"Ärztliche Lebensmüdenberatung": So hieß die erste deutsche Telefonseelsorge in Berlin. Die Stadt galt als Hochburg der Selbstmörder – wie man suizidgefährdete Menschen damals nannte. Doch Beratungsbedarf gab es nicht nur in Berlin, betont der Geschäftsführer der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge, Bernd Blömeke:
"Wenn man auf die Gründungen der ersten TelefonSeelsorge-Stellen in Deutschland seit 1956 zurückschaut, merkt man, dass fast bei jeder Gründung suizidale Erfahrungen im Hintergrund standen, ob in Berlin, in Kassel, in Frankfurt, in Düsseldorf. Da haben Menschen mitbekommen, hier in unserer Stadt nimmt sich jemand das Leben, weiß nicht, an wen er sich wenden soll in so einer bedrängenden Situation und das haben sie zum Anlass genommen, eine TelefonSeelsorge zu gründen."
Wer anruft, will reden
Doch mit der Ausbreitung des Telefons nahm auch die Vielfalt der Probleme zu, mit denen sich Anrufer an das Hilfetelefon wandten. Einsamkeit, Krankheit, Beziehungsprobleme oder einfach nur: Angst vor dem Leben. Das sind bis heute die Gründe geblieben, warum Menschen unsere Nummer wählen, sagt die Psychologin Heidrun Wiese.
"Die allermeisten die hier anrufen, die wollen schlichtweg verstanden werden in ihrer Lebensrealität so wie sie sind. Und das können Laien und Ehrenamtliche ganz wunderbar. Die sind ja ausgebildet und sie bringen auch etwas mit, sonst kämen sie gar nicht hier in die Ausbildung. Die Anrufer wollen ja gerade nicht zum Arzt gehen und mit ihrem Psychiater oder Therapeuten sprechen."
Vor allem Frauen arbeiten bei der TelefonSeelsorge
Wiese arbeitet seit fast 40 Jahren bei der Berliner TelefonSeelsorge, seit 30 Jahren bildet sie dort Ehrenamtliche aus. Zwei davon sind Maike und Melanie – die Vornamen müssen reichen, Anonymität ist ein Markenzeichen des Krisentelefons und für das Vertrauen im Gespräch unverzichtbar.
Und Melanie sagt: "Das unterschätzt man immer, dass so wenig eigentlich notwendig ist, die Menschen sind schon so vorzeitig zufrieden, und wir denken immer: Volles Programm, ich muss doch irgendwas anbieten, aber das ist nicht meine Aufgabe, das ist die Aufgabe des Anrufers. Hab ich immer wieder neu zu lernen."
Immer wieder etwas Neues lernen, das hört man oft, wenn man mit den Ehrenamtlichen spricht. In der rund einjährigen Ausbildung zur TelefonSeelsorgerin – die meisten der Ehrenamtlichen sind Frauen – spielt Selbsterfahrung eine zentrale Rolle: Nur wer bereit ist, sich den eigenen Problemen zu stellen, ist wirklich offen für die Sorgen anderer Menschen.
Zwei Millionen Anrufe im Jahr
Maike: "Ich empfinde es wirklich als ein unglaubliches Vertrauenszeichen, dass Menschen hier anrufen und mir Dinge anvertrauen, die sie sonst vielleicht mit niemandem bereden. Das finde ich, ist ein Riesengeschenk."
Melanie: "Es bereichert mein Leben, und es ist nicht nur, dass ich gebe, sondern ich bekomme ganz viel, sonst würde ich das nie machen."
Träger der Telefonseelsorge sind die katholische und die evangelische Kirche in Deutschland; gefördert wird das Beratungsangebot unter anderem vom Bundesfamilienministerium. In den bundesweit gut 100 TelefonSeelsorge-Stellen arbeiten knapp 8.000 Ehrenamtliche. Im Jahr nehmen sie fast zwei Millionen Anrufe entgegen. Nach jedem Gespräch erfassen sie ein paar Daten für die Statistik: Zum Beispiel den Grund für den Anruf. Dadurch ist klar, dass eine Gruppe die TelefonSeelsorge besonders häufig nutzt: Psychisch Kranke. Der Umgang mit diesen Menschen ist oft nicht leicht, gibt Stefan Schumacher zu. Er leitet die TelefonSeelsorge in Hagen und ist zurzeit Präsident von IFOTES, der Internationalen Vereinigung der Krisentelefone.
"Diese Menschen sind oft allein, die wohnen irgendwo, vielleicht haben sie eine Wohngruppe, vielleicht werden sie betreut, wenn sie betreut werden sind das nur wenige Stunden, da wird nur das Nötigste zur Verfügung gestellt. Die Freunde, die sie hatten, sind oft weg, weil man sie nicht mehr aushält, weil die sehr anstrengend sind in der Art, wie sie kommunizieren, und es gibt eigentlich nichts, wo die integriert werden und dann ist die TelefonSeelsorge ein Ort, wo ich immer wieder Kontakt aufnehmen kann. Da geht es jetzt nicht darum, dass die ihr Leben noch mal umkrempeln können, sondern da geht es darum, dass die ihr Leben aushalten können oder verkraften oder Leben balancieren und das ist dann unsere Aufgabe, und wenn wir am Ende eines solchen Gesprächs das Gefühl haben, die Person kommt jetzt gut durch den Tag, sind wir vollauf zufrieden."
TelefonSeelsorge nicht nur am Telefon
Beim IFOTES-Kongress, der am 19. Juli in Aachen beginnt, wird das Thema im Vordergrund stehen, das vor 60 Jahren zur Gründung der TelefonSeelsorge geführt hat: der Suizid. Es wird aber auch darum gehen, dass sich das Krisentelefon weiterentwickelt hat – genau wie die Gesellschaft. Neben der allgemeinen TelefonSeelsorge gibt es in Berlin beispielsweise das russischsprachige "Telefon des Vertrauens", und MuTeS, die Muslimische TelefonSeelsorge. Und es gibt die Mail- und Chatberatung, für die Jüngeren, die oft lieber tippen als sprechen. "Wir müssen uns den Kommunikationsformen der Zeit anpassen", sagt Birgit Knatz, die das Internetangebot der TelefonSeelsorge vor 20 Jahren mit ins Leben gerufen hat, "aber an unserem Namen sollten wir festhalten, auch wenn er heute sehr altmodisch klingt."
"Also ich würde auf keinen Fall den Begriff der Seelsorge abschaffen. Das ist etwas, was wir in der Mailarbeit und beim Chatten oft erleben, dass die Menschen sagen: Wir wenden uns an euch, weil ihr seriös seid. Es gibt ja unheimlich viele Sachen im Internet, die völlig unseriös sind. Und da hat die Seelsorge eine Reputation, auch wenn man selber kirchenfern ist oder gar nicht kirchlich sozialisiert worden ist. Und Seelsorge heißt ja: Da gibt es Menschen, die sorgen sich um deine Seele, das würde ich überhaupt nicht ändern, gar nicht."