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60 Jahre Schluckimpfung
Der Kalte Polio-Impfkrieg 

Als am 5. Februar 1962 Bayern als erstes Bundesland mit Schluckimpfungen gegen Kinderlähmung begann, hatte die Bundesrepublik gerade eine massive Polio-Epidemie erlebt. In der DDR hingegen befand sich die Krankheit aber bereits auf dem Rückzug. Ost-Berlin bot Bonn deshalb Hilfe an.

Von Monika Dittrich | 05.02.2022
Kinder 1971 vor dem Plakat der bundesweite Impfaktion gegen Kinderlähmung : "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam"
"Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam": Kinder 1971 vor dem Plakat der bundesweiten Impfaktion gegen Kinderlähmung (picture-alliance / dpa)
"Manchmal träumt er noch, er würde für seine Schule Uwe-Seeler-Tore schießen.": Ein kurzer Werbefilm, zu sehen ist ein Junge in seinem Teenagerzimmer: Auf den ersten Blick scheint alles ganz normal. Bis die Kamera auf die Krücken schwenkt und zeigt, dass der Junge kaum laufen kann: "Hermann. 15 Jahre. Nicht geimpft. Schluckimpfung ist süß. Kinderlähmung ist grausam.". Der Historiker Malte Thießen forscht über die deutsche Impfpolitik:
"Also, dieser Slogan hat sich tatsächlich ins Gedächtnis eingebrannt, vieler Deutscher. Also selbst, obwohl es diese Kampagnen schon lange nicht mehr gibt, und das spricht für den wirklich großen Erfolg dieser Werbekampagne.“

Schock-Videos im Kino-Vorprogramm

"Diese Schluckimpfungs-Kampagnen sind tatsächlich eine große Medienkampagne, muss man sagen. Man verteilt Broschüren, Plakate, kleine Filmchen gibt es, man setzt aber auch auf Angst, man betreibt sozusagen ein Emotionen-Management. Man arbeitet mit sogenannten Schock-Videos, im Vorprogramm von Kinos oder nachher später im Fernsehen. Dort sieht man dann kranke Kinder an Krücken einsame Krankenhausflure entlanggehen. Also wirklich sehr bedrückende Bilder.“"
Bilder, die wirkten. Die Menschen standen Schlange für die freiwillige Polio-Impfung, denkbar einfach verabreicht auf einem Zuckerwürfel, ein Schutz gegen die heimtückische Virus-Infektion, die zu Lähmungen und auch zum Tod führen kann, und die nicht nur Kinder befällt, sondern auch Erwachsene.

Westdeutschland als Polio-Hotspot

Die Schluckimpfung, die Bayern am 5. Februar 1962 startete, war allerdings ein reichlich verspäteter Erfolg. Denn noch im Jahr zuvor hatte die Bundesrepublik eine Polio-Epidemie erlebt, schlimmer als zu dieser Zeit irgendwo sonst in Europa, mit mehr als 4.500 Erkrankten, von denen viele gelähmt blieben. Fast 300 Menschen starben. Die Eisernen Lungen, Beatmungsmaschinen so groß wie Metallsärge, waren mancherorts knapp geworden. Und das, obwohl es bereits einen Impfstoff gab.
Weshalb sich das Bayerische Ärzteblatt wunderte: „Warum steigt trotzdem die Poliomyelitiskurve in der Bundesrepublik ständig an? Die einfache Antwort lautet, daß die Bevölkerung aus unerfindlichen Gründen von dieser Impfung fast keinen Gebrauch gemacht hat.“
Eiserne Lungen im Einsatz während einer Polio-Epidemie im Haynes Memorial Hospital in Boston, 1955
Eiserne Lungen im Einsatz während einer Polio-Epidemie im Haynes Memorial Hospital in Boston, 1955 (AP Archiv)

So begann der Kalte Impfkrieg

Der amerikanische Arzt und Immunologe Jonas Salk hatte einen Totimpfstoff entwickelt, der gespritzt wurde. Doch in der Bundesrepublik ließ sich kaum jemand damit impfen. Als Nachteil galt, dass mehrere Injektionen nötig waren und sich der Schutz erst nach Monaten aufbaute. Manch einer hoffte wohl auch auf einen deutschen Impfstoff.
Hinzu kam ein Pharma-Skandal in den USA: Impfdosen waren verunreinigt und führten zu Polio-Ausbrüchen. Als wirksamer erwies sich ohnehin bald die Schluckimpfung mit abgeschwächten Lebendviren, entwickelt von dem russisch-amerikanischen Virologen Albert Sabin und zunächst nur in der Sowjetunion zugelassen. Das war der Beginn eines kalten Impfkrieges, so Malte Thießen:
„Da ging es nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern das Impfen ist immer auch ein Leistungstest für den jeweiligen Staat.“

Die DDR bot Impf-Entwicklungshilfe an

Auch die DDR hatte zügig mit der Schluckimpfung begonnen und die Krankheit zurückgedrängt – ein Erfolg, den die DDR-Führung politisch auskostete. Im Juni 1961, wenige Wochen vor dem Mauerbau, schickte sie ein Telegramm an Bundeskanzler Konrad Adenauer und schlug eine – Zitat –"Rettungsaktion" vor.
"Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik bietet Ihnen an, sofort drei Millionen Einheiten des Impfstoffes von Sabin-Tschumakow zu liefern."
Ein "sehr vergiftetes Angebot,", sagt Historiker Malte Thießen: "Das ist schon klar in der Wortwahl, aber es ist natürlich ein guter Propagandatrick, um eben der eigenen Bevölkerung zu zeigen, 'seht her, wir tun was.'"

Noch ist die Polio nicht ausgerottet

Zwar lehnte die Bundesregierung das Angebot ab, jedoch war klar: Auch in Westdeutschland musste etwas passieren. Bayern preschte mit seiner Schluckimpfung vor, der Impfstoff kam aus den USA, und schon bald folgten andere Bundesländer. Tatsächlich sank die Poliorate rapide.
Seit 1998 wird in Deutschland wieder ein Totimpfstoff gegen Polio gespritzt: Europa und weite Teile der Welt gelten mittlerweile als poliofrei. Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation, die Krankheit vollständig auszurotten, musste allerdings schon mehrmals verschoben werden.