle über der Bibel brütete und mit Gott rang. Der Mönch hatte Karriere gemacht, war als Vikar in die regionale Ordensleitung aufgestiegen, lehrte Theologie an der neuen Wittenberger Universität und predigte in der Stadtkirche.
    Netzwerk half Luther
    Und er hatte inzwischen, so Heinz Schilling, ein ganzes Netzwerk von Freunden und Verbündeten in Wittenberg, im Orden, am Hofe und in ganz Deutschland. Staupitz, sein väterlicher Mentor bei den Augustinern, Philipp Melanchthon, der Mitreformator, ferner Spalatin, sein Freund und Fürsprecher am Hofe Friedrichs des Weisen, und schließlich den Maler Lukas Cranach, der Ältere, um nur einige zu nennen.
    Cranach war ja nicht nur ein großartiger Porträtist, seine Werkstatt lieferte mit ihren polemischen Holzschnitten gegen das Sündenbabel Rom die schärfste Bildpropaganda der Reformation.
    Luther pflegte Briefkontakte zu den Humanisten, unter anderem zu Erasmus von Rotterdam, mit dem er sich spät erst in der Diskussion über die Willensfreiheit entzweite.
    "Luther hatte ein Team hervorragender Leute: Die Reformation wäre nicht erfolgreich gewesen ohne das Duo Luther Melanchthon, ohne Bugenhagen oder ohne Spalatin. Bei seinen Auftritten, also seinen Disputationen etwa in Heidelberg war Bucer dabei, der nachher der Reformator der oberdeutschen Städte in Straßburg war. Und Brenz, das war der Reformator Württembergs, die waren dabei und so begeistert. Luther hat die Begriffe geliefert, die geholfen haben, das auf den Punkt zu bringen, was auch ihnen durch Kopf, Seele und Herz ging. Und das haben sie auch in ihren Territorien weitergetragen."
    Und wie reagierte Rom? - Erzbischof Albrecht hatte 1517 Luther in Rom als Ketzer angezeigt. 1518 verhörte ihn der päpstliche Gesandte Kardinal Cajetan in Augsburg, ohne das Luther widerrief. 1519 diskutierte er mit Johannes Eck in Leipzig. Eck, ein glänzender Theologe, trieb Luther in die Enge, zwang ihn, seine Positionen konsequent weiterzudenken. Luther erklärte, dass auch Konzilien irren könnten.
    Von Gegnern wie Eck zur Klärung und Schärfung seiner Ansichten herausgefordert und gleichsam vorangetrieben, veröffentlichte Luther 1520 die drei Hauptschriften der Reformation: "An den christlichen Adel deutscher Nation", "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" sowie "Von der Freiheit eines Christenmenschen".
    Nun hatte die Reformation ihr programmatisches Fundament. Nun war aber auch der Bruch zwischen Rom und Luther nicht mehr zu kitten. Auf diese Eskalation, diesen Prozess der Kirchenspaltung gibt es eine neue interessante Sicht.
    "Meine Perspektive ist die einer Interaktion, eines negativen Zusammenspiels."
    Der Historiker Volker Reinhard, Professor an der Universität Fribourg in der Schweiz:
    "Das, was man aus deutscher und häufig auch aus sehr national bestimmter Perspektive heraus Reformation nennt, ist ein komplexer Prozess, der im Wesentlichen von zwei Seiten ausgetragen wird. Es ist die Geschichte einer Ablehnung und Abstoßung, einer abbrechenden Kommunikation, des Sich-nicht-verstehen-Könnens. Aber wenn man Sich-nicht-verstehen-Können verstehen will, muss man beide Seiten einbeziehen. Das ist bei jeder Scheidung so im Zivilrecht. Die Wahrnehmung, die Werteordnung der römischen Seite ist bei der Analyse dieses komplexen Vorgangs meiner Ansicht nach bisher eklatant vernachlässigt worden."
    In seinem aktuellen Buch mit dem Titel "Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation" dreht Reinhard im Untertitel die erwartete Reihenfolge bewusst herum. Für seine Analyse dieser negativen Interaktion konnte er neues, bislang verschlossenes Archivmaterial des Vatikan heranziehen.
    So folgt man gespannt Reinhards Darstellung der Vorgänge auf dem Reichstag 1521 in Worms. Denn dort kommt es auf großer Bühne, vor dem Kaiser, den Fürsten und den Reichsständen zum Showdown zwischen Luther und Rom, vertreten durch den päpstlichen Gesandten Aleandro.
    "Aus der römischen Sicht darf Luther in Worms antreten, und das wollte man eigentlich um jeden Preis verhindern. Weil man Luther als einen großen Regisseur seines eigenen Auftritts, als einen begnadeten Selbstinszenierer erkannt zu haben glaubte, und so kommt es ja auch."
    Luther wird vom Kaiser nach Worms zitiert. Er weiß, dass ihm nach der Exkommunikation nun auch die Reichsacht droht. Und der Scheiterhaufen. Trotzdem wagt er sich dorthin. Auf dem Weg nach Worms erfährt er vielerorts große Zustimmung, erlebt begeisterte Menschen. Luther predigt.
    Luther riskierte Leib und Leben
    Allerdings geht Luther noch davon aus, dass er sich in Worms verteidigen, seine Lehre darlegen dürfte. Vor Ort erfährt er, dass er lediglich auf die Frage antworten dürfe, ob er widerrufe oder nicht. Luther gelingt es, sich aus dieser Falle zu befreien:
    "Also für die römische Seite ist das eine Eskalation von Katastrophen. Erst kommt er, dann darf er länger reden, als man es von römischer Seite will - auch das macht Luther sehr geschickt. Am ersten Tag erbittet er Bedenkzeit. Und er verbindet die Bitte um Bedenkzeit gleichzeitig mit einer Ermahnung an seine Richter: Um euer Seelenheil geht es mindestens so sehr wie um eins. Je nachdem, wie ihr über mich entscheidet, für mich oder gegen mich, werdet ihr Gott für euch oder gegen euch haben. Also erwägt das wohl, wie ihr euch verhaltet. Wenn ihr die falsche Entscheidung gegen mich trefft, dann werdet ihr eure Herrschaft und euer Heil."
    Reinhards Perspektive einer negativen Interaktion ist erhellend, rückt manches zurecht. Aber sie berücksichtigt zu wenig die Asymmetrie in diesem Geschehen. Papst und Kirche waren mächtig, wussten den Kaiser und viele Fürsten auf ihrer Seite. Zwar hatte auch Luther Verbündete, Sympathien auf dem Reichstag, aber in diesem Moment stand er allein und riskierte Leib und Leben.
    Luther blieb standhaft, widerrief nicht, auch wenn dabei die legendären Worte "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" in den Quellen nicht belegt sind:
    "Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen."
    "Ein feste Burg ist unser Gott,
    ein gute Wehr und Waffen.
    Er hilft uns frei aus aller Not,
    die uns jetzt hat betroffen." (Choral, von Luther)
    Ein Mensch auf sich allein gestellt, der dem allmächtigen Kaiser und den Gewaltigen seiner Zeit trotzt, allein Gott und seinem Gewissen folgt: Luther in Worms – hier wurde ein Mythos geboren, der bis heute nachwirkt. Rom hielt dagegen, pflegte und propagierte seine Sicht der Geschichte.
    "Die Art und Weise, wie beide Seiten dieses Ereignis verarbeiten und nutzen, ist seit Jahrzehnten vorgeprägt, gewissermaßen vorgefertigt: Luther präsentiert sich als Inbegriff des Deutschen mit all seinen löblichen Eigenschaften, auch mit seinen etwas altmodischen Qualitäten: Glaubenstreue, Wahrhaftigkeit, Mut zum Bekenntnis inklusive einer gewissen positiven Ungeschlachtheit, in der es an Finesse fehlt, die eben voller Aufrichtigkeit, voller Glaubenswahrheit ist. Das ist das positive Image, das Luther von sich selbst zeichnet." (Volker Reinhard)
    Rom stellt ein negatives Image dagegen:
    "Für Rom ist Luther der Inbegriff des nicht erziehbaren, nicht veredelbaren Barbaren, das sind Vorurteile, die den gesamten Prozess dieser Abspaltung und Ablehnung von vornherein vorbestimmten. Jede Seite weiß, bevor die Auseinandersetzungen beginnt, was sie von der anderen Seite zu halten hat."
    Wechselseitige Vorurteile führten zur Spaltung
    Volker Reinhard zufolge führten in erster Linie kultur- und mentalitätsgeschichtliche Unterschiede und wechselseitige Vorurteile zur Kirchenspaltung. Es handelt sich um Klischees, die bis in die Antike zurückreichen: Tacitus' Schilderung der Germanen auf der einen Seite und das Bild des dekadenten spätantiken Roms auf der anderen. Nun verkörpert nicht mehr der römische Kaiser, sondern der Papst Bosheit, Sittenverfall und nahen Weltuntergang.
    "Das Papsttum, also die jüngere letzte Reihe der Päpste, das ist der Antichrist, also das personifizierte Böse der Endzeit. Der Antichrist ist der perfide Nachäffer Christi, der das Weltenende einleitet. Er wird zwar am Ende überwunden werden, aber bevor er besiegt wird, ist er mächtig und verführt viele Menschen zur Hölle."
    Die fixe Idee von einem nahen Weltenende, die Angst vor dem jüngsten Gericht hat das Spätmittelalter geprägt. Auch Luther war davon beeinflusst.
    Volker Reinhard hält den theologischen Grund nicht für entscheidend, sondern das ideologische Interesse an Feindbildern, mit denen man die jeweils andere Seite wirksam diffamieren konnte. Durch diese ideologische Brille schaut Luther auf das Papsttum.
    "So nimmt er auch das Papsttum dieser Zeit wahr: Als sittenlos, ausschweifend, pervers, grausam, lügnerisch, giftmischerisch, das steigert sich zu Invektiven, die irgendwann nicht mehr getoppt werden können. Für die Öffentlichkeit wird das besonders effektvoll am Sexuellen festgemacht. Das bleibt 100 Jahre lang der Originalton der streitenden Konfessionen. Die Wahrheit des Glaubens wird an der eigenen Moralität, am eigenen Vorbildcharakter festgemacht. Die Gegenseite steht mit all ihrer Perversität für die Gegenwelt des Teufels. Also am Sexualverhalten kann man die Wahrheit der Religion erkennen. Das klingt vulgär, aber keiner der Reformatoren ist sich zu schade gewesen, dieses Argument zu benutzen und von römischer Seite hat man das auch verwendet."
    Luther überlebte, obwohl von Kaiser und Papst geächtet. Und die Reformation ging weiter. Aber hätte es den Buchdruck und die Öffentlichkeit nicht gegeben, hätte ihn nicht sein Landesherr geschützt, hätte er nicht Mitstreiter in ganz Deutschland gehabt, - Luther wäre genauso als Ketzer auf dem Scheiterhaufen geendet wie der tschechische Reformator Jan Hus ein Jahrhundert zuvor.
    Während die Reformation sich in Wittenberg und in anderen Städten schon etablierte, erhoben sich im Südwesten und in der Mitte Deutschlands die Bauern gegen die erdrückende Last an Abgaben und Frondiensten. Sie fühlten sich ermutigt durch Luthers Haltung und legitimiert durch seine Schriften. Für ihre Forderungen in den zwölf Artikeln der Bauernschaft zu Schwaben hatte er Verständnis, doch dann griffen sie zur Gewalt, beriefen sich dabei auf die Bibel.
    "Diese unmittelbare theologische Ableitung aus der Bibel, die hat er abgelehnt. Denn ein wesentlicher Punkt war für ihn die Zwei-Regimente-Lehre, dass Gott die Welt auf zwei Weisen regiert, einmal durch die Fürsten, durch die Obrigkeit und einmal durch die Kirche, das darf man nicht vermengen - und das Durcheinander, das Chaos, die Gewalt, das hat er rigoros abgelehnt. Da hat er fast eine Haltung vertreten: lieber eine schlechte Ordnung als gar keine Ordnung." (Nikolaus Schneider)
    Luther stellte sich nun auf die Seite der Fürsten, der sozialrevolutionäre Thomas Müntzer schmähte ihn einen Fürstenknecht. Aber Luther traf seine Entscheidung nicht einfach aus Opportunismus, weil die Fürsten ihn und seine Reformation schützten, sondern auch aus theologisch fundierter Überzeugung.
    Luther stachelte Fürsten zu einem Blutbad an
    Luther beließ es aber nicht bei der Ablehnung des Bauernaufstandes. Statt zu mäßigen, hetzte er gegen die Bauern und stachelte die Fürsten zu einem Blutbad an.
    "Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern. Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss." (Luther)
    Die Hetzreden gegen die Bauern gehören zu den Schattenseiten, zum dunklen Luther. Ein anderer Schandfleck waren seine späten Hasstiraden gegen die Juden. In seiner frühen Schrift "Dass Christus ein geborener Jude sei" aus dem Jahr 1523 hatte er noch um die Juden geworben und sich gegen jede Form von Gewaltmission ausgesprochen.
    "Da dachte er, wenn man es den Juden nur vernünftig erklärt, dann werden sie auch kommen. Nur die Reformation hat nicht vermocht, Juden und Jüdinnen in großer Zahl anzuziehen. Und dann hat er in der letzten Phase seines Lebens drei Schriften verfasst, die wirklich massiven Judenhass propagiert haben. Und es sticht hervor "Von den Juden und ihren Lügen" von 1543"
    "Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien. Ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören." (Luther)
    "Das hat mich sehr schockiert. Ich wusste natürlich, dass er Antisemit war. Aber ich habe nicht erwartet, dass er so direkt und widerlich und auch körperbezogen über Juden reden würde, das hat mich sehr schockiert."
    Die Lutherforscherin Lyndal Roper ist eine australische Historikerin, die in Oxford lehrt:
    "Man weiß von seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen", aber gleich danach hat er eine Schrift geschrieben, sie heißt "Vom Schem Hamphoras". Das bezieht sich auf eine Skulptur, die auf der Wittenberger Stadtkirche steht, ganz oben. Und sie steht heute noch da. Das ist eine Statue von einer Sau, und von Juden, die an dieser Sau saugen. Und ein Jude sieht dieser Sau in den Hintern. Es ist ein schreckliches Bildnis. Und das wird dann beschrieben in dieser Schrift. Es ist, als ob das Unbewusste von Luther spazieren geht plötzlich."
    Luther verfasste Hasspredigen
    War Luther ein Hassprediger? Für diese Spätphase seines Lebens trifft das zu, jedenfalls gegenüber den Juden, auch gegenüber den Türken, die 1529 Wien belagerten. Luthers Hass ist nicht antisemitisch, also rassebezogen, sondern antijudaistisch, religiös motiviert. Für die Juden, das auserwählte Volk das Alten Bundes, gebe es keinen Platz mehr, weil das auserwählte Volk des Neuen Bundes nun die Christen, genauer gesagt, die Protestanten seien.
    Und dann gibt es eine Verbindungslinie zwischen dem Antijudaismus Luthers und dem Antisemitismus der Nazis, die im 20. Jahrhundert ausgerechnet von evangelischer Seite gezogen wurde. Von Bischof Sasse.
    "Der nach der Reichspogromnacht diese Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" veröffentlicht hat, mit einem Kommentar versehen hat, und da stand drin: Hitler vollendet, was Luther angefangen hat. Da kann man sich nur schämen, zu Tode schämen. Die letzte EKD-Synode hat das auch sehr deutlich gemacht, von dieser Haltung und von diesen Schriften distanzieren wir uns explizit und entschuldigen uns auch für das, was daraus alles entstanden ist." (Nikolaus Schneider)
    Die dunklen Seiten Luthers werden heute nicht länger verdrängt, sondern reflektiert und aufgearbeitet, Luther gilt nicht mehr als reine Lichtgestalt. Was bedeutet ein differenziert gesehener Luther für die Gegenwart, für eine moderne pluralistische Gesellschaft, mit ihrer Trennung von Staat und Kirche, mit Religionsfreiheit und Toleranz, Prinzipien und Werte, die unabdingbar sind?
    "Also man kann durchaus in den Feuilletons und in Leserbriefen lesen, Luther stehe für Demokratie, für Liberalismus und für kulturelle Vielfalt."
    Wolfgang Thönissen, katholischer Theologe.
    "Gelinde gesagt hat, halte ich das für völlig überzogen. Warum? Weil Martin Luther selbst jemand ist, der mit beiden Beinen im Mittelalter stand. Natürlich ist die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, die erste und auch die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Epoche des Übergangs. Luther steht in diesem Übergang, aber viele andere stehen auch in diesem Übergang."
    Pluralität und Toleranz passten nicht zur Zeit
    "Pluralität und Toleranz", schreibt Heinz Schilling, "waren nicht die Kinder, sondern allenfalls die Urenkel der Reformation." Volker Reinhard formuliert es noch entschiedener:
    "Luther ist absolut intolerant gegenüber der kleinsten Abweichung in Sachen Bibeldeutung. Er sieht sich als von Gott gesandter Dolmetscher, nicht als Prophet, aber als Dolmetscher, der den wahren Sinn der Schrift freilegt. Wer davon abweicht, wird genauso verflucht und mit Verfolgung belegt wie von römischer Seite. Bei Calvin ist es genauso. Also Luther setzt ein Wahrheitsmonopol gegen das andere. Der Einzelne soll die Bibel in seiner Muttersprache lesen können, aber beileibe nicht eigenständig deuten können, das war nicht gemeint. Also Religionsfreiheit ist nicht vorgesehen."
    Luther, wie sein gesamtes Zeitalter, folgte der Idee einer einzigen universellen Wahrheit, die alle anderen Anschauungen ausschließt und als Irrlehren abweist. Jede Glaubensrichtung im beginnenden Konfessionszeitalter beanspruchte dieses Wahrheitsmonopol für sich. Die Rivalität der Konfessionen war deshalb von einem Existenzkampf geprägt – wir oder die anderen – der sich immer wieder gewalttätig entlud.
    Erst die Aufklärung entwickelte unsere moderne Vorstellung von Pluralität und Toleranz, dass nämlich verschiedene Anschauungen, religiöse Überzeugungen und Lebensweisen koexistieren und gleichberechtigt seien. Dass niemand ein Wahrheitsmonopol hat.
    Die christlichen Konfessionen haben Jahrhunderte gebraucht - mit der Katastrophe des 30-jährigen Krieges als Gipfel der Gewalt, bis sie im 20. Jahrhundert zu einem friedlichen Miteinander gefunden haben. Nordirland blieb eine Ausnahme. Finden sie aktuell auch zu einem versöhnlichen Verhältnis, was den Beginn der Spaltung, was die Reformation angeht? Sie streben jedenfalls danach.
    "Daher finde ich den Vorschlag der EKD völlig richtig, zu sagen: Lasst uns ein Christus-Fest machen. Denn das ist ja dasjenige, worum es Luther ging. Wir feiern also nicht den Held Luther, sondern wir feiern sein zentrales Anliegen. Und lassen ihn damit stark werden, lebendig werden und greifen sein wesentlichstes Anliegen auf, nämlich was in liebevoller Zuwendung Gottes in Christus uns entgegenkommt in einer Zeit, in der die Gnadenlosigkeit der Menschen miteinander wieder stärker wird, in dieser Zeit die Gnade Gottes gegenüber den Menschen stark zu machen. Sodass Menschen auch gnädig miteinander umgehen, das ist einer der wesentlichen Punkte." (Nikolaus Schneider)
    Wolfgang Thönissen von katholischer Seite setzt den Akzent ein wenig anders:
    "Die Spaltung der Kirche kann man nicht feiern. Das wollen auch evangelische Christen nicht. Deswegen haben wir uns gemeinsam darauf geeinigt, den Begriff des Feierns ein wenig zurückzustellen. Für uns ist das Gedenken im Mittelpunkt, die Erinnerungen an diese Spaltungsgeschichte, diese Erinnerung muss geheilt werden. Das ist ein gemeinsames Projekt der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, es ist ein gemeinsamer Text gemacht worden: Erinnerung heilen, Jesus Christus bezeugen. Es wird am ersten März 2017 in Hildesheim einen gemeinsamen Gedenkgottesdienst geben, in dem Buße und Schuldvergebung im Mittelpunkt stehen. Ich glaube, dass das wichtig ist, dass wir heute anders mit der Vergangenheit umgehen können, als wie wir es in der Vergangenheit getan haben."
    Und was wäre ein angemessenes zeitgenössisches Verständnis des Reformators? Was bedeutet Luther für die Menschen heute?
    In Wittenberg zeigt der Stadtführer Oliver Friedrich den Besuchern das Lutherhaus. Er führt sie auch zum Katharinenportal, noch aus der Zeit Luthers, mit der Kopfbüste des Reformators.
    "Ich habe immer wieder Touristen und Gäste, die glauben – wenn sie das Gesicht oder die Nase Martin Luthers berühren, dann bringt ihnen das womöglich Glück, deswegen wirkt die Nase und der Mund doch recht beschädigt. Luther war zwar gegen Reliquienkult. Die Ironie der Geschichte - heute haben wir eine Art Luther-Reliquienkult."
    Solchen Phänomenen zum Trotz ist Luther heute weitgehend entmythisiert. Er ist nicht mehr die Überfigur, weder im Guten noch im Schlechten. Die Forschung hat in ihren aktuellen Biografien den Facetten des Lutherbildes weitere hinzugefügt: Der Theologe Volker Leppin betont die mystischen Wurzeln Luthers, der Historiker Heinz Schilling stellt ihn in ein Jahrhundert des Umbruchs, eine Schlüsselfigur zwar, aber nur im Gegen-, Mit- und Nebeneinander vieler Kräfte.
    Volker Reinhard erzählt die Geschichte der Reformation anhand neuer vatikanischer Quellen als negative Interaktion, nicht nur zwischen Luther und Rom, sondern auch zwischen Italien und Deutschland. Und die Oxford-Historikerin Lyndal Roper öffnet mit ihrer Biografie einen psychohistorischen Zugang zum Menschen Martin Luther.
    Die katholischen Theologen haben den frommen Luther, den existenziellen Gottsucher für sich entdeckt. Auf protestantischer Seite hebt Nikolaus Schneider Luthers Gewissensmut hervor, den unsere moderne pluralistische Demokratie für ein friedliches Zusammenleben braucht. Der Staat müsse die Freiheit des Gewissens schützen, ein Gewissen, das aber auch Mut verlangt und den Einzelnen in die Verantwortung nimmt.
    "Das Gewissen sagt eben auch: Der Einzelne ist unvertretbar, das kann er nicht delegieren auf irgendjemanden, da kann man nicht nachher sagen: Der Trump ist schuld, der Hitler war schuld, oder wer auch immer. Ich bin unvertretbar, es kommt auf mich und mein Gewissen an. Das ist etwas, was sehr kulturprägend war und was auch für unsere Zeit sehr wichtig ist. Das muss auch immer wieder neu errungen werden, dass Menschen zu einer solchen Lebenshaltung fähig werden." (Nikolaus Schneider)