Pendler hasten zur Metro oder zum Schnellzug Richtung Flughafen, Obdachlose schlurfen vorbei, Zugreisende mit großen Koffern warten auf den überdachten Gleisen. Der Weißrussische Bahnhof im Zentrum von Moskau ist einer der Hauptverkehrspunkte in der so hektischen russischen Hauptstadt.
Seit Jahrhunderten geht es von hier nach Westen: Städtenamen wie Berlin, Brest oder Budapest sind in orange leuchtenden, kyrillischen Buchstaben auf der digitalen Anzeigetafel zu lesen. Jeden Donnerstag taucht die Stadt Nizza in der Liste auf: Der Zug Nr. 17 fährt seit einem Jahr einmal wöchentlich von Moskau direkt an die Cote-Azur: Für die 3300 Kilometer durch sieben Länder braucht er 53 Stunden.
"Die Fahrt erscheint einem gar nicht lang. Denn wir fahren eine interessante Route – ganz Europa sieht man am Fenster vorbeifliegen. Die Hin- und Rückfahrt dauert sechs Tage, mir erscheint das wie zwei oder drei Tage. Und ich freue mich immer auf die nächste Fahrt. Wir Zugbegleiter mussten eine strenge Auswahl über uns ergehen lassen. Es ging um Professionalität und das Erscheinungsbild."
Sagt der 32 Jahre alte Maksim Kurbanow. Er steht am Eingang zum Waggon mit der Nummer 3. Sein dunkles Haar steckt unter einem Barrett, er trägt eine dunkelblaue Uniform. Er ist einer der Zugbegleiter, die an jedem Waggon stehen und auf die Reisenden warten. Ihre historisch anmutenden Uniformen sind kein Zufall: Der Zug soll an eine Tradition aus Zarenzeiten anknüpfen. Bis zum Ersten Weltkrieg fuhr die Zarenfamilie auf dieser Strecke an die Cote d'Azur.
Als der Zug um 17:52 Uhr Moskauer Zeit abfährt, steht Gissa Baste, ein Geschäftsmann aus der Baubranche, an einem der Fenster im Waggon Nummer 3. Er will nach Wien, wo der Zug ebenfalls Halt macht. Seine Frau konnte Gissa Baste nicht überzeugen, Zug zu fahren. Sie kommt nach mit dem Flugzeug. Für einen kleinen Streit hat das schon gesorgt, sagt er:
"Flugzeuge sind für Menschen, die immer zu spät dran sind. Das gilt für mich nicht. Ich mag es, zu fahren, mich dabei auszuruhen, nachzudenken. All das geht nicht, wenn man diese Strecke fliegt. Da fällt man von einer Handlung so schnell in die nächste. Und ein solch' komfortabler Zug erlaubt es, die lange Reise richtig zu genießen und dabei aus dem Fenster Europa anzuschauen."
Auf sein Prepaid-Handy hat Gissa Baste gerade noch umgerechnet 700 Euro geladen, um im Ausland erreichbar zu bleiben. Der Zug "Moskau-Nizza" richtet sich vor allem an Menschen mit Geld. Mindestens vier der Waggons sind auf jeder Fahrt für die Luxusklasse – dort fährt auch Gissa mit. Für umgerechnet 1200 Euro pro Person gibt es einen Platz im komfortablen Zweierabteile mit breitem Doppelbett, gemütlichen Federkissen, einem eigenen Badezimmer und einem DVD-Player.
So viel Komfort hat Zugchef Igor Golubujew nicht in seinem Abteil. Jeden Monat fährt er die Strecke Moskau-Nizza zweimal, jeweils hin und zurück. Nach zwei Wochen übernimmt der andere Zugchef das Kommando:
"Von Weißrussland geht es nach Polen, dann kommt kurz Tschechien, danach geht es eine lange Zeit durch Österreich und Italien. Russen finden es bequem, mit dem Zug ganz von Moskau nach Nizza zu fahren. Die meisten unserer Passagiere sind auch Russen, nur zehn Prozent Franzosen. Wir hoffen auf mehr ausländische Passagiere."
Bisher vergeblich: Der Zug ähnelt oft einem Geisterzug, gerade mal ein Drittel der Plätze ist ausgebucht, aber die russische Eisenbahn hält fest an der Strecke. Denn sie ist eine Art Symbol der Zugfahrtnation Russland: Kaum jemand fährt so gern – oder zumindest so oft und lang - Zug wie die Russen.
Im Vergleich mit dem Rest der Welt sind sie erst spät auf den Geschmack gekommen: Ende des 19. Jahrhunderts ließ Zar Alexander III. eine Eisenbahnstrecken gen Osten, durch Sibirien, bis an die chinesische und mongolische Grenze verlegen. Das war Grundlage für die Erschließung des fernen Ostens des Reiches.
Noch heute gilt die transsibirische Eisenbahn unter Reisenden weltweit als legendär. Und für die Russen ist sie nach wie vor ein notwendiges Transportmittel, um sich im größten Land der Erde zu erschwinglichen Preisen fortzubewegen.
Zu Sowjetzeiten ging es mit dem Zug zur Erholung ins Sanatorium – in die Bruderrepubliken Armenien, Georgien oder in die Ukraine. Auf das gewaltige Schienennetz aus Sowjetzeiten ist Zugchef Igor Golbujew auch 20 Jahre nach Zusammenbruch der UdSSR stolz:
"Von Moskau aus konnte man schon immer viele Länder per Zug erreichen. Wir waren eine zeitlang führend in ganz Europa im internationalen Zugverkehr. Seitdem haben sich vielleicht die Richtungen verändert, aber man konnte aus Moskau auch zu Sowjetzeiten immer sehr viele Länder erreichen und auch während der Perestroika und nun kommen eben immer neue Ziele hinzu."
Immer wieder taucht das Motiv der Eisenbahn in den Klassikern der russischen Literatur auf. Beim Fortschrittsskeptiker Lew Tolstoi vor allem im negativen Sinn:
"Die Eisenbahn verhält sich zum Reisen, wie das Bordell zur Liebe. Es ist schnell, aber unmenschlich und eintönig."
Seine tragische Heldin Anna Karenina wirft sich folgerichtig vor einen Zug. Flugzeuge hätte Tolstoi wohl aber noch mehr verabscheut. Schriftsteller Fjodor Dostojewski sah den Zug positiver: In der Anfangsszene seines Werkes "Der Idiot" lernen sich dort die beiden Helden kennen:
"In einem Waggon dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen."
Das Zugabteil als Kulisse für schicksalhafte Bekanntschaften, denen man bei ein paar Gläschen Wodka sein ganzes Leben erzählt auf tagelangen Reisen. Über diese Verheißung des Zugfahrens vergessen Russen gern schnarchende Nachbarn, Enge, stickige Luft oder spärlichste Waschmöglichkeiten.
Im komfortablen Moskau-Nizza-Zug allerdings bleiben die Fahrgäste lieber unter sich. So wie Alexander und Galina Suchanow, die sich zu ihrem Hochzeitstag ins Luxusabteil gebucht haben. Er ein hohes Tier in der Moskauer Tourismusbranche, sie eine Bowling-Profisportlerin. Gerade sitzen sie in Jogginganzügen im Speisewagen und trinken Weißwein:
"Die Fahrt gibt uns die Möglichkeit, einfach mal wieder Zeit zusammen zu verbringen – im alltäglichen Leben ist dafür doch viel zu wenig Zeit. Das ist nicht für uns, sondern für alle die Möglichkeit, sich mal wieder zu unterhalten, statt immer hin und her zu fliegen. Hier im Waggon kann ich mir die Menschen und die Welt drum herum anschauen. Manchmal muss man das Leben ein wenig stabilisieren."
Am Fenster rauscht gerade Polen vorbei. Das Ehepaar Suchanow und die anderen Reisenden haben wenig Schlaf bekommen: Denn um 3 Uhr nachts kamen - ganz nach Fahrplan - erst die weißrussischen, dann die polnischen Zollbeamte und Passkontrolleure.
Und so geht es weiter, im halbleeren Zug, durch Tschechien, Österreich, Italien bis nach 50 Stunden das Mittelmeer auftaucht, direkt vor dem Zugfenster. Bis Nizza sind es immer noch drei Stunden.
Seit Jahrhunderten geht es von hier nach Westen: Städtenamen wie Berlin, Brest oder Budapest sind in orange leuchtenden, kyrillischen Buchstaben auf der digitalen Anzeigetafel zu lesen. Jeden Donnerstag taucht die Stadt Nizza in der Liste auf: Der Zug Nr. 17 fährt seit einem Jahr einmal wöchentlich von Moskau direkt an die Cote-Azur: Für die 3300 Kilometer durch sieben Länder braucht er 53 Stunden.
"Die Fahrt erscheint einem gar nicht lang. Denn wir fahren eine interessante Route – ganz Europa sieht man am Fenster vorbeifliegen. Die Hin- und Rückfahrt dauert sechs Tage, mir erscheint das wie zwei oder drei Tage. Und ich freue mich immer auf die nächste Fahrt. Wir Zugbegleiter mussten eine strenge Auswahl über uns ergehen lassen. Es ging um Professionalität und das Erscheinungsbild."
Sagt der 32 Jahre alte Maksim Kurbanow. Er steht am Eingang zum Waggon mit der Nummer 3. Sein dunkles Haar steckt unter einem Barrett, er trägt eine dunkelblaue Uniform. Er ist einer der Zugbegleiter, die an jedem Waggon stehen und auf die Reisenden warten. Ihre historisch anmutenden Uniformen sind kein Zufall: Der Zug soll an eine Tradition aus Zarenzeiten anknüpfen. Bis zum Ersten Weltkrieg fuhr die Zarenfamilie auf dieser Strecke an die Cote d'Azur.
Als der Zug um 17:52 Uhr Moskauer Zeit abfährt, steht Gissa Baste, ein Geschäftsmann aus der Baubranche, an einem der Fenster im Waggon Nummer 3. Er will nach Wien, wo der Zug ebenfalls Halt macht. Seine Frau konnte Gissa Baste nicht überzeugen, Zug zu fahren. Sie kommt nach mit dem Flugzeug. Für einen kleinen Streit hat das schon gesorgt, sagt er:
"Flugzeuge sind für Menschen, die immer zu spät dran sind. Das gilt für mich nicht. Ich mag es, zu fahren, mich dabei auszuruhen, nachzudenken. All das geht nicht, wenn man diese Strecke fliegt. Da fällt man von einer Handlung so schnell in die nächste. Und ein solch' komfortabler Zug erlaubt es, die lange Reise richtig zu genießen und dabei aus dem Fenster Europa anzuschauen."
Auf sein Prepaid-Handy hat Gissa Baste gerade noch umgerechnet 700 Euro geladen, um im Ausland erreichbar zu bleiben. Der Zug "Moskau-Nizza" richtet sich vor allem an Menschen mit Geld. Mindestens vier der Waggons sind auf jeder Fahrt für die Luxusklasse – dort fährt auch Gissa mit. Für umgerechnet 1200 Euro pro Person gibt es einen Platz im komfortablen Zweierabteile mit breitem Doppelbett, gemütlichen Federkissen, einem eigenen Badezimmer und einem DVD-Player.
So viel Komfort hat Zugchef Igor Golubujew nicht in seinem Abteil. Jeden Monat fährt er die Strecke Moskau-Nizza zweimal, jeweils hin und zurück. Nach zwei Wochen übernimmt der andere Zugchef das Kommando:
"Von Weißrussland geht es nach Polen, dann kommt kurz Tschechien, danach geht es eine lange Zeit durch Österreich und Italien. Russen finden es bequem, mit dem Zug ganz von Moskau nach Nizza zu fahren. Die meisten unserer Passagiere sind auch Russen, nur zehn Prozent Franzosen. Wir hoffen auf mehr ausländische Passagiere."
Bisher vergeblich: Der Zug ähnelt oft einem Geisterzug, gerade mal ein Drittel der Plätze ist ausgebucht, aber die russische Eisenbahn hält fest an der Strecke. Denn sie ist eine Art Symbol der Zugfahrtnation Russland: Kaum jemand fährt so gern – oder zumindest so oft und lang - Zug wie die Russen.
Im Vergleich mit dem Rest der Welt sind sie erst spät auf den Geschmack gekommen: Ende des 19. Jahrhunderts ließ Zar Alexander III. eine Eisenbahnstrecken gen Osten, durch Sibirien, bis an die chinesische und mongolische Grenze verlegen. Das war Grundlage für die Erschließung des fernen Ostens des Reiches.
Noch heute gilt die transsibirische Eisenbahn unter Reisenden weltweit als legendär. Und für die Russen ist sie nach wie vor ein notwendiges Transportmittel, um sich im größten Land der Erde zu erschwinglichen Preisen fortzubewegen.
Zu Sowjetzeiten ging es mit dem Zug zur Erholung ins Sanatorium – in die Bruderrepubliken Armenien, Georgien oder in die Ukraine. Auf das gewaltige Schienennetz aus Sowjetzeiten ist Zugchef Igor Golbujew auch 20 Jahre nach Zusammenbruch der UdSSR stolz:
"Von Moskau aus konnte man schon immer viele Länder per Zug erreichen. Wir waren eine zeitlang führend in ganz Europa im internationalen Zugverkehr. Seitdem haben sich vielleicht die Richtungen verändert, aber man konnte aus Moskau auch zu Sowjetzeiten immer sehr viele Länder erreichen und auch während der Perestroika und nun kommen eben immer neue Ziele hinzu."
Immer wieder taucht das Motiv der Eisenbahn in den Klassikern der russischen Literatur auf. Beim Fortschrittsskeptiker Lew Tolstoi vor allem im negativen Sinn:
"Die Eisenbahn verhält sich zum Reisen, wie das Bordell zur Liebe. Es ist schnell, aber unmenschlich und eintönig."
Seine tragische Heldin Anna Karenina wirft sich folgerichtig vor einen Zug. Flugzeuge hätte Tolstoi wohl aber noch mehr verabscheut. Schriftsteller Fjodor Dostojewski sah den Zug positiver: In der Anfangsszene seines Werkes "Der Idiot" lernen sich dort die beiden Helden kennen:
"In einem Waggon dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen."
Das Zugabteil als Kulisse für schicksalhafte Bekanntschaften, denen man bei ein paar Gläschen Wodka sein ganzes Leben erzählt auf tagelangen Reisen. Über diese Verheißung des Zugfahrens vergessen Russen gern schnarchende Nachbarn, Enge, stickige Luft oder spärlichste Waschmöglichkeiten.
Im komfortablen Moskau-Nizza-Zug allerdings bleiben die Fahrgäste lieber unter sich. So wie Alexander und Galina Suchanow, die sich zu ihrem Hochzeitstag ins Luxusabteil gebucht haben. Er ein hohes Tier in der Moskauer Tourismusbranche, sie eine Bowling-Profisportlerin. Gerade sitzen sie in Jogginganzügen im Speisewagen und trinken Weißwein:
"Die Fahrt gibt uns die Möglichkeit, einfach mal wieder Zeit zusammen zu verbringen – im alltäglichen Leben ist dafür doch viel zu wenig Zeit. Das ist nicht für uns, sondern für alle die Möglichkeit, sich mal wieder zu unterhalten, statt immer hin und her zu fliegen. Hier im Waggon kann ich mir die Menschen und die Welt drum herum anschauen. Manchmal muss man das Leben ein wenig stabilisieren."
Am Fenster rauscht gerade Polen vorbei. Das Ehepaar Suchanow und die anderen Reisenden haben wenig Schlaf bekommen: Denn um 3 Uhr nachts kamen - ganz nach Fahrplan - erst die weißrussischen, dann die polnischen Zollbeamte und Passkontrolleure.
Und so geht es weiter, im halbleeren Zug, durch Tschechien, Österreich, Italien bis nach 50 Stunden das Mittelmeer auftaucht, direkt vor dem Zugfenster. Bis Nizza sind es immer noch drei Stunden.