"Herr Professor Bode kam eines Tags zu mir und meinte, es wäre doch an der Zeit, jetzt in Kassel eine internationale Kunstausstellung zu machen. Ich habe ihn zunächst etwas verständnislos angeschaut, gesagt: Gucken Sie mal zum Fenster raus, wir haben die Kriegsruinen noch nicht weg. Und jetzt soll ich Geld organisieren für eine internationale Kunstausstellung."
Nicht nur Kassels Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen erschien die erste documenta, die am 15. Juli 1955 in der Ruine des Museums Fridericianum ihre Pforten öffnete, wie ein Wunder. Sie präsentierte eine beeindruckende Bilanz der Vorkriegsmoderne und zeigte vor allem abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre, um so die Wurzeln der Gegenwartskunst offenzulegen. Zugleich sollte mit Werken von Kandinsky, Lehmbruck, Macke oder Jawlensky die unter den Nazis verfemte Kunst ins Bewusstsein zurückgebracht werden. Aber auch Picasso oder Calder waren dabei. Auf den Weg gebracht hatte dieses tollkühne Projekt der Kasseler Malerei-Professor Arnold Bode. Improvisation war das Gebot der Stunde. Weiße und schwarze Plastikplanen deckten die zerstörten Fenster der Museumsruine ab, Bilder und Skulpturen wurden vor rohen, weiß geschlämmten Backsteinwänden gezeigt. Die Metallbildhauerin Nele, Tochter von Arnold Bode, erinnert sich.
"Da standen wirklich die Paul Klees da am Boden, und er hatte seine ganzen Studenten bewegt, dass die helfen. Und das kam an und wurde da abgestellt, und wohin und was, also das war wirklich wahnsinnig. Wenn man das heute machen würde, wären die Leute aschgrau, würde ich sagen.
Immer neue Perspektiven
Mit etwa 130.000 Besuchern war die documenta von 1955 ein solcher Erfolg, dass eine Fortsetzung der Kunstschau wünschenswert schien. Die zweite documenta 1959 zeigte vorwiegend aktuelle Gegenwartskunst. Neben Jackson Pollock war Henry Moore der große Star dieser Ausstellung. Auch bei der documenta 3 im Jahr 1964 bewies Arnold Bode sein Gespür für Wirkung und Inszenierung. Er hängte Bilder an die Decke, zeigte atemberaubende Arrangements, überraschte die Besucher mit immer neuen Perspektiven.
"Das heißt, die Bilder müssen den Ort finden, wo sie hingehören. Den Versuch haben wir gemacht, ob es gelungen ist, wissen wir nicht. Aber man sollte doch hier die Frage diskutieren, sollten Bilder nicht inszeniert werden oder sollen Bilder zufällig irgendwohin gehängt werden. Der Raum konfrontiert mit dem Menschen gibt erst die große Möglichkeit des Begreifens."
Zur ungewöhnlichen Erfolgsgeschichte mit ständig steigenden Publikumszahlen wird die documenta von Kassel auch wegen dieser Inszenierungsqualität. Als 1972 mit dem Schweizer Harald Szeemann die junge Generation die documenta übernimmt, trägt genau das zu ihrem Sensationscharakter bei.
Die Kunstolympiade von Kassel wird immer mehr zum Rausch für die Sinne. Die Kunst erobert den Stadtraum, aber sie sorgt auch für Anstoß und Empörung. Wie das Projekt „7000 Eichen" von Joseph Beuys im Jahr 1982. Der Künstler, eine Leitfigur der documenta-Geschichte, lässt Basaltstelen vor dem Museum Fridericianum lagern, die neben jedem in Kassel gepflanzten Baum aufgestellt werden.
"Vielleicht dauert dieses ganze Projekt zwei Jahre, bis der letzte Baum steht und damit auch der letzte Stein vor dem Fridericianum abgetragen ist."
Es vergehen allerdings fünf Jahre, bis das Projekt der sogenannten Stadtverwaldung abgeschlossen ist.
Ort der Auseinandersetzung
Seit der documenta 10 von Cathérine David und dann der Nachfolgeschau des Nigerianers Okwui Enwezor ist die documenta tatsächlich zur Bühne der Weltkunst geworden: Werke aus Afrika, Indien, Südamerika oder China sorgen für neue globale Perspektiven und Fragestellungen. Zur Leitung der documenta von 2017 wurde der in Polen geborene Kurator Adam Szymczyk ernannt. Er hat bereits für Diskussion gesorgt, weil er zum Austragungsort der nächsten documenta nicht nur Kassel, sondern auch das griechische Athen bestimmte. Die Kunstausstellung documenta als Ort der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Krise, als Produzent von Visionen, als Katalysator aktueller Auseinandersetzungen?
"Kunst ist die Dinge, die wir nicht verstehen. Ich glaube, wenn wir wissen, was passiert, das macht eigentlich keinen Spaß, und für mich auch als Kurator, das wäre ein langweiliger Job."
Die documenta bleibt spannend, sie steht heute, so jedenfalls sieht es Adam Szymczyk, für Überraschung und das Unerwartete.