Fronleichnam, das ist im katholischen Bayern ein wichtiger Feiertag; es gibt eine Prozession und fromme Gebete, und anschließend geht man gern ins Wirtshaus zum gemütlichen Ausklang. An Fronleichnam des Jahres 1962 allerdings, einem 21. Juni, war zumindest im Münchner Stadtteil Schwabing von bayerischer Gemütlichkeit schon bald keine Rede mehr. Der Tag ging vielmehr ein in die Geschichte als Beginn der „Schwabinger Krawalle“, in denen sich Tausende von Jugendlichen fünf Nächte lang Straßenschlachten mit der Polizei lieferten.
Der Rundfunk berichtete beeindruckt: „Wir sahen, wie Halbstarke mit ihren Bräuten randalierten, Autos anhielten, mit Stein- und Fußtritten demolierten und am Weiterfahren behinderten. Ebenfalls einheimische und ausländische Touristenbusse, die nicht vor- und nicht zurückkonnten, und selbst Straßenbahnen wurden angehalten und durch Twist-Tänze am Weiterfahren gehindert."
In den Straßencafés rangen die Gäste um die beste Sicht
Begonnen hatte das Ganze bereits Anfang des Monats. Nach einem Jazzkonzert in der Uni lieferten sich rund 2.000 „Halbstarke“, wie es in der Presse hieß, Scharmützel mit der Polizei, bei der sich Anwohner wegen Störung ihrer Nachtruhe beschwert hatten. Ähnlich ging es dann am 20. weiter und eben an jenem 21. Juni, an dem die Streife anrückte, weil junge Musikanten spätnachts auf der Leopoldstraße lautstark russische Volkslieder zum Besten gaben. Die Ruhestörer weigerten sich, die Polizisten aufs Revier zu begleiten und erhielten dabei tatkräftige Unterstützung von Passanten, die an dem lauen Sommerabend auf Schwabings Prachtboulevard flanierten.
Und so war in kurzer Zeit die schönste Rangelei im Gange. Aus den Hinterreifen des Polizei-BMWs wurde die Luft gelassen, dann rückte im Mannschaftswagen Verstärkung an, und während in den Straßencafés die Gäste der besseren Sicht wegen auf die Tische kletterten, versuchten die Einsatzbeamten bereits, mit Hilfe von Gummiknüppeln flächendeckend die Weisung des Polizeipräsidenten umzusetzen, die da lautete: „Ordnung um jeden Preis!“.
Und er ließ kundtun: „Wir werden zunächst über Lautsprecher die Demonstranten auf die Ungesetzlichkeit ihres Handelns hinweisen und gleichzeitig zum Verlassen des Platzes auffordern. Vom Gummiknüppel darf erst dann Gebrauch gemacht werden, wenn der Räumung besonders heftiger Widerstand entgegengesetzt wird.“
Halbstarke gegen Weltkriegsveteranen
Nichts anderes allerdings ist zu erwarten angesichts der rund 3.000 jungen Leute, die mittlerweile lärmend und auf Kühlerhauben trommelnd über die Leopoldstraße ziehen. Ganz plötzlich scheint sich hier ein Generationenkonflikt zu entladen: Die Polizisten, darunter viele, die noch im Krieg gekämpft haben, werfen sich mit aller Kraft der ungebärdigen Jugend entgegen. Die Zugänge zu den Nebenstraßen werden abgeriegelt, dann geht es auf alles los, was im Weg ist.
Eine Beteiligte erinnert sich: „Wir gingen also quer rüber in Richtung die Straße, auf die Polizei zu und fragen so einen jungen Beamten, was ist denn hier los? Können wir darüber gehen? Wir wollen unsere Eltern besuchen. Da packt mich der gleich hier vorn und schubst mich so zurück. Und da sage ich, was fällt Ihnen ein, mich so anzupacken? Und die Antwort war gleich ein Gummiknüppel über den Kopf. Da hat mein Mann gesagt,‘also rühren Sie meine Frau nicht an‘, es war also ein Mordsdurcheinander.‚‘die ist schwanger, und was fällt Ihnen ein!‘ Da hab ich wieder eine über den Kopf gekriegt, dann haben Sie sich über meinen Mann hergemacht und haben sie ihn zu zehnt oder zwölf oder wie viele es waren, ich weiß nicht, völlig zusammengeknallt und haben ihn dann mitgeschleppt, und dann haben mich hilfreiche Halbstarke nach Haus gebracht.“
Geschätzte 40.000 Menschen waren in die Auseinandersetzungen verwickelt; hunderte, teils völlig unbeteiligte, wurden verletzt, darunter auch der türkische Konsul samt Ehefrau und der Leiter des Münchner Jugendamtes, dessen gezückten Dienstausweis sein polizeiliches Gegenüber mit einem kurzen „Des is‘ mir wurscht“ kommentierte.
Die 68er-Tumulte vorweggenommen?
Der katastrophale Verlauf der „Schwabinger Krawalle“ ließ die Münchner Polizei umdenken. Unter neuem Präsidenten wurden neue, de-eskalierende Strategien entwickelt, die man dann später bei den 68er-Tumulten nur allzu gut brauchen konnte. Als deren Vorläufer werden die Krawalle heute oft gesehen. Allerdings handelt es sich, wenn, dann um eine sehr bayerische Variante. Denn so unerbittlich der Kampf zwischen der Jugend und den Hütern der alten Ordnung auch schien, plötzlich und mit einem Schlag war alles zu Ende. Nämlich in dem Moment, als sich der Himmel über München dunkel färbte und es anfing zu regnen.