Die Sendereihe "Stimmen für die Demokratie" von Stephanie Metzger knüpft an die 55 BBC-Radioansprachen an, in denen sich Thomas Mann während der Kriegsjahre an Hörerinnen und Hörer in Deutschland, der Schweiz, Schweden, den besetzten Niederlanden und Tschechien wandte. Von 1940 bis November 1945 appellierte er daran, sich dem nationalsozialistischen Regime zu widersetzen, und wurde so zur bedeutendsten deutschen Stimme im Exil.
Sein ehemaliges Wohnhaus in Pacific Palisades, errichtet während seines kalifornischen Exils im Jahr 1942, war zehn Jahre Ort künstlerischen Schaffens und intellektuellen Austauschs unter Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen. Im November 2016 erwarb das Auswärtige Amt das Haus für die Bundesrepublik Deutschland und will diese Tradition wiederbeleben. Die Reihe wird präsentiert vom Thomas Mann House in Kooperation mit Deutschlandfunk, "Los Angeles Review of Books" und "Süddeutscher Zeitung".
(Teil 2 am 23.2.2020)
Essay zum Projekt "55 Voices for Democracy" von Stephanie Metzger
Die Welt ist in Aufruhr, titelte die "Süddeutsche Zeitung" einen Artikel im Dezember des vergangenen Jahres. 2019, ein Jahr des Aufstands und der Revolte. Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich, Proteste gegen das Regime im Iran, Studierende kämpfen für freie Wahlen in Hongkong, Fridays for Future-Bewegung auf der ganzen Welt. Nie habe es seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein Jahrzehnt mit mehr Protesten gegeben, zitieren die Autoren des Artikels die Protestforscherin Sirianne Dahlum. Dabei sei es weniger der Widerstand gegen Diktaturen, als das Aufbegehren gegen das Scheitern von Demokratien, das die Menschen auf die Straße treibe. Weil Werte wie Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde bedroht sind und Autokraten Land gewinnen. Doch die Bedrohung provoziert den Widerstand einer neuen, digitalen Protestkultur, die das Smartphone nutzt, aber keine ideologischen Anführer mehr braucht. Und doch agieren die Protestierenden, als folgten sie der Stimme jenes Mannes, der vor 60 Jahren zum Widerstand gegen das Dritte Reich und zum Kampf für Demokratie aufrief – damals in einem anderen Massenmedium mit zuvor ungekannter Reichweite, dem Radio nämlich. Dort erklang eine gewichtige, warnende Stimme, aber doch...
O-Ton Thomas Mann: "... die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme, die Stimme eines Deutschland, das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als die scheußliche Medusenmaske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat. Es ist eine warnende, – euch zu warnen ist der einzige Dienst, den ein Deutscher wie ich euch heute erweisen kann."
Im Herbst 1940 trat die BBC mit dem Wunsch an Thomas Mann heran, über ihre Radiokanäle kurze Reden an die Deutschen zu senden. Der Schriftsteller, der im amerikanischen Exil lebte,nahm das Angebot an. Agitatorisch und anklagend, apokalyptisch raunend, aber auch schlichtweg aufklärend bildeten die Reden eine Art Gegenpropaganda zur nationalsozialistischen Ideologie. Thomas Mann erwies sich auch hier als "Wanderreder der Demokratie", wie der Autor sich selbst einmal bezeichnete. Dabei war die Demokratie bei Mann mehr eine Geisteshaltung, als eine klar definierte Staatsform. Ein gedankliches Konzept, das permanent im Wandel begriffen und immer wieder neu gegen Unterwanderung oder Angriffe zu verteidigen war, eine soziale und wehrhafte Demokratie.
Intellektuelle in den Fußstapfen von Thomas Mann
"55 Voices for Democracy" heißt denn auch das Projekt, welches das Thomas Mann House im kalifornischen Pacific Palisades im Herbst 2019 gestartet hat. Die Initiatoren setzen auf die Idee der Radioansprachen wie die von Thomas Mann, nur zeitgemäßer, vielstimmiger und digital. 55 internationale Denkerinnen und Denker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler sprechen in regelmäßigen Abständen auf Englisch und für ein weltweites Publikum über die politische Gegenwart. Die Videos der Reden werden zum großen Teil im Thomas Mann Haus aufgenommen, das 2016 von der Bundesregierung gekauft und 2018 als interdisziplinärer Begegnungsort eröffnet wurde. Sie werden auf YouTube publiziert, zudem in der "Süddeutschen Zeitung" abgedruckt und bilden nicht zuletzt den Kern dieser Sendereihe. Fertiggestellt sind Mitte Februar 2020 bereits vier Videos mit Francis Fukuyama, Timothy Snyder, Ananya Roy und Jan Philipp Reemtsma.
O-Ton Francis Fukuyama: "I am very delighted to be asked to participade in this 55 voices series in honor of Thomas Mann and to be in Thomas Mann’s House in Pacific Palisides."
Strenge Bildanordnung, weiche Schatten, seröses Schwarz-Weiß: Francis Fukuyama sitzt am Schreibtisch im einstigen Arbeitszimmer von Thomas Mann und bedankt sich. Hinter ihm die Bände der Goethe-Ausgabe aus dem Besitz des Autors. Fukuyama, Senior Fellow am Institute for International Studies und Professor der Politikwissenschaft an der Universität Stanford hatte 1989 das Ende der Geschichte ausgerufen und damit so etwas wie den Siegeszug der liberalen Demokratie in der politischen Entwicklung der Menschheit proklamiert. Nun spricht er über die Krise der Demokratie!
Es gab immer ein Fragezeichen hinter dem Ende der Geschichte
Die einen mag das überraschen. Scheint diese Feststellung doch der Aussage zu widersprechen, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 habe der Lauf der Geschichte sein Ziel erreicht und die Demokratie sich als einzig überlebensfähige und beste Staatsform durchgesetzt. Eine Einschätzung, die schon damals als fortschrittsgläubig, allzu teleologisch, ja, geradezu naiv kritisiert wurde. Andere dagegen, freilich auch Fukuyama selbst, werden in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Krisenerscheinungen eher eine Verfeinerung der ursprünglichen These sehen. Schon in seinem letzten Buch mit dem Titel "Identität" wies Fukuyama auf die Kontinuität seines Denkens vom "Ende der Geschichte" hin. Diesem habe nie das Fragezeichen hinter dem "Ende" gefehlt. Auch nicht ausgespart geblieben sei damals die in liberalen Demokratien fortdauernde Spannung zwischen dem Wunsch des Menschen nach egalitärer Anerkennung – der Isothymia – und einem exklusiven Anerkennungsdrang des Menschen, der Megalothymia. Beide können in marktwirtschaftlich orientierten, freiheitlichen Demokratien annähernd befriedigt, nie aber zum Ausgleich gebracht werden, so Fukuyama. Aber gerade jenes Verlangen, in seiner Identität anerkannt zu werden, sei der Grund für viele aktuelle Krisenerscheinungen. Darunter rechnet Fukuyama den aggressiven Nationalismus, den religiösen Fundamentalismus oder den Aufstieg der Autokraten. Dementsprechend beschreibt Fukuyama in der fünfminütigen Auftaktrede für die "55 Voices for Democracy" eine Welt, in der das Ringen um die Demokratie noch keinesfalls beendet ist. All dem stellt er die Hoffnung entgegen, die er mit aktuellen Kämpfern und Kämpferinnen für Demokratie verbindet, deren Namen er unbedingt nennen möchte. Er versteht sie als Nachfahren des politisch engagierten Exilanten Thomas Mann:
"Etliche Personen, die unsere Programme in Stanford absolviert haben, sind wie Mann in der Lage, sich diesen Regimen nur von außen zu widersetzen, und müssen versuchen, aus der Distanz mit ihren Mitbürgern zu sprechen. Ich möchte einige von ihnen beim Namen nennen, weil sie reale Menschen sind und ihr Ringen dem von Thomas Mann, wie ich finde, stark ähnelt. Nancy Okail hatte zur Zeit des Arabischen Frühlings für das National Democratic Institute in Ägypten gearbeitet. Sie wurde inhaftiert, schließlich freigelassen und ging nach Washington, um das Tahrir Institute for Middle East Policy zu gründen und um gegen die Diktatur von General as-Sisi Stellung zu beziehen. Saeid Golkar musste aus seinem Heimatland Iran fliehen; er arbeitet seitdem als Hochschullehrer und schreibt über die Iranische Revolutionsgarde sowie die Freiwilligenmiliz Basidsch-e Mostazafin, die militärischen Pfeiler des dortigen Regimes. David Smolansky war als führendes Mitglied der oppositionellen Volkspartei Bürgermeister in Venezuela gewesen und weilt nun nach einer beschwerlichen Flucht über die brasilianische Grenze in Washington. Und schließlich Audry Lee, eine chinesische Journalistin, für die es unsicher geworden ist, nach China zurückzugehen."
Fukuyama nennt viele weitere Aktivisten und Aktivistinnen aus aller Welt, und fährt dann fort:
"Sie alle treten in Thomas Manns Fußstapfen. Die Tatsache, dass diese Menschen und viele andere wie sie sich nicht ungefährdet in ihren Geburtsländern bewegen können, weist auf die Verschiebungen in der globalen Politik hin, die sich unglücklicherweise in den letzten Jahren ereignet haben. Die Konsolidierung autoritärer Regime wie der Chinas, Russlands oder Saudi-Arabiens hat dazu geführt, dass sie selbstbewusst geworden sind und versuchen, ihren Einfluss nach außen zu projizieren. (…)
Und wir erleben den Aufschwung des Populismus. So können wir den Durchbruch von Politikern in etablierten Demokratien beobachten – beginnend mit zwei der gefestigsten, den Vereinigten Staaten und Großbritannien –, die ihr Volksmandat nutzen, um die Normen einer echten liberalen Demokratie zu untergraben. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte und des Journalismus sind Säulen dessen, was eine wahrhaft demokratische Gesellschaft ausmacht. (…)
Fukuyama: Demokratische Kräfte allerorten unter Druck
Wir erleiden eine Krise der globalen Demokratie, in der die Kräfte, die sich für eine offene und tolerante Gesellschaft einsetzen, unter enormem Druck stehen und sich im Rückzug befinden. (…)
Meiner Meinung nach kann das Beispiel Thomas Manns all den Menschen als Inspiration dienen, die derzeit in ähnliche Kämpfe verwickelt sind wie er in den 1940er-Jahren. Es ist wichtig zu erkennen, dass es am Ende dieses Prozesses Hoffnung gibt, dass die Bürger nicht unter tyrannischen Regimen leben wollen, sondern sich die Freiheit wünschen zu denken, zu schreiben und zu handeln. (…) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."
Francis Fukuyama richtet seinen Blick auf das Globale, Seine Thesen sind so grundsätzlich wie bei Thomas Mann, der allerdings, anders als Fukuyama, die Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, prinzipiell alle deutschen Hörer und Hörerinnen direkt ansprach:
O-Ton Thomas Mann: "Die Welt braucht Frieden (…) und darum kann sie den Nationalsozialismus (…) nicht brauchen. Koste es, was es wolle, an Zeit und Opfern, – die Erde muss von ihm befreit, die Menschheit von ihm erlöst werden. Die dafür kämpfen, haben nicht die Gebärde des finsteren Fanatismus, die Deutschland von seinen Herren, diesen blutigen Komödianten, hat erlernen müssen. Lasst euch davon nicht täuschen! Befürchtet nichts, oder schöpft keine falschen Hoffnungen (…)"
Wie Thomas Mann 1945, so setzt auch Francis Fukuyama sein Vertrauen in die Oppositionellen unserer Zeit. Ihre Stimmen bilden einen hoffnungsvollen Chor, aus dem heraus die Stimmen der Intellektuellen im Projekt "55 Voices for Democracy" wie Solisten erklingen. Einzelstimmen, die auch in Streit oder Widerspruch geraten können und darin gerade pluralistische Vielstimmigkeit vorführen.
Die gesamte Rede von Francis Fukuyama hier in Text und Video
Das Entwerfen einer Zukunft ist verloren gegangen
So ist es der Historiker Timothy Snyder, der ein zentrales Problem unserer politischen Gegenwart in den Folgen von Fukuyamas These vom Ende der Geschichte ausmacht. Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University in New Haven, Connecticut. Bekannt wurde er mit den Büchern "Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann" und "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin". Snyder führt in seiner folgenden Rede aus: Der Gedanke, dass die Geschichte an ihr Ende gekommen sei, habe ein Gefühl von Unvermeidbarkeit und Alternativlosigkeit befördert. Ein Gefühl, das uns in eine absolute Gegenwart bugsiert hat, in der wir weder zurück noch nach vorne blicken. Verlorengegangen ist so ein Kernmoment von Demokratie: Das Entwerfen einer Zukunft:
"Wo ist die Zukunft nur hin? Haben Sie bemerkt, dass die Zukunft verschwunden ist?
Ich denke, das ist das Auffallendste heute in der Politik, ob wir nun über die USA, Europa oder große Teile der restlichen Welt sprechen: Es gibt keine Zukunft mehr. Dabei ist es in den vergangenen paar Jahrhunderten seit der Französischen Revolution in der demokratischen Politik gerade um die Zukunft gegangen. Wir sind als Gesellschaften sehr gut darin gewesen, verschiedene konkurrierende Versionen der Zukunft zu entwerfen. Und in der Folge ist es der Demokratie darum gegangen, zu entscheiden, welche dieser Zukunftsversionen eintreten sollen. Wenn wir keine Vorstellung mehr von der Zukunft haben, wenn wir nicht mehr mannigfaltige Ideen davon haben, was noch kommen könnte und welche dieser Zukunftsversionen besser ist, dann ist es für die Menschen sehr schwierig, sich involviert zu fühlen. Dann ist es sehr hart für die Menschen zu begreifen, warum sie überhaupt wählen gehen sollen. In diesem Sinne braucht die Demokratie die Zukunft.
Aber interessanterweise besteht noch eine tiefere Verbindung zwischen der Demokratie und der Zukunft. Die Demokratie erschafft die Zukunft auch. Denn wenn wir glauben, dass unsere Stimme zählt, wenn wir glauben, dass unsere politische Partizipation zählt, wenn wir glauben, dass selbst die kleinen Dinge, die wir tun, etwas bewirken, dann erschaffen wir die Zukunft – in unseren Köpfen und sogar in Politik und Gesellschaft. Also gibt es eine Wechselwirkung zwischen der Demokratie und unserer Vorstellung von der Zukunft. Ich möchte Ihnen heute den folgenden Vorschlag machen: Wenn wir unsere Demokratie wiederhaben wollen, wenn wir wollen, dass sie funktioniert, dann müssen wir beginnen, nachzudenken: über die Zukunft, über unseren Weg in die Zukunft und darüber, wie wir die Zukunft wieder zurück in die Politik bringen.
Snyder: Das Problem hat 1989 begonnen
Wo und wann hat der ganze Ärger angefangen? Ich glaube, der Ärger hat nicht erst mit all den verschiedenen Diktatoren und Autokraten von heute begonnen. Das Problem hat vor ungefähr einer Generation begonnen, im Jahr 1989. Es hat mit der Vorstellung begonnen, dass die Geschichte beendet sei und dass es keine Alternativen mehr gebe. Ich nenne diese Weltsicht die 'Politik der Unvermeidlichkeit'. Es ist die Vorstellung, dass nur noch ein geschichtlicher Ausgang möglich sei. Dieser geschichtliche Ausgang sei gutzuheißen und trete automatisch ein. Diese 'Politik der Unvermeidlichkeit' sagt: Es gibt gute Dinge in der Welt und die werden geradezu mechanisch und automatisch dafür sorgen, dass es zu weiteren guten Entwicklungen kommt. Zum Beispiel: 'Kapitalismus ist gut. Er wird automatisch mehr Demokratie mit sich bringen!' Oder: 'Technologie ist gut. Sie wird uns automatisch zu aufgeklärteren Menschen machen.' Dieses Narrativ stammt aus den 1990er-Jahren, vielleicht noch aus den 2000er-Jahren. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, dass (…) die Demokratie einfach unvermeidlich ist. Die Verfechter dieser Weltsicht hielten sich selbst für Realisten. (…) Das Eigenartige an dieser Form von Realismus ist, dass er die Realität komplett beiseite lässt.
Die 'Politik der Unvermeidlichkeit' ist krachend gescheitert. (…) Ganz klar glauben die Menschen nicht mehr daran, dass Demokratie unvermeidlich ist. (…) Es hat sich das Gefühl eingestellt, dass sich Argumente gegen die Demokratie anbringen lassen und dass damit Wahlen gewonnen werden können. All das passiert gerade.
Diese Art von Zeitlosigkeit nenne ich die 'Politik der Ewigkeit'. Das ist dieser tote Punkt, an dem wir uns befinden, an dem niemand mehr wirklich über die Zukunft sprechen kann, an dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen, an dem wir die ganze Zeit gefangen sind in einer Gegenwart des 'Wir gegen die'. Wir sind überhaupt erst zu dieser 'Politik der Ewigkeit' gelangt, weil die 'Politik der Unvermeidlichkeit' falsch ist.
Der Kapitalismus befördert nicht automatisch die Demokratie
Die 'Politik der Unvermeidlichkeit' sagt, der Kapitalismus sei gut. Der Kapitalismus sei sogar gut für viele Dinge. Aber wenn wir ihn sich selbst überlassen, erhalten wir nur die dramatische gesellschaftliche Ungleichheit, die wir in den USA und Großbritannien haben. Und das macht die Menschen unzufrieden und lässt sie in einer Weise bei Wahlen abstimmen, die uns vielleicht nicht gerade gefällt. Wenn wir glauben, die Technologie mache uns automatisch zu aufgeklärten Menschen, dann erkennen wir nicht, dass uns das Internet faktisch meist nur auf unserer Gefühlsebene anspricht und sich unsere Gefühle zunutze macht und dass der Aufstieg des Internets unglücklicherweise einen Niedergang an Menschlichkeit und Intelligenz mit sich bringt.
Und wenn Sie das noch nicht bemerkt haben: Das wirft unglücklicherweise einige Fragen auf. Am Wesentlichsten scheint mir, dass die 'Politik der Unvermeidlichkeit' vielleicht zu einer Art Schock führt. Wir haben irgendwann gemerkt, dass die 'Politik der Unvermeidlichkeit' einfach nicht wahr ist. Und dann werden wir anfällig für jene Politiker, die sagen: 'Schaut her, natürlich gibt es keinen Fortschritt. Natürlich gibt es keine Zukunft. Es geht alles nur um die Frage: Wir oder die.' Alles dreht sich dann darum, wieder eine Vergangenheit herzustellen, in der wir immer unschuldig und die anderen immer schuldig gewesen sind. Und diese Form von Politik beherrscht im Augenblick die ganze Welt."
Die Diagnose von Timothy Snyder ist bis zur Mitte seiner Rede so klar wie alarmierend: Ohne die Vorstellung von Zukunft, ohne den offenen Horizont eines "Morgen" gibt es keine intakte Demokratie. Sondern es herrscht Resignation, es kommt zur Regression in Nostalgie und zum Rückfall in Freund-Feind-Schemata. Mit dieser Diagnose schätzt Timothy Snyder unsere Gegenwart frappierend ähnlich ein wie Thomas Mann einst die Situation im Deutschland der 1940er-Jahre:
O-Ton Thomas Mann: "Hitler-Deutschland hat weder Tradition noch Zukunft. Es kann nur zerstören, und Zerstörung wird es erleiden. Möge aus seinem Fall ein Deutschland erstehen, das gedenken und hoffen kann, dem Liebe gegeben ist rückwärts zum Gewesenen und vorwärts in die Zukunft der Menschheit hinaus."
Die gesamte Rede von Timothy Snyder hier in Text und Video
Weder die große Revolte noch den grundsätzlichen Umsturz im Blick
Der Vergleich mag verwegen sein: Die erinnerungs- und perspektivlose deutsche Gegenwart im Zweiten Weltkrieg in Analogie zur zukunfts- und geschichtsvergessenen Gegenwart dieser Tage. Doch er ist nicht willkürlich. Für einen klaren Blick zurück, weil mit ihm auch der Blick nach vorne geformt wird, plädiert nämlich unermüdlich kein anderer als Timothy Snyder. Als Historiker fordert er in seinen Publikationen so eindringlich appellierend und warnend wie einst Thomas Mann: Aus dem, was gewesen ist, muss gelernt werden. Wir sollten die Muster erkennen, die in der europäischen Geschichte dazu führten, dass Gesellschaften auseinanderdrifteten, Demokratien unter Beschuss gerieten, moralische Werte unterminiert wurden und Gewalt ausbrach. 2017 verfasste Timothy Snyder seinen Bestseller mit dem Titel "Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand". Darin destilliert Snyder Handlungsempfehlungen, die sich aus diversen historischen Ereignissen ergeben. Diese Empfehlungen haben weder die große Revolte noch den grundsätzlichen Umsturz im Blick. Sondern erweisen sich als einfache Gesten der Achtsamkeit und der Verantwortung. Sie speisen sich genauso aus dem historischen Wissen wie auch aus der Fantasie für ein Morgen. Fantasieren wir nicht, wird es böse enden, sagt Snyder. Tun wir es – nicht zuletzt im Sinne des aktiven Handelns, gibt es Hoffnung.
Es droht eine Politik der Katastrophe
"Das nächste, was vielleicht passiert, was wir tatsächlich schon sehen können, ist eine Art der 'Politik der Katastrophe'. Sie kennt sehr wohl eine Zukunft, aber diese Zukunft ist einfach nur düster. Und natürlich denke ich hier an die Erderwärmung. Eines der Probleme mit den 'Politikern der Ewigkeit' ist, dass sie uns unseren Blick abwenden lassen – von der Zukunft und von der Tatsache, dass es einige Probleme in der Zukunft gibt, die wir ohne jeden Zweifel angehen müssen. Und eines dieser Probleme ist die Erderwärmung. Wenn wir uns nicht mit der Erderwärmung auseinandersetzen, dann kehrt die Zukunft zwar zurück. Aber es ist eine negative, düstere Zukunft. Dann gleiten wir ab in eine Katastrophenstimmung, welche die Demokratie unglücklicherweise unmöglich macht. Das ist also die eine Alternative. Das ist der Weg, den die Politik mit ihrer Auffassung von Zeitlichkeit schon beschritten hat. Oft leugnen die 'Politiker der Ewigkeit' den Klimawandel oder glauben, er sei eine gute Sache und wir müssten uns weiter in diese Richtung bewegen.
OK, genug der schlechten Nachrichten. In all dem steckt letzten Endes auch eine gute Nachricht. Denn wenn es wahr ist, dass die Zukunft für die Demokratie wichtig ist, und wenn es wahr ist, dass die Zukunft das ist, was wir verloren haben, dann können wir begreifen, was wir tun müssen, um die Demokratie zurückzuerlangen. Oder zumindest erkennen wir eine große Maßnahme, die wir ergreifen müssen, um die Demokratie zurückzuerlangen. Diese eine Maßnahme ist, wieder ein Gefühl für die Zukunft zu entwickeln. Und das nenne ich die 'Politik der Verantwortung'. Wenn es stimmt, dass die Zukunft aus ganz bestimmten Gründen verschwunden ist, dann können wir eine Politik entwerfen, die uns die Vorstellung einer Zukunft wieder zurückbringen kann. Wenn es stimmt, dass zum Beispiel gesellschaftliche Ungleichheit Hoffnungslosigkeit erzeugt, dann wäre es sinnvoll, den Sozialstaat aufzufrischen, weil er ja zu sozialer Mobilität führt und damit zu einer Vorstellung von der Zukunft. Wenn es stimmt, dass das Internet uns niederhält und uns in unseren Gefühlen gefangen hält, was es zweifellos tut, dann könnten wir mehr Lebensenergie und Aufmerksamkeit für die verschiedenen Ideen von der Zukunft haben, wenn wir weniger Zeit im Internet verbringen und überdenken, wie soziale Plattformen funktionieren. Und wenn es stimmt, dass die Angst vor dem Klimawandel die Menschen davon abhält, in die Zukunft zu blicken, dann können uns auch energische, interessante und innovative Maßnahmen gegen den Klimawandel hoffnungsvoller stimmen. All das ist wahr!
Sich in die Demokratie zurückdenken
Das bedeutet, dass es Hoffnung gibt. Tatsächlich gibt es sogar eine doppelte und dreifache Hoffnung. Denn wenn wir unseren Weg in die Zukunft anhand einer konzipierten Politik sehen können, dann können wir uns auch vorstellen, dass wir die Zukunft gestalten können, dass wir die zukünftige Welt zu einem besseren Ort machen können. Wir beginnen, darüber nachzudenken und uns zu sagen: OK, die Zukunft könnte im Vergleich zur Gegenwart nicht nur anders, sondern sogar viel besser sein! Und sobald wir das tun, sind wir auf dem Weg, uns in unsere Demokratie zurückzudenken. Denn selbstverständlich ist das alles, was ich hier erzähle, nicht nur einfach notwendig, es entfacht sogar auch Begeisterung. Mit anderen Worten: Um die Welt steht es schrecklich. Aber in gewisser Hinsicht nicht so schrecklich, wie es scheint. Denn es gibt wirklich eine Zukunft. Unsere aktuelle Grundstimmung, die 'Politik der Ewigkeit', die sich gerade zu einer Ära der Katastrophe wandelt, all das will uns einreden, dass wir nichts tun können. Aber nur ein paar kleine Siege, ein paar Änderungen könnten uns wieder davon überzeugen, dass die Demokratie genau der richtige Weg nach vorne ist. Davon bin ich überzeugt. Vielen Dank!"
Die Welt ist in Aufruhr. Das ist gut, selbst wenn daraus nur ein paar kleine Siege und ein paar Änderungen entspringen. Denn die Proteste manifestieren das, was Timothy Snyder einfordert: den Glauben an Gestaltung. Mit ihm kann auch der Streit um die Gestaltung selbst weitergehen. Etwa im Projekt "55 Voices for Democracy", in dessen Rahmen die eben gehörten Reden von Francis Fukuyama und Timothy Snyder entstanden sind. Weitere Reden folgen. Im Netz und auch hier, gesendet im Radio, nicht nur, aber auch: an die Deutschen.55 renommierte internationale Intellektuelle, Wissenschaftlerinnen und Künstler halten im Auftrag vom Thomas Mann House in Los Angeles seit Oktober 2019 und in den kommenden Monaten kurze Ansprachen, in denen sie ihre Ideen für die Erneuerung der Demokratie vorstellen. (Stephanie Metzger)