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55 Stimmen für die Demokratie (Teil 4)
Wie funktioniert Rückeroberung missbrauchter Sprache, wie sinnvolle Protestkultur?

Drei neue Stimmen denken im Rahmen des Projektes „55 Voices for Democracy“ über die Verbindung von Demokratie, Wohlstand und sozialen Fragen nach. Wie kann missbrauchte Sprache rückerobert werden, wie funktioniert wirksame Protestkultur, kann die Gesellschaft sich auf sinnvolle politische Debatten verständigen?

Von Stephanie Metzger |
Das restaurierte Thomas Mann Haus in Los Angeles.
Das restaurierte Thomas Mann House in Los Angeles (dpa/picture-allicane/rebuild.ing GmbH/H2S Architekten)
Der Soziologe Helmut Anheier hält in seinem Vortrag im Widerspruch zu Ralf Dahrendorf (1929 - 2009) fest an einer möglichen Verbindung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, politischer Teilhabe und einer globalisierten Wirtschaft. Die Journalistin Melissa Chan und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchten die Rolle von Journalismus und Medien für eine demokratische Diskussionskultur.
Eine Grafik zur Veranstaltungsreihe "55 Voices for Democracy" zeigt eine Schwarzweiß-Aufnahme von Literaturnobelpreis-Träger Thomas Mann um 1940 mit Manuskript vor historischem Mikrofon bei der Aufnahme einer seiner BBC-Radio-Ansprachen  "Deutsche Hörer!" 
Zur Übersicht zum Projekt "55 Voices for Democracy" (Thomas Mann House Los Angeles)
Das Projekt „55 Voices for Democracy“ des Thomas Mann House in Los Angeles regt an, über die gegenwärtige Lage der Demokratie nachzudenken. Gleichzeitig erinnert es an die 55 BBC-Radioansprachen, in denen sich Thomas Mann während der Kriegsjahre an Hörer in Deutschland, der Schweiz, Schweden, den besetzen Niederlanden und Tschechien wandte. Medienpartner sind der Deutschlandfunk und die "Süddeutsche Zeitung". Insgesamt sind bislang 13 Vorträge veröffentlicht worden.

Mehr aus der Reihe "55 Stimmen für die Demokratie"


Helmut K. Anheier, geboren 1954, ist deutsch-amerikanischer Professor der Soziologie und ehemaliger Präsident der Hertie School in Berlin. Bis September 2019 war er gleichzeitig ein Lehrstuhlinhaber am Max Weber Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Anheiers Forschungsschwerpunkte sind Zivilgesellschaft, soziale Innovationen, Organisationstheorie, Governance und Policy-Forschung und sozialwissenschaftliche Methoden und Indikatoren.
Melissa Chan, geboren 1980 in Hongkong, amerikanische Rundfunkjournalistin, die derzeit DW News Asia im Fernsehen der Deutschen Welle präsentiert. Sie studierte an der Yale University, der London School of Economics and Political Science und an der Stanford University. Ihre Beiträge wurden u.a. im Guardian, der Washington Post, VICE News, POLITICO und Foreign Policy veröffentlicht. Sie arbeitete für Al Jazeera America und ABC News. Bevor sie zur Deutschen Welle wechselte, war sie Transatlantic Fellow der Robert Bosch Stiftung in Berlin.
Bernhard Pörksen, geboren 1969, studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg und absolvierte auf Einladung von Ivan Illich Forschungsaufenthalte an der Pennsylvania State University. Promotionsthema war „Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch in neonazistischen Medien“. Nach akademischen Tätigkeiten an der Universität Greifswald und an der Universität Hamburg vertrat er den Lehrstuhl für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wurde 2007 für Kommunikations- und Medienwissenschaft habilitiert. 2008 erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, wo er Gründungsbeauftragter und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienwissenschaft wurde.

O-Ton Thomas Mann BBC Rede
Als Thomas Mann im Oktober 1940 seine erste Rede an die Deutschen in der BBC über den Äther schickte, nutzte er ein Massenmedium, um seine Adressaten zu erreichen. Gegen die Pervertierung der Sprache, gegen eine Propaganda, wie sie die Nationalsozialisten über ihre medialen Kanäle schickten, setzte er seine Aufrufe zum Widerstand, zum Festhalten an Humanität und zur Selbstbefreiung der Deutschen vom NS Regime. Überzeugt von dem Grundsatz, dass die Demokratie, würde sie verteidigt, würde für sie gekämpft, gewinnen werde. Überzeugt auch von der Kraft der Sprache und der Wirkung von Medien, die diesen Kampf für die Demokratie stützen können.
Engagement für die Demokratie als Arbeit mit Sprache und den Medien... Es ist diese Perspektive, die in zwei neuen Reden der Reihe "55 Voices for Democracy" besonders explizit benannt wird. Seit Herbst 2019 produziert das Thomas Mann House in Los Angeles in Analogie zu Thomas Manns 55 Reden an die Deutschen Stimmen zur Demokratie: Videoreden internationaler Intellektueller, gehalten auf Englisch und dann online gestellt.
Sowohl für die Journalistin Melissa Chan als für den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist das Engagement für Demokratie verbunden mit der Frage danach, wie wir sprechen, wie Medien Wirklichkeit prägen, wie Begriffe – und die mit ihnen implizierten Ideale – zur Realität im Verhältnis stehen. Man könnte auch sagen: wie Theorie und Empirie im Verhältnis zueinander stehen. Was die Brücke bildet zur dritten Rede der Reihe, die wir heute in Auszügen präsentieren; die Rede des Soziologen Helmut Anheier.
Wie eine Szene aus einem dystopischen Roadmovie wirkt der Beginn der Rede von Bernhard Pörksen. Mit dem amerikanischen Politiker und Klimaschützer Jerry Brown fährt er im Geländewagen durch trockene, von Tieren verlassene Weidelandschaft in Nordkalifornien: direkte Konfrontation mit den Verwüstungen durch den Klimawandel. Irgendwann stellt Brown eine Frage: "Können Hypes und News Zivilisation begründen?" Für den Medienwissenschaftler Pörksen, der an der Universität in Tübingen lehrt und aktuell Fellow des Thomas Mann Hauses in LA ist, kein überraschender Gedanke. Seit Jahren analysiert Pörksen den Medienwandel im digitalen Zeitalter, beobachtet Dynamiken im Netz: Stichwort "Die große Gereiztheit", so der Titel seines Bestsellers – und blickt auf Inszenierungsstile in Politik und Medien. Auf Jerry Browns Frage weiß er dementsprechend recht entschieden zu antworten:
"In Jerry Browns unschuldig klingender Frage, ob man auf der Grundlage von News und Hypes eine Zivilisation erschaffen könne, stecken zwei Thesen mit Sprengkraft. Zum einen: Das Neue, das Interessante und medial gerade Dominante ist nicht notwendig das tatsächlich Relevante. Hat ein Politiker mal eben im Flugzeug seine Maske abgesetzt und so gegen die Corona-Auflagen verstoßen? Hat er, konfrontiert mit Leid und Unglück, gelacht und gibt es ein Foto? Sorgt ein Berufsprovokateur mit dem nächsten Hass-Tweet für Aufsehen? Meldet sich Donald Trump mit seinen Lügen zurück? Schon folgt Stellungnahme auf Stellungnahme. Und es entsteht im Zusammenspiel sozialer und redaktioneller Medien der Hype, orientiert an einzelnen Personen (und nicht an Prozessen), fasziniert von Charakterfragen und privater Moral (und nicht von Ideologien und Programmen). Das Problem besteht darin, dass Aufmerksamkeit unvermeidlich knapp ist und sich nur einmal investieren lässt. Wer gebannt hinschaut, der kann in dieser Zeit über nichts anderes nachdenken. Was im Ergebnis bedeutet: Je dominanter die Pseudo-News und je größer die allgemeine Aufregung über Scheinthemen, desto massiver die Blockade einigermaßen sinnvoller Debatten. Man existiert dann, zumindest für ein paar Tage oder Wochen, gedanklich in einer Sphäre des weißen Rauschens, eingehüllt in eine Wolke aus Nichtigkeiten. Nichts von all dem bleibt. Nichts davon hat für die Zukunft elementar Bedeutung. Und nichts davon ist wirklich handlungsrelevant.
Jerry Browns Frage besitzt jedoch noch eine zweite, grundsätzlichere Dimension. Denn die öffentliche Aufmerksamkeit steckt im Angesicht der drohenden Gegenwartskrisen in der falschen Zeitsphäre fest, so denke ich seit dieser Tour über die von der Hitze und der Sonne verbrannte Farm und im Angesicht der Bilder der Flutkatastrophe, die aus Deutschland stammen. Wir reagieren im Modus der Kurzfristigkeit auf Gefahren, die den Modus der Langfristigkeit erfordern. Der amerikanische Ökologe und Autor Stewart Brand hat ein kleines, elegantes Denkmodell entwickelt, das hilft, diesen Gedanken zu präzisieren. Er unterscheidet unterschiedliche Zeitsphären und Geschwindigkeiten der Zivilisation. Veränderungen in der Natur und der Evolution im Tierreich vollziehen sich äußerst langsam, im Rhythmus der Jahrhunderte und Jahrtausende. Auch der kulturelle Wandel benötigt viel Zeit. In der Politik ist – idealerweise – ein mittleres Tempo bestimmend, das sich der Echtzeit-Hektik verweigert. Der Handel reagiert hingegen schnell, und die Welt der Mode schließlich ist maximal flüchtig, stimmungsgetrieben, bloß saisonal, bestimmt vom plötzlich aufschäumenden Hype. Die grundsätzliche Schwierigkeit, so Stewart Brand, besteht darin, dass der Mensch im Anthropozän seine Umwelt immer massiver und auf Jahrhunderte und Jahrtausende hinaus verändert, aber das menschliche Denken von einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne regiert wird, das diese Veränderungen in ihrer zeitlichen Tiefendimension nicht erfasst. Und sie eben deshalb auch nicht debattierbar und adressierbar macht. – Hier bräuchte es andere Zeithorizonte, langfristige Planung, die streitbare, von Inhalten bestimmte Polarisierung. Und einen Abschied von der Fetischisierung des zeitlich Neuen, aktuell Aufregenden, spektakulär Konflikthaften.
Kurzum: Der Kult der Kurzfristigkeit wirkt toxisch. Denn er lässt politisches Handeln zum überhitzten Reaktionsgeschäft schrumpfen, legt die konzeptionelle Fantasie an die Kette und bedingt ein Syndrom, das die Soziologin Elise Boulding als ‚temporale Erschöpfung‘ bezeichnet hat. ‚Wenn man geistig immer atemlos ist‘, so schrieb sie bereits 1978, ‚weil man sich ständig um die Gegenwart kümmert, bleibt einem keine Kraft mehr, sich die Zukunft vorzustellen.‘"
Das massive Missverhältnis zwischen atemloser Kurzfristigkeit und nötigen langfristigen Denkhorizonten: Bernhard Pörksen bleibt bei seiner Beschreibung der medialen Dynamiken unserer Gegenwart in seiner Rede nicht bei einer Diagnose stehen. Gründe sieht er im allzu menschlichen Reflex zur Verdrängung und in der immer raffinierteren Bedienung unserer Sehnsüchte und Wünsche durch Algorithmen. Aber auch im Agieren gezielter Desinformationsprofis, die aus Desorientierung längst ein Geschäftsmodell gemacht haben. Nicht zuletzt deshalb kann der Weg aus dem Kult der Kurzfristigkeit auch kein rein individueller sein, sagt Pörksen. Gegen die systematische Ausbeutung menschlicher Aufmerksamkeit wünscht er sich etwa einen anderen Journalismus. Und richtet zuletzt dann doch einen Appell an jeden Einzelnen:
"Was also tun? Wie das langfristige Denken fördern, um den existenziellen Krisen der Gegenwart Gehör und Gewicht zu verschaffen? Ich hätte gerne ein paar schnelle Antworten und ein paar Fertigrezepte, wirklich. Aber diese gibt es nicht. Stewart Brand arbeitet zusammen mit anderen an dem Bau einer riesenhaften Uhr, die, eingesenkt in einen Berg in Texas, 10.000 Jahre schlagen und als Kultstätte der tiefen Zeit ein anderes, langfristigeres Denken anstoßen soll. Jerry Brown attackiert noch als 83-jähriger in Interviews und Stellungnahmen die Schwächung politischer Vorstellungskraft durch Nonsensthemen, er wählt also das Werkzeug der Kritik. Und gewiss braucht es lange schon, so denke ich, eine Art planetarischen Journalismus, der aus der Adlerperspektive Entwicklungen sortiert, ein Denken in der langen Linie vorführt, Nachhaltigkeit als Nachrichtenfaktor begreift und effiziente Formen des Krisenmanagements analysiert und gegenüber einer kurzatmig gewordenen Politik mit Wucht einklagt. All das ist wichtig, gewiss.
Aber was könnte jeder Einzelne tun, jetzt und sofort? Hier hat Jenny Odell einen Vorschlag, den sie in ihrem Buch ‚Nichts tun‘ entfaltet. Dieser Vorschlag lautet schlicht: sich selbst für einige Zeit ins Abseits begeben, abschalten, die Fixierung auf das Spektakel des Moments unterbrechen. Aber nicht (und das ist entscheidend) mit dem Ziel der persönlichen Seelenpflege, sondern als ein Akt der Selbstbehauptung und des Widerstandes, als intellektuelle Unabhängigkeitserklärung. Es gilt, die ureigene gedankliche Spur freizulegen, stets auf der Suche nach neuen Bündnissen und der richtigen Mischung aus Kontemplation und Partizipation, Erkenntnis und Engagement. Und tatsächlich: Diese Freiheit des Rückzugs auf dem Weg zur umso entschiedeneren Einmischung ist nicht verloren. Der Rückzug wird schwieriger, das schon. Aber er bleibt möglich. Denn jeder Mensch ist ‚Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreiches’, wie es der Schriftsteller David Foster Wallace einmal gesagt hat. Und das heißt: Man kann den Blick abwenden, die Aufmerksamkeitskannibalen und die Provokateure des Tages ignorieren, um sich dann in einer von Krisen geschüttelten Zeit einer einzigen, tatsächlich dramatischen Frage zuzuwenden: Was ist wirklich wichtig?"
Kult der Kurzfristigkeit, planetarischer Journalismus und das Nichts-Tun als Widerstand: Auszüge aus Bernhard Pörksens Rede zur Reihe "55 Voices for Democracy" waren das.
Journalistisches Arbeiten, das bedeutet immer auch: mit Menschen in Kontakt kommen, das Verhältnis von Idealen und Wirklichkeit überprüfen, im Reden und Schreiben aber auch an diese Ideale erinnern. Zum Beispiel an das, was mit Demokratie eigentlich gemeint ist. Darum geht es Melissa Chan in ihrer Rede über die Demokratie. Die chinesisch-amerikanische Journalistin, die für die Deutsche Welle arbeitet und deren Texte unter anderem in "The Guardian" und "The Washington Post" erscheinen, blickt zu Beginn ihrer Rede besorgt darauf, dass weltweit das Vertrauen in die Demokratie erodiere. Studien zeigen, dass gerade die jüngere Generation, zu der sich Chan zählt, mit dem Begriff "Demokratie" nichts Wertvolles oder Schützenswertes mehr verbindet. In Amerika genauso wie in Europa. Ein so idealer wie fataler Nährboden für die Ausbreitung von Autokratien:
"Als Journalistin habe ich aus Autokratien berichtet, aus China, Russland und sogar Nordkorea. Und ich habe untersucht, wie sich das Autoritäre weltweit schleichend ausbreitet. Nur wenige Autokratien sehen heute aus wie in Nordkorea. Der Autoritarismus des 21. Jahrhunderts zeigt sich anders als der des vergangenen. So schimmern etwa Chinas moderne Metropolen mit Wolkenkratzern und dem gleichen Überfluss und der gleichen Effizienz, die man in einer wohlhabenden Demokratie findet. Der heutige Autoritarismus gleicht nicht mehr der DDR und der Stasi. Spitzel braucht man ohnehin nicht mehr, wenn es Mobiltelefone gibt.
Wenn Demokratien und Autokratien oberflächlich nicht mehr auseinanderzuhalten sind, verleitet das Menschen zu der Annahme, dass es keinen großen Unterschied gibt. Universelle Werte werden zu westlichen Werten umetikettiert. So behauptet etwa China, dass Demokratie praktisch kolonialistisch sei. Und natürlich stürzt sich jeder Autokrat auf die Chance, die Heucheleien der Demokratie zu entlarven, für die es – das gebe ich zu – reichlich historische Belege gibt.
Aber man darf sich von böswilligen Argumenten nicht ablenken lassen. Heuchelei muss Demokratie nicht entwerten und sollte sie auch nicht. Unvollkommene, sündige Philosophen schreiben über Tugend und wankelmütige Dichter von ewiger Liebe. Sollten wir Prinzipien aufgeben, weil einige ihrer Vertreter das Ideal nicht erfüllen? Für mich ist das zu nihilistisch.
Philosophin Judith Shklar hat treffend formuliert: ‚Es ist einfacher, mit dem Charakter eines Widersachers abzurechnen, indem man ihm Heuchelei vorhält, als die Fehlerhaftigkeit seiner politischen Überzeugungen nachzuweisen.‘"
Sachlich argumentieren, an Idealen festhalten, gegen mediale Ablenkungsstrategien kämpfen: Ganz im Sinne von Bernhard Pörksens Anmahnung eines nachhaltigen Journalismus, hat auch Melissa Chan eine Mission. Als Journalistin sieht sie ihre Aufgabe darin "gestohlene Worte", so sagte einst Thomas Mann, zurückzuerobern. Sie den rechten Demagogen oder Hassrednern im Netz zu entreißen und trotz Repressionen in autokratischen Ländern zu verteidigen. Eben auch den Begriff der Demokratie. Ihn legt sie in ihrer Rede so existenziell – als menschliches Grundbedürfnis nämlich – wie bodenständig aus:
"Ich möchte aus eigener Erfahrung berichten. Fünf Jahre lang habe ich hunderte Beiträge aus China verfasst. Ich reiste und ich sprach mit zahllosen Menschen. Die Umstände, unter denen unsere Wege sich kreuzten, bedeuteten meist, dass etwas Bedauernswertes geschehen war. Manchmal ging es um Bauern, deren Land illegal von korrupten Bauunternehmern konfisziert wurde, die mit der Lokalregierung unter einer Decke steckten. Andernorts gab es Familien aus der Mittelschicht, die in Probleme geraten waren und feststellen mussten, dass sie keinen Schutz hatten, weil es keine unabhängige Justiz gab. Und manchmal ging es um ethnische Minderheiten, wie Tibeter und Uiguren, die von kollektiver existenzieller Vernichtung bedroht waren. In vielen Fällen sagten die Betroffenen, ‚ich will einfach nur gerecht behandelt werden. Was mir – was uns – widerfahren ist, war nicht richtig.‘
Diese Menschen haben nicht das Wort Demokratie verwendet. Sie sprachen nicht von universellen Werten oder Rechtsstaatlichkeit. Dies war nicht ihr Vokabular. Aber die menschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung ist grundlegend.
Wir sollten uns diese Worte zu eigen machen und sie feiern. Lassen Sie uns den Menschen erklären, dass es nicht nur ums Wählen geht – es geht um die Chance, Fehler zu berichtigen. Und es geht nicht nur um die wichtigen Kämpfe für soziale Gerechtigkeit, die für diejenigen so abstrakt erscheinen, die nicht betroffen sind und die sich auf ihr tagtägliches Leben konzentrieren. In einem demokratischen System geht es auch um ganz banale Dinge. Um eine geschäftliche Auseinandersetzung, in der man eine Person oder ein Unternehmen verklagen kann, im Wissen, vor Gericht unvoreingenommen gehört zu werden. Um Eltern, die mitbestimmen möchten, was das staatliche Bildungssystem ihren Kindern beibringt. Und um die Einsicht, dass guten Menschen überall Schlechtes widerfährt, aber dass man in einer offenen Gesellschaft die Mittel hat, sich zu wehren, wenn es sein muss.
Diese Einsicht ist nicht einfach.
Und doch, wenn ich mir die globale Lage ansehe, dann ermutigen mich die prodemokratischen Protestbewegungen vielerorts – von Venezuela über Thailand und Myanmar bis Hong Kong. Die Menschen, die auf die Straße gehen, sind oft jung. Sie geben mir Hoffnung, dass Demokratie vielleicht noch nicht ganz und gar zum Schimpfwort geworden ist. Und doch werde ich auch von einer anderen Wahrheit eingeholt – dass es, trotz wochenlanger Proteste, keiner dieser Bewegungen gelang, ihre Autokraten zu stürzen. Dann denke ich an den weiten Bogen der Menschheitsgeschichte, unsere Historie, die meist aus Monarchien, Imperien und Despoten bestand. Demokratie ist hier nur ein winziger Ausschnitt, und wenn er fortbestehen soll, bleibt keine Zeit für Bequemlichkeit. Jede Generation muss für sie kämpfen."
Demokratie ist ein zu fragiles Gebilde, um sie für selbstverständlich zu halten... Wir müssen für sie kämpfen. So der Appell der Journalistin Melissa Chan bei "55 Voices for Democracy". Vom basalen Bedürfnis des Menschen nach Freiheit, Gerechtigkeit und politischer Wirksamkeit, an das erinnert werden muss, zu Gedankengebäuden der Geisteswissenschaft. Um aber auch aus ihnen einen deutlichen Anspruch an das basale Geschäft der Politik abzuleiten. In seiner Rede zur Reihe "55 Voices for Democracy" setzt sich der Soziologe Helmut Anheier mit der Frage auseinander, ob unsere Wünsche nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, politischer Teilhabe und wirtschaftlichem Wachstum überhaupt vereinbar seien. In der Soziologie gibt es namhafte Zweifler genau daran. Helmut Anheier, der an der Hertie School in Berlin und an der University of California in Los Angeles lehrt, lässt sich nach einem Blick auf deren Theorien aber nicht entmutigen, setzt ihnen vielmehr empirische Forschung entgegen. Auf Bequemlichkeit läuft dies aber auch bei ihm nicht hinaus:
"Auf dem Höhepunkt des Globalisierungsschubs der 1990er Jahre, in jener kurzen Ära des Optimismus nach dem Kalten Krieg, stellte der Soziologe Ralf Dahrendorf (1995) eine Frage, die viele überraschte. Zu einer Zeit, als die Autokratie überwunden schien, als die Probleme geteilter Gesellschaften und die Übel der Globalisierung noch nicht offensichtlich waren, fragte Dahrendorf: Leben wir tatsächlich in der besten aller Welten? Seine Antwort war ein ‚Nein‘, oder genauer gesagt: ‚Vielleicht schon, aber nicht mehr lange‘, und er argumentierte weiter, dass eine wachsende und sich integrierende Weltwirtschaft früher oder später ‚perverse Entscheidungen‘ für liberale Demokratien mit sich bringen werde. Um wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten sie im Laufe der Zeit entweder Maßnahmen ergreifen, die dem Zusammenhalt der Zivilgesellschaft abträglich seien, oder bürgerliche Freiheiten und politische Beteiligung einschränken. Für die liberalen Demokratien, so schloss er, bestehe die Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts darin, ‚die Quadratur des Kreises zwischen Wirtschaftswachstum, sozialem Zusammenhalt und politischer Freiheit zu schaffen‘. Diese Herausforderung wurde als ‚Dahrendorf-Quandary‘, also ‚Dahrendorf-Dilemma‘, bekannt.
Über ein Jahrzehnt später, etwa zur Zeit der globalen Finanzkrise, kam Dani Rodrik von der Universität Harvard zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Er argumentierte, dass liberale Demokratien mit offenen Volkswirtschaften mit einem Trilemma konfrontiert sind: ‚Demokratie, nationale Souveränität und globale wirtschaftliche Integration sind miteinander unvereinbar: Wir können zwei von den dreien kombinieren, aber niemals alle drei gleichzeitig und in vollem Umfang haben.‘
Sowohl Dahrendorf als auch Rodrik wiesen auf eine grundlegende Herausforderung der liberalen Marktwirtschaften hin: die Unvereinbarkeit der zugrundeliegenden ‚Triebkräfte‘, die Komplexität der sich daraus ergebenden Prozesse und ihre Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen in Bezug auf wirtschaftliche Ungleichheiten und Chancen auf soziale Mobilität. Die wirtschaftlichen Triebkräfte der Globalisierung, die sich zunehmend von nationalen Prozessen und Kontrollen abkoppeln, untergraben den Nationalstaat und damit die nationale Souveränität. Im Gegenzug leidet auch die Demokratie durch den Verlust der Legitimität der amtierenden Regierungen und den Aufstieg illoyaler und halbloyaler politischer Oppositionsgruppen, die das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen weiter untergraben.
Diese Spannungen bergen schwerwiegende Gefahren, sei es identitätsbasierter Populismus, wie Rodrik nahelegt, oder, wie Dahrendorf es ausdrückte, die wachsenden autoritären Versuchungen geteilter Gesellschaften. Dahrendorf zeigte sich insbesondere besorgt darüber, dass Länder versucht sein könnten, sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit anzustreben, indem sie politische Freiheit opfern. Angesichts von Ländern wie Ungarn oder Polen, ganz zu schweigen von Russland und der Türkei, die immer autoritärer werden, aber dennoch eine offene Wirtschaftspolitik verfolgen, scheint es, dass sich einige von Dahrendorfs Befürchtungen bewahrheiten könnten."
Ein oberflächlicher Blick auf die Weltlage könnte der Theorie also Recht geben, sagt Helmut Anheier in seiner Rede zur Demokratie. Weist im Anschluss aber darauf hin, dass für diesen Eindruck eigentlich empirische Nachweise fehlen, also ein tiefergehender Blick nötig sei. Deshalb hat er in seinen Forschungen Länder der OECD, die Marktwirtschaften mit mittlerem bis hohem Einkommen sind, in ihrer Entwicklung von Anfang der 1990er Jahre bis Mitte der 2010er Jahre untersucht. Von einem Dilemma oder Trilemma in Hinblick auf Demokratie, Sozialpolitik und Wirtschaftswachstum könne man auf der Grundlage dieser Studien nicht sprechen:
"Wir haben festgestellt, dass die Leistung der Länder zu unterschiedlich ausfällt, um die allgemeinen Behauptungen von Rodrik und Dahrendorf in ihren jeweiligen Schriften zu stützen. So gibt es neben der kleinen Gruppe von fünf Ländern, auf die entweder das Trilemma oder die Zwickmühle zutrifft, doppelt so viele Länder, denen es im Allgemeinen gelungen ist, in Bezug auf die wirtschaftliche Globalisierung, die liberale Demokratie und den sozialen Zusammenhalt ein moderates Wachstum zu erzielen und dabei einige der Spannungen zu vermeiden, die mit dem Quandary oder dem Erreichen der Trilemma-Bedingungen einhergehen. Für eine noch größere Gruppe von Ländern deuten die Indizien darauf hin, dass eine wachsende wirtschaftliche Globalisierung koexistieren kann, ohne die Gesellschaft auseinanderzureißen und die Demokratie zu gefährden.
Was bedeuten diese Ergebnisse für das Quandary und das Trilemma? Das aggregierte Muster für die untersuchten OECD-Länder deutet auf ein ausgeprägtes Wachstum der Globalisierung, ein moderates Wachstum des sozialen Zusammenhalts und eine Stabilität der Demokratie über einen Zeitraum von 25 Jahren hin. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Triebkräfte über längere Zeiträume in geringerem bis moderatem Maße wachsen können, so dass der Aufbau von Spannungen vermieden werden kann: Wirtschaftliche Globalisierung, sozialer Zusammenhalt und Zivilgesellschaft sowie Demokratie und Nationalstaat können alle gleichzeitig wachsen – aber nicht in vollem Umfang.
Obwohl unsere Ergebnisse nicht so drastisch ausfallen wie Dahrendorfs Warnungen, sollten wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine Schwächung sowohl der liberalen Demokratie als auch des sozialen Zusammenhalts länger dauern und zeitlich verzögerte Auswirkungen zeigen könnte, als wir bisher untersuchen konnten. Zum Beispiel befanden sich die mittel- und osteuropäischen Länder während eines Großteils der 1990er Jahre in einer tiefgreifenden Übergangsphase, die mehr mit den Veränderungen zu tun hatte, die sich aus den vier Jahrzehnten des Kommunismus ergaben, als mit der Globalisierung. Ende der 2010er Jahre, nachdem ein gewisses Maß an sozialer und politischer Stabilität erlangt wurde, könnten die Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung auf die innenpolitischen und sozialen Spannungen vermutlich direkter spürbar werden, wie zum Beispiel in Polen und Ungarn.
Was kann also getan werden, um die Aushöhlung der politischen Freiheiten im Namen des Wirtschaftswachstums zu stoppen? Auch hier sind die Worte von Dahrendorf aufschlussreich. In seinem Aufsatz von 1995 sagt er: ‚Die Zivilgesellschaft braucht Partizipationsmöglichkeiten, die durch Arbeit und einen angemessenen Mindestlebensstandard gegeben sind. Sobald diese für eine wachsende Zahl von Menschen verloren gehen, geht die Zivilgesellschaft mit ihnen unter‘. Viele Gesellschaften riskieren genau dies.
Die Ergebnisse sind jedoch auch insofern ermutigend, als sie auf eine einfache Botschaft hinweisen: Die Globalisierung kann gesteuert werden, und die negativen Folgen offener Märkte für die lokale Bevölkerung können durch eine vorausschauende Politik ausgeglichen werden, die regionale Ungleichgewichte, die Dequalifizierung der Arbeitskräfte oder soziale Ausgrenzung verhindert. Die Regierungen müssen intelligente Puffer zwischen der offenen Welt der Wirtschaftsmärkte und den gefährdeten Bevölkerungsgruppen schaffen. Dafür ist es entscheidend, dass wir die soziale Mobilität wiederbeleben, weit verbreitete Ungleichheiten abbauen und aufhören, das Soziale getrennt vom Wirtschaftlichen zu betrachten. Um es mit den Worten des Ökonomen Dennis Snower zu sagen: Wir müssen Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder miteinander verbinden. Die Zukunft der liberalen Demokratie kann sehr wohl abhängen von unserer Bereitschaft und unserem Erfolg dabei, genau das zu tun."
Die Quadratur des Kreises sollten wir uns weiter vornehmen, denn so unmöglich ist sie nicht, sagt Helmut Anheier. Zusammen mit Melissa Chan und Bernhard Pörksen eine neue Stimme in der Reihe "55 Voices for Democracy". Mit Appellen zur Konzentration darauf, was wirklich wichtig ist, zur Rückeroberung gestohlener Worte und zur Verteidigung der Verbindung von Sozialem und Wirtschaftlichem.