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60 Jahre Aktion Sühnezeichen
Botschafter in Sachen Völkerverständigung

Um nach ihrem Versagen während des Nationalsozialismus ein Zeichen der Versöhnung zu setzen, gründeten evangelische Christen die Aktion Sühnezeichen - einen Freiwilligendienst für junge Menschen. Diese werden weltweit zu Menschen und Organisationen geschickt, die unter dem Nazi-Terror gelitten haben.

Von Matthias Bertsch |
    Teilnehmer des Sommerlagers von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste säubern am 31.07.2015 Grabstätten auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Die jungen Erwachsenen aus Deutschland und Russland führen notwendige Pflege- und Erhaltungsarbeiten auf dem jüdischen Friedhof durch und setzen sich mit der Vergangenheit und Gegenwart jüdischen und russischen Lebens in Berlin auseinander.
    Teilnehmer des Sommerlagers von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste säubern Grabstätten auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    "Wir Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet: Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht."
    Mit diesen Worten begann der Aufruf, den Präses Lothar Kreyssig am 30. April 1958 auf der Synode der Evangelischen Kirche Deutschland in Berlin verlas. Dann folgte der wichtigste Satz im Gründungsdokument der Aktion Sühnezeichen, weil er jeden einzelnen ansprach:
    "Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern."
    Opposition zum Nationalsozialismus
    Als deutschnational geprägter Richter hatte Kreyssig selbst Hitler zunächst begrüßt, doch sein christlicher Glaube brachte ihn bald in Opposition zum Nationalsozialismus. Als er von der Tötung geistig Behinderter im Rahmen der Euthanasie erfuhr, zeigte er die Verantwortlichen wegen Mordes an. Er wurde nicht verhaftet, aber in den Ruhestand versetzt, verhindern konnte er die Morde nicht. Umso wichtiger war es ihm, mit einem unbezahlten Freiwilligendienst ein Zeichen der Versöhnung und der Sühne zu setzen. Zu seinen Unterstützern gehörte der evangelische Theologe Franz von Hammerstein.
    "Es meldeten sich sehr schnell eine ganze Reihe Jugendliche. Wir fragten natürlich, warum wollt ihr gehen, und da war dann die Abenteuerlust, da war der Wille, mal in einer Gemeinschaft zu arbeiten, aber es war auch immer das Motiv da, dass hier eine sinnvolle Aufgabe angepackt wird."
    In den ersten Freiwilligengruppen dominierten junge Handwerker: Sie reisten nach Holland und Norwegen, wo sie Ferienunterkünfte und ein Kinderheim errichteten. Der Tatendrang war groß, der Empfang dagegen manchmal eher kühl, wie einer der Freiwilligen schrieb:
    "Kühn sind wir ausgezogen und wollten Versöhnung praktizieren – und was finden wir hier? Die ruhige abwartende Haltung der Norweger, hinter der wir die Frage spüren: Meint ihr's auch ehrlich? Oder betreibt ihr genauso uniformierte Versöhnung, wir ihr Deutschen uns uniformiert überfallen habt?"
    Name der Organisation anfangs umstritten
    Anfang der 60er Jahre wurden auch in Israel die ersten Sühnezeichen-Freiwilligen empfangen. Es waren junge Deutsche, die am Ende des Krieges oder nach ihm geboren waren und deswegen keine Schuld an den Verbrechen der Nazis tragen konnten. Auch deswegen war der Name der Organisation von Anfang an umstritten, erinnert sich Günther Wahrheit, der 1965 als 19-Jähriger in einem Kibbuz Bananen und Zitronen erntete.
    "Das war damals schon Streitpunkt, dieser Begriff mit Sühnezeichen. Mit dem hatte ich damals meine Probleme und hab ich heute meine Probleme auch. Aber was immer sympathisch war, war bei dieser christlichen Organisation, dass sie nicht nur salbungsvoll geredet hat, sondern man hat vernünftige Sachen gemacht. Was die Hände getan haben, hat gezählt, nicht was die Münder geredet haben, und das war eine gute Sache. Es ist nicht gesagt worden, Sühnezeichen in Deutschland: 'Wir kommen und arbeiten im Altersheim bei euch', sondern ist gefragt worden: 'Wir wollen kommen, was sollen wir bei euch machen?'"
    Nach dem Bau der Mauer nahm Sühnezeichen in Ost und West eine getrennte Entwicklung. Die Freiwilligen aus der Bundesrepublik reisten für langfristige Einsätze ins westliche Ausland, um dort Kinder, Alte oder Behinderte zu betreuen, die Freiwilligen aus der DDR nach Osteuropa, um dort in Sommercamps jüdische Friedhöfe und ehemalige Konzentrationslager vor dem Verfall zu bewahren. Seit 1991 ist die Organisation – unter dem Namen Aktion Sühnezeichen Friedensdienste – wieder vereint, und schickt bis heute jährlich rund 150 junge Deutsche ins Ausland. Die meisten haben gerade das Abitur hinter sich und wollen nicht sofort an die Uni, so wie Eva Kell.
    "Ich wollte einfach woanders hin, was anderes machen und mich vor allen Dingen gesellschaftlich engagieren und nicht nur rumreisen, sondern auch etwas an andere geben und nicht nur für mich nehmen. Und dann bin ich auf Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gestoßen und hab mich da beworben."
    Ein Jahr lang hat die heute 22-Jährige Studentin im tschechischen Ostrava in einem offenen Jugendtreff gearbeitet und ehemalige Zwangsarbeiter, die unter der deutschen Besatzung gelitten haben, zuhause besucht. Wie stark ihre Arbeit auch heute noch einen Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus hat, wurde ihr erst nach ihrer Rückkehr bewusst.
    Kennenlernen auf menschlicher Ebene
    "Im Rückblick, wenn man das reflektiert, was man da getan hat und darüber nachdenkt, dann, denke ich, kommt man auf diese Punkte, was ist das eigentlich wert, was ich dort tue. Aber währenddessen, während man dort ist, ist es einfach eine ganz natürliche Begegnung, und man lernt sich einfach als Menschen kennen und nicht als ‚'Ich komme jetzt hier als junge Deutsche und ihr seid jetzt die Zwangsarbeiter‘, sondern man lernt sich auf einer menschlichen Ebene kennen."
    Und so sind die Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen heute noch vor allem das, was sie von Anfang an waren: Botschafter in Sachen Völkerverständigung.