"Ich werde alles aufbieten, um Ihnen, verehrter Herr Dr. Schweitzer, bald Positiveres über unser Kinderdorf berichten zu können, dem ich mich mit Leib und Seele verschrieben habe. Ich will und werde durch unser Kinderdorf beweisen, dass die Menschen in Frieden miteinander leben können, ob sie evangelisch oder katholisch sind oder welcher Rasse sie auch angehören mögen."
Differenz zu SOS-Kinderdörfern
Margarete Gutöhrlein schrieb diese Zeilen im Mai 1958 an den Tropenarzt und Humanisten Albert Schweitzer. Sie war die Initiatorin des ersten Albert-Schweitzer Kinderdorfvereins in Deutschland, der am 11. Dezember 1957 gegründet wurde. Die Mitgliederzahlen stiegen merklich an, seitdem der Verein den Namen des Friedensnobelpreisträgers trug. Für die engagierte Dame aus Schwäbisch-Hall war Schweitzer der Retter in der Not. Denn Gutöhrlein hatte bereits nach dem Vorbild des SOS-Kinderdorfs in Imst von Hermann Gemeiner einen Verein gegründet, sich jedoch dann mit ihm in einem Punkt nicht einigen können. Die Heimatforscherin Elke Däuber:
"Sie wollte ein Kinderdorf gründen, wo alle Kinder Platz hatten, ob evangelisch, katholisch, jüdisch. Und Hermann Gmeiner war der Meinung, dass eine Mischung der Konfessionen eher schädlich ist."
Aber wer war diese Frau, die in dieser Frage keine Kompromisse machte? Sie liebte Kinder, das hat Elke Däuber bei ihren Recherchen noch von vielen Zeitzeugen bestätigt bekommen. Die tieferen Gründe für Gutöhrleins Beharren auf einer konfessionsunabhängigen Einrichtung liegen in ihrer Biografie. 1883 in Berlin als Tochter einer jüdischen Mutter in wohlhabenden Verhältnissen geboren, wuchs sie zueiner selbstbewussten jungen Frau heran, die zum Sprachstudium nach England ging und sich zum Theater hingezogen fühlte. Was Rassenhass ist, erlebte sie in ihrer ersten Ehe; sie ließ sich scheiden. In einem Brief kurz nach der Machtübernahme der NSDAP schrieb sie aus New York an ihre älteste Tochter über deren Vater: "Jetzt sind seine Wahnideen lebendig geworden. Zehn Millionen Menschen oder mehr versuchen auf geradezu entmenschte Art das intelligenteste Volk und gefühlvollste Volk der Juden auszurotten. Ineschen, jetzt fühle ich jüdisch, ich könnte gar nicht nach Deutschland zurück – was sollen wir dort?"
Flucht in die USA
Margarete Gutöhrlein sondierte erste Schritte, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Sie betreute die Varieté-Tanz-Karriere ihrer zwei jüngeren Töchter, die als "Sister G." international Erfolg hatten, war eine unabhängige Frau. Aus gesundheitlichen Gründen kehrte die 50-Jährige dann aber doch nach Schwäbisch-Hall zurück, wo ihr dritter Ehemann, Georg Gutöhrlein, eine Mineralwasser-Fabrik führte. Doch wurde ihre Lage immer bedrohlicher. 1943 gelanges ihr nachzuweisen, dass ihr leiblicher Vater "Arier" gewesen war, womit sie als sogenannte Halbjüdin die letzten Jahre der NS-Zeit überlebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot die amerikanische Militärregierung Gutöhrlein die Leitung des Roten Kreuzes in Hall an. Dazu Elke Däuber: "Viele dieser Mitglieder vom Roten Kreuz, also die beim Roten Kreuz gearbeitet hatten, mussten entnazifiziert werden. Und dadurch hatte sie auch den großen Vorteil, dass sie eben völlig politisch unbelastet war."
Gutöhrlein-Biografin: "Sie konnte einfach Leute begeistern"
Das Rote Kreuz in Hall brachte täglich Hunderte von durchreisenden Flüchtlingen und Soldaten unter, obdachlose Alte und elternlose Kinder. Nach zwei Jahren Tätigkeit beschäftigte sie 23 Angestellte. Allerdings hielt Margarete Gutöhrlein nicht viel von der Einhaltung des Dienstwegs, was dem – durch ihren Erfolg düpierten – Gemeinderat Gründe lieferte, ihr seine Unterstützung zu verweigern. Die 64-Jährige legte ihr Amt nieder.
Die Gründung des Albert-Schweitzer-Kinderdorf-Vereins war ihr letztes großes Projekt, so Elke Däuber: "Sie konnte einfach Leute begeistern für ihre Idee. Sie hat auch gute Verbindungen in alle Kreise gehabt, so konnte sie diese Persönlichkeiten alle für ihre Ideen gewinnen. Das war ihre große Stärke."
Auch Albert Schweitzer hatte ihre Bitte nicht ausschlagen können. Doch drei Wochen nach ihrem letzten Brief an ihn erlag die 74-Jährige einem Herzinfarkt. Ihrem Ehemann hatte sie zuvor das Versprechen abgenommen, den Verein weiterzuführen. Das Grundstück in Waldenburg war bereits zugesagt. 1960 konnte das erste Haus im ersten Albert-Schweitzer-Kinderdorf bezogen werden. Heute umfasst der Bundesverband zehn Vereine in neun Bundesländern, die sich vielfältigen Betreuungsaufgaben widmen. In rund 550 Einrichtungen werden mehr als 13.000 Kinder und Jugendliche betreut.