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52. Deutscher Historikertag
Mörderische Spaltungen in der Gesellschaft überwinden

In Bezug auf Rassismus gebe es eine untergründige Linie in der deutschen Gegenwartsgeschichte von 1945 bis heute, sagte der Historiker Norbert Frei im Dlf. Die Geschichtswissenschaft könne historische Erkenntnisse zur Verfügung stellen, um unproduktive gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden.

Norbert Frei im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    Der Historiker Norbert Frei spricht in der Paulskirche bei einem Festakt zum Gedenken des 50. Todestages des ehemaligen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer am 01.07.2018. Dieser hatte 1963 den Auschwitz-Prozess in Frankfurt initiiert.
    Die Gründerväter der Bundesrepublik und Rassismus in Deutschland nach 1945 sind die Themen des diesjährigen Historikertages (dpa / Frank Rumpenhorst)
    Anja Reinhardt: Wenn es, salopp formuliert, nach dem Philosophen Hegel ginge, dann zeigt die Geschichtswissenschaft vor allem, dass Völker nie aus ihr gelernt haben. Das mag ein etwas entmutigender Gedanke sein, wenn sich Wissenschaftler aus aller Welt zum Historikertag treffen, der in diesem Jahr in Münster stattfindet. Denn es geht ja zurzeit immer wieder um die Frage: Was und wie können wir aus der Geschichte lernen? Gerade, wenn es um den Umgang mit Rechtsradikalismus geht. Heute wurde bekannt, dass es seit 1990 doppelt so viele Todesopfer durch rechte Gewalt gab, als bislang offiziell angegeben - da stellt sich diese Frage umso dringender.
    Darüber wird sicher auch auf dem Historikertag gesprochen werden, der sich für die 52. Ausgabe die Überschrift "Gespaltene Gesellschaften" gegeben hat. Mit dem Historiker Norbert Frei, der sich intensiv mit der neueren deutschen Geschichte beschäftigt hat, habe ich über die Verantwortung von Historikern gesprochen, und darüber, was die historische Analyse für die Politik und die Gesellschaft konkret leisten können.
    Geschichte "ein fast unendlicher Speicher"
    Norbert Frei: Ja, sie kann in allen Fällen eigentlich und immer historisches Wissen zur Verfügung stellen und damit auch historische Erfahrungen, die Gesellschaften, die Staaten, die Nationen gemacht haben. Und man kann dann schauen, inwieweit diese historischen Erfahrungen, die zum Teil eben sehr, sehr gut, wenn man an die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert zum Beispiel denkt, erforscht sind, wie diese Erfahrungen dann doch vielleicht für die Gegenwart erkenntnisstiftend sein können.
    Ich will diesen zum Teil ja auch immer wieder kritisierten Begriff "aus der Geschichte lernen" gar nicht benutzen. Aber es ist doch völlig klar auf der anderen Seite, dass unser historisches Interesse, unser Interesse an der Geschichte immer auch aus der Gegenwart stammt, aus unserer Wahrnehmung der Gegenwart, und in diesem Sinne ist gewissermaßen die Geschichte und das, was die Geschichtswissenschaft über die Geschichte sagen kann, ein fast unendlicher Speicher, aus dem man sich bedienen kann, aber richtig bedienen muss.
    Reinhardt: Aber haben Historiker denn im Jahr 2018 eine größere Verantwortung als, sagen wir mal, im Jahr 2000, weil es ein Erstarken des Rechtspopulismus gibt, weil Europa auseinanderzubrechen droht und es noch viele andere Probleme gibt, wo man vielleicht sagen könnte, da lohnt sich der Blick in die Geschichte?
    Frei: Ja, da würde ich Ihnen sofort recht geben. Ich würde sofort sagen, dass die Situation gegenwärtig doch sehr bedrängend ist, dass vieles in der Gegenwart schiefzulaufen droht, dass Europa, gewissermaßen dieses grandiose Nachkriegsprojekt, das wir sicherlich im Jahre 2000 für einfach sich unendlich fortsetzend alle gehalten haben, dass das plötzlich in einer Situation ist, wo nichts mehr selbstverständlich ist, wo vieles passieren kann - denken Sie nur an den bis heute bevorstehenden Brexit. Es gibt ja auch dort jetzt neue Orientierungen und neue Erwägungen. Mit anderen Worten: Es ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren so vieles passiert, eigentlich beginnend mit dem Mauerfall, wo das Unwahrscheinliche Realität geworden ist, und in einer solchen Situation kann die Geschichtswissenschaft doch, glaube ich, Anhalt und Erkenntnis zur Verfügung stellen.
    Europa in "krisenhafter Situation"
    Reinhardt: Es war eben nicht das Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama gesagt hat.
    Frei: Ganz und gar nicht, in der Tat. Das war ja diese Losung, die man 1990/91 nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums glaubte, ausgeben zu können, die Vorstellung, dass jetzt der Kapitalismus und die westliche Demokratie die Modelle sind, die obsiegt haben und die sich gewissermaßen ad infinitum fortsetzen werden. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wir sind, gerade wenn wir nur auf Europa schauen, in einer besonders krisenhaften Situation, und allein schon die Zeitgeschichte seit 1945 ist doch etwas, was in diesem Sinne dann jetzt allen Anlass bietet, sich noch mal genau anzuschauen, mit welchen Motiven die Gründerväter dieses Nachkriegseuropas an die Sache gegangen sind, was ihre Überlegungen dahinter waren und wieviel davon vielleicht doch noch genauso relevant und noch genauso aktuell ist wie damals, oder wieder neu aktualisiert werden muss.
    Reinhardt: Sie beschäftigen sich ja in Ihrem Beitrag zum diesjährigen Historikertag genau mit den Gründervätern oder mit der Situation nach 1945 in Deutschland, und es geht in Ihrem Vortrag auch darum, wie sich der Rechtspopulismus unterschwellig immer weiter in der Geschichte Deutschlands weitergezogen hat. Was wurde denn da übersehen?
    Frei: Ja, in der Tat. Wir haben eine Sektion, die das Thema des Rassismus in Deutschland nach 1945 behandelt, und tatsächlich die Ausgangsfragestellung ist, wie ging es eigentlich nach dem 8. Mai 1945 weiter. Denn eines ist ja doch leicht vorstellbar, dass die Antisemiten und die Rassisten, die eben noch mit Hitler gemeinsame Sache gemacht haben und die eben noch dieses Regime mitgetragen haben, dass die nicht mit dem Kriegsende einfach verschwunden waren.
    Reinhardt: Und auch nicht mit der Entnazifizierung.
    Frei: Und auch nicht mit der Entnazifizierung. Aber auf der anderen Seite war diese Entnazifizierung eine wichtige Zäsur und die Frage ist dann trotzdem: Was gibt es eigentlich an mentalen, an Vorurteilskontinuitäten, die eben auch über dieses Jahr 1945 hinausweisen und die dann eben auch in der Geschichte der Bundesrepublik sicherlich minoritäre Positionen für lange Zeiten, aber doch immer wieder auch Aktualisierungen gefunden haben. Dem wollen wir im Einzelnen nachgehen, natürlich auch vor dem Hintergrund unserer aktuellen politischen Situation in Deutschland.
    "Den Begriff des Rassismus gescheut"
    Reinhardt: Aber man kann schon sagen, dass es da eine Linie gibt von 1945 bis heute?
    Frei: Ich würde sagen, es gibt eine untergründige, mal mehr, mal weniger dünne Linie, und es gibt in der Geschichte der alten Bundesrepublik natürlich schon das, was man damals Ausländerfeindlichkeit genannt hat. Da hat man lange Zeit den Begriff des Rassismus gescheut. Heute sind wir an diesem Punkt aufgrund der Tatsachen, denen wir ins Auge sehen müssen, nicht mehr so scheu, den Rassismus-Begriff auch wieder zu verwenden. Und dann müssen wir uns natürlich nur erinnern: Vor 25 Jahren, die furchtbare rassistische Gewaltkriminalität im Zuge der deutschen Einheit, also die vielen Mordanschläge, die es in den frühen 90er-Jahren gegeben hat. Und wenn Sie dann auch noch an die NSU denken, dann sehen Sie, es gibt immer wieder deutliche Zeichen dafür, dass diese Unterströme nicht weg gewesen sind. Aber wir haben uns eigentlich - das muss man sagen - vor dem Hintergrund, dass uns diese insgesamt ja doch Erfolgsgeschichte des Aufbaus einer Demokratie sehr stark interessiert hat, in der Zeitgeschichte vielleicht auf das zu stark konzentriert und etwas zu wenig auf diese Unterströmungen, auf diese schwarzen Linien der Geschichte geschaut.
    Reinhardt: Vor wenigen Wochen hat die SPD ihre historische Kommission aufgelöst. Was ist das für ein Symbol, wenn im Bundestag eine Partei sitzt, die den Nationalsozialismus als "Vogelschiss" bezeichnet?
    Frei: Ja, da muss man natürlich sagen: Das hat zunächst erst mal nichts mit der Auflösung der historischen Kommission der traditionsreichsten deutschen Partei, der Sozialdemokratie zu tun.
    Reinhardt: Aber es wirkt als Symbol nach außen.
    Frei: Ja! Sie haben vollkommen recht. Genau vor diesem Hintergrund war die SPD aus meiner Sicht doppelt schlecht beraten, einfach so zu tun, als interessiere sie die Geschichte, die eigene Geschichte, die Parteigeschichte, und aber auch die Geschichte der Bundesrepublik und Europas und darüber hinaus nicht mehr genügend, um dieser historischen Kommission ein Fortleben zu ermöglichen.
    Nun verstehe ich die Signale - und auch darüber wird ja hier auf dem Historikertag gesprochen werden. Ich verstehe die Signale so, dass es durchaus Überlegungen gibt, jetzt eine neue Form dafür zu finden. Ich hoffe das sehr. Ich glaube, das sollte angesichts auch der Tradition, die die SPD mit dieser historischen Kommission einstmals begründet hatte, nicht das letzte Wort bleiben.
    "Spaltung heute offenbarer als vor zehn Jahren"
    Reinhardt: Der Westfälische Friede, der in Osnabrück und Münster ausgehandelt wurde, der hat Europa ja doch näher zusammengebracht, das sich vorher bekriegt hat. Das ist natürlich schon eine Weile her. Aber wie wichtig ist dieses Ereignis, wenn man jetzt beobachtet, dass Europa auch als gespaltene Gesellschaft bezeichnet werden kann?
    Frei: Na ja. Es gibt in Europa, so würde ich es sagen, zahlreiche Gesellschaften, in denen die Spaltung heute offenbarer ist als, sagen wir, vor zehn Jahren. Nun hat der Bundestagspräsident zurecht darauf hingewiesen, dass man natürlich auch nicht so tun sollte, als interessierten uns homogene Gesellschaften - angesichts unserer modernen Welt ist das ja auch eine völlig irreführende Vorstellung -, als könne man homogene Gesellschaften wollen und haben. Diversität, Vielfalt, das ist ja das, was wir doch eigentlich als beglückend empfinden und was wir verteidigen müssen, und in diesem Sinne ist dieser Akzent auf gespaltenen Gesellschaften, etwa religiös gespaltenen Gesellschaften etwas, und dafür, für die Überwindung dieses Zustandes, steht dann am Ende auch der Westfälische Friede, was wir in der Geschichte vielfach finden und wo wir dann auch draufschauen können und vielleicht besser verstehen können, welche Möglichkeiten es gibt, diese tiefen, in diesem Sinne auch unproduktiven, ja mörderischen Spaltungen zu überwinden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.