Dirk Müller: 60 Jahre Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, so hieß das dann. Dann Europäische Gemeinschaft, schließlich der aktuelle Name, Europäische Union. Die Europäer feiern das ausgiebig in Rom, dort, wo alles angefangen hat, vielleicht feiert der eine oder andere Regierungschef denn auch mehr die Vergangenheit als die Gegenwart geschweige denn die Zukunft. Die EU ist in der Krise. Wir haben die Brexit-Krise, die Vertrauenskrise, die Flüchtlingskrise und auch noch andere Schauplätze. Jubiläumssondergipfel das Ganze. Jörg Münchenberg, für uns in der Ewigen Stadt. Feierlichkeiten in Rom – versuchen alle Beteiligten, ein gutes Bild abzugeben?
Der Gipfel in Rom, die Europäische Union, ihre schwindende Akzeptanz, die ungewisse Zukunft. Ein Europa, das in den zurückliegenden Jahrzehnten immer größer geworden ist und immer mächtiger geworden ist. Unser Thema mit dem Politikwissenschaftler und langjährigen EU-Beobachter Josef Janning vom European Council on Foreign Relations. Guten Tag!
Josef Janning: Tag, Herr Müller!
Müller: Das Europa der vergangenen Jahrzehnte, war das alles ein bisschen zu viel?
Janning: Es war nicht ein bisschen zu viel. In Teilen war es ein bisschen zu wenig und vielleicht auch ein bisschen zu wenig konsequent, aber ich glaube, in der Rückschau muss man sagen, es war das Europa, das möglich war. Das war das Europa, auf das sich die Europäer zu den jeweiligen Zeitpunkten verständigen konnten, und darin liegt vielleicht auch eines der Grundprobleme der europäischen Einigung: Dass man eben sich immer auf die Schritte auch verständigen muss, dass man Konsens herstellen muss, und das ist schwer.
Müller: Und jetzt geht man über das Notwendige hinaus, oder ist hinausgegangen?
Janning: Nein, eigentlich nicht, aber das, was man jetzt erkennt, ist, dass dieses Plan-B-Europa, das wir ja gesehen haben – denn die Römischen Verträge waren ja der zweite Anlauf, nicht der erste. Nachdem der erste, nämlich politische Union und Verteidigung, gescheitert war, hat man sich gesagt, dann versuchen wir es mit der Wirtschaft und versuchen, über die Dynamik, die wirtschaftliche Kooperation erzeugt, und den Wohlstand, den diese Kooperation schafft, dann die anderen Dinge zu schaffen. Und wir kommen heute, 60 Jahre später, an den Punkt, dass wir sagen, die zentrale Frage der politischen Integration, nicht nur den Nutzen zu teilen, sondern das Schicksal zu teilen, ist nach wie vor unbeantwortet. Und die gemeinsam hinzukriegen, ist nach wie vor sehr schwierig, trotzdem, dass wir diese große gemeinsame Erfahrung, diese große Leistung im wirtschaftlichen Bereich haben.
Müller: Sie sagen "das Schicksal" – Sie meinen damit die Pflichten?
Janning: Nein, ich meine das Verständnis, dass man nicht nur in Festakten zusammensitzt und in einem Boot sitzt, sondern dass man tatsächlich miteinander sich in dieser Welt behaupten kann, aber nicht ohne einander.
Und wenn Sie viele der politischen Debatten in der Europäischen Union verfolgen, dann bekommen Sie immer noch den Eindruck, dass vielfach die Meinung vorherrscht, na ja, das ist ein Klub, der muss mir einen bestimmten Nutzen bringen, und so weit, wie der Nutzen reicht, reicht auch mein Engagement. Und dann wird es eben sehr schwer, wenn es darum geht, Lasten zu teilen. Flüchtlinge zu verteilen. Sozialen Austausch herzustellen, und so weiter.
Müller: Herr Janning, das meinte ich mit Pflichten. Das heißt, viele haben Schwierigkeiten, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben?
Janning: Natürlich haben sie dann Schwierigkeiten, zu geben, weil sie oft diese größere Abwägung, diese größere Rechnung, diese Zukunftsperspektive nicht aufmachen, sondern weil sie sich an den schneller verfügbaren, kurzfristigen Vorteilen halten. Und das ist eben falsch in Europa, und das ist das Problem für die Europäer.
"Mit dieser Logik leben wir noch heute"
Müller: Kommen wir da vielleicht noch mal, Herr Janning, auf meine erste Frage zurück. Da haben Sie geantwortet auf die Frage, war das ein bisschen viel, da sagen Sie, ganz im Gegenteil, also vieles war auch zu wenig. Was war zu wenig?
Janning: Nun, es war zu wenig, die Entscheidung darüber, wie viel politische Gemeinsamkeit man haben will. Das stand am Anfang der Integration, und das hat die europäische Einigung durch die Stationen begleitet. Wenn Sie daran denken, die Römischen Verträge 1957 sahen vor, dass man nach einer Übergangszeit zu Mehrheitsentscheidungen übergehen wolle.
Als der Zeitpunkt in den 60er-Jahren dann kam, haben zunächst die Franzosen die gemeinsamen Beratungen blockiert, indem sie ihren Stuhl leer ließen, und sind erst dann zurückgekehrt, als man eine Art Kompromiss gefunden hatte, der sagte, ja, wir werden Mehrheitsentscheidungen machen, aber wenn jemand ein wichtiges Argument nennt, dann werden wir so lange weiter verhandeln, bis wir uns einig sind. Mit dieser Logik leben wir noch heute. Wenn Sie etwa die polnische Regierung betrachten, die sagt, wir sind dagegen, dass es verschiedene Geschwindigkeiten gibt, dann sagen Sie in Wirklichkeit, wir sind dafür, wir sind dafür, dass jeder ein Veto hat. Und da liegen die Probleme, da liegt dieses unerledigte Kapitel der politischen Gemeinschaftsbildung.
Müller: Und Sie hätten keine Schwierigkeiten damit, dass beispielsweise Deutschland ohne Probleme als wichtiges, als mächtiges, als finanzstarkes Land einfach mal mir nichts, dir nichts von einer Mehrheit überstimmt werden kann?
Janning: Nein, ich hätte keine Probleme damit, einfach deswegen, weil Mehrheiten nicht mir nichts, dir nichts zustande kommen, sondern weil sie das Ergebnis längerfristiger Prozesse sind. Und normalerweise geht es dabei nicht darum, wer kann was verhindern, wie viele Leute glauben, sondern normalerweise ist der größte Teil der politischen Anstrengung darauf gerichtet, eine Mehrheit zustande zu bringen. Und Deutschland als zentrales Land in dieser Europäischen Union ist unverzichtbar für jede Mehrheit. Das heißt also, Deutschland ist in jede der Debatten zur Gewinnung und Zusammenführung einer Mehrheit beteiligt und hat deswegen reichhaltige Möglichkeiten, in diesem Prozess der Mehrheitsfindung auch seine Interessen und Anliegen entsprechend einzubringen.
"Es gibt keine Mehrheit gegen Deutschland"
Müller: Würde das bedeuten, in wichtigen politischen Fragen könnte es niemals eine Mehrheit geben gegen Deutschland?
Janning: Ja. Es gibt keine Mehrheit gegen Deutschland, weil häufig für jede sinnvolle politische Initiative, die auch einiges verlangt, Deutschland ein unverzichtbarer Partner ist. Und nicht nur deswegen, weil es Deutschland ist, sondern weil es Teil einer heute leider nicht sehr starken, aber immer noch in Resten existierenden politischen Mitte der Europäischen Union ist. Das heißt, Teil dieser Gruppe von Staaten, die um Deutschland und Frankreich herum sich locker bewegen, die man immer braucht, die immer für eine politische Lösung, für eine Initiative, die etwas Neues schaffen soll, dabei sein müssen.
"Einseitiges Handeln Deutschlands hat ein Problem geschaffen"
Müller: Das könnte für einige Mitglieder aber auch durchaus ein Problem sein. Wenn wir das Beispiel Flüchtlingspolitik nehmen, für viele Staaten ist der deutsche Vormarsch in diesem Punkt beziehungsweise das Vorgreifen doch viel zu weit gegangen, hat die Europäische Union mehr gespalten denn je.
Janning: Ja, das Vorgehen, auch sozusagen dieses einseitige Handeln Deutschlands, das ja auch gleichzeitig Handlungszwänge für andere geschaffen hat, hat ein Problem geschaffen. Und das, glaube ich, muss auch die deutsche Politik erkennen, dass zu ihrem außerordentlich großen Gestaltungsspielraum auch ein außerordentlich großer Verantwortungsraum gehört.
Das heißt, wenn Deutschland eine Initiative unternimmt, muss es immer die europäische Folge mitdenken, weil Deutschlands Handeln immer europäische Folgen haben wird, mindestens einmal für die kleineren Nachbarn, die uns umgeben. Die sind unmittelbar betroffen. Das heißt, in diesem Fall wäre es Aufgabe der deutschen Politik gewesen, auch in der Frage, wie man dann gemeinsam mit den Flüchtlingen umgeht, eine deutsche Aufgabe gewesen, darüber nachzudenken, wie müsste ein europäisches System beschaffen sein, bei dem alle mitmachen können und bei dem dann auch alle mitmachen müssen.
Müller: Aber haben Sie wirklich das Gefühl, dass die Bevölkerung Ihrer Argumentation folgen würde? Wollen Deutsche von südeuropäischen Finanz- und Haushaltspolitikern beispielsweise determiniert und bestimmt werden?
Ich übertreibe jetzt ein bisschen. Wollen Polen, dass deutsche Politiker viel mehr zu sagen haben, auch unter anderem über Polen? Gibt es diesen Europäer, der im Grunde europäisch denkt und nicht national?
Janning: Ich glaube, es gibt ihn schon. Es gibt in den Bevölkerungen der europäischen Staaten natürlich sehr viele Missverständnisse und auch schiefe Perspektiven auf die Europäische Union, weil die Europäische Union ihnen selbst ja kaum je direkt gegenübertritt, sondern die ist ja so ein dienstbarer Geist. Das sind Heinzelmännchen, die für uns Arbeit erledigen, Wohlfahrt schaffen, Sicherheit schaffen, die wir aber nicht sehen, die dann wieder weg sind, und die sich auch nicht hinstellen und Ansprüche stellen an Bindung oder Loyalität und damit es gewissermaßen in das Belieben derjenigen, die die Kommunikation einer Gesellschaft bestimmen, stellen, wie viel Europa darin vorkommt.
Und deswegen glaube ich, dass es uns vielfach schwer fällt, den tatsächlichen Wert der Integration, den tatsächlichen Wert Europas für unser Leben zu erkennen. Und das bedeutet dann immer auch, dass es dann schwerfällt, zu erkennen, warum ein Zusammenwirken in der Europäischen Union etwa aus der Perspektive des griechischen Bürgers eigentlich eine Notwendigkeit, ein Segen ist, denn er könnte dazu beitragen, dieses Gemeinwesen Griechenland, das sehr schlecht regiert wird, besser zu machen. Und das kann den Bürgern eigentlich nur nutzen.
Müller: Abschließend noch die Frage: Wir haben die Krisenszenarien zumindest ja ganz kurz angedeutet. In der jetzigen Situation beispielsweise – das höre ich bei Ihnen ja auch heraus – noch mehr Vertiefung, noch mehr Integration zu verlangen, ist das politisch riskant?
Janning: Ja. Das ist politisch riskant, weil es auch öffentlich verstanden werden muss, und weil es wahrscheinlich nicht zu 27 Staaten möglich sein wird.
Wenn man also jetzt etwa in einem der vier Bereiche, die Sie vorher mit Herrn Münchenberg besprochen haben, Fortschritte machen will, dann braucht dies wahrscheinlich die Initiative einer Gruppe von Mitgliedsstaaten, die dann auch bereit ist, eine Art Demonstrator zu schaffen, voranzugehen und zu zeigen, wie es gehen könnte, und anderen, die aus politischen oder sonstigen Gründen nicht mitmachen können oder wollen, die Gelegenheit zu geben, auch ihrer eigenen Öffentlichkeit zu sagen, seht her, wie das funktioniert. Offenbar schafft das Ergebnisse, wir wollen dabei sein, so wie seinerzeit der Schengen-Vertrag auch eine Initiative von fünf Staaten war, weil die anderen nicht mitmachen konnten oder mitmachen wollten.
Müller: 60 Jahre Römische Verträge, das war unser Thema mit dem Politikwissenschaftler Josef Janning vom European Council on Foreign Relations. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben!
Janning: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.