Benedikt Schulz: Nicht mal zwei Wochen hat es gehalten, das kurze Aufflackern der Demokratie, das Auflehnen gegen die stalinistischen Machthaber. Heute vor 60 Jahren, am 23. Oktober 1956 begann der ungarische Volksaufstand. Eine neue Regierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy erklärt das Land für unabhängig und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Die Sowjetunion lässt den Aufstand blutig niederschlagen.
Der Beginn des Aufstands ist inzwischen nationaler Gedenktag – und wie an solchen Tagen gedacht wird, das sagt meist mehr über die Gegenwart, als über die Vergangenheit aus. Denn Geschichte ist immer auch Konstruktion – und jeder kann sich an der Vergangenheit bedienen – um sein Handeln in der Gegenwart zu rechtfertigen, zu erklären oder zu verklären. Und dennoch man kommt nicht herum um das Konstruieren von Geschichte, um das Erzählen.
Krisztian Ungváry stammt aus Budapest und ist einer der prominentesten Zeithistoriker Ungarns. Ich habe ihn nach seiner Lesart, seiner Erzählung des Volksaufstands in Ungarn gefragt.
Krisztian Ungvary: Das wäre eine lange Geschichte. Das Wichtigste ist, was ich eigentlich als bestes Charakteristikum für diese Revolution finde: An diesem Ereignis hat die ganze ungarische Gesellschaft, von Intelligenz beginnend bis zum einfachsten mittellosen Menschen, teilgenommen, aber auf sehr verschiedene Art und Weise. Es war eine echte Revolution und ein echter Volksaufstand zugleich. So ein Ereignis, wo die ganze Nation sich sozusagen vereint, gibt es sehr selten in der Geschichte. Ich glaube, die Ungarn haben das im 20. Jahrhundert nur ein einziges Mal erlebt.
Schulz: Und es ist dennoch gescheitert. Warum?
Ungvary: Gescheitert ist es, wie eigentlich alle ungarischen Revolutionen gescheitert sind. In diesem Fall hing das Scheitern ja damit zusammen, dass Ungarn im sowjetischen Machtbereich lag, und man konnte ja nicht auf westliche Hilfe warten. Der Westen wollte ja auch keinen Atomkrieg riskieren, um den Ungarn dann Freiheit zurückzugeben, und die Sowjetunion wollte ihre Macht um jeden Preis sichern.
In diesem Sinne war diese Revolution natürlich völlig hoffnungslos, aber sie hatte doch eine Menge Resultate, die ganz wichtig sind. Die Taten, die damals von den Revolutionären vollzogen wurden, sind in der nationalen Erinnerungskultur zum einen wichtig. Und was noch wichtiger ist, ist natürlich die darauf folgende Rezessionswelle und der Ausgleich, weil die kommunistische Regierung in Ungarn hat nach der Revolution nicht mehr so weiterregieren können, wie sie das zuvor getan hat.
Schulz: Jetzt haben Sie die nationale Erinnerungskultur angesprochen. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks - ich habe es gerade schon erwähnt - ist ja der 23. Oktober der ungarische Nationalfeiertag. Was bedeutet dieser Tag, der Aufstand und natürlich auch der Ausgang im Bewusstsein der Ungarn heute, in der Gegenwart?
Ungvary: Ich glaube, es ist eine Angelegenheit, die auch heute sehr durchpolitisiert ist, nämlich die Rechte will sich daran völlig anders erinnern, wie die Linke das getan hat. Für die Linke war natürlich Imre Nagy eine sehr wichtige Figur. Man erinnerte sich sehr gerne an die Rolle der linken Intelligenz, die, sich, vom Stalinismus loslösend, überhaupt mit ihrer Kritik nach dem 20. Parteitag in der Sowjetunion, was mit der Idee von Chruschtschow begann, an den Grundlagen des Kommunismus in Ungarn überhaupt zu sägen.
Das war für die Linke wichtig und für die Rechte ist natürlich das unwichtig. Sie betont eher dann die Rolle der einzelnen Kämpfer, die an der Straße mit den sowjetischen Panzern das Gefecht aufgenommen haben, weil diese Menschen waren natürlich nicht links. Diese Menschen hatten einmal keine politische Vorstellung meistens, weil sie ganz einfache Menschen waren, und sie wurden seltsamerweise nach den Repressalien beziehungsweise nach 1990 meistens rechts oder sogar rechtsradikal.
"Man spricht nur über diese Helden, die an der Straße gegen die Sowjetpanzer gekämpft haben"
Schulz: Und welche Lesart, nenne ich es jetzt mal, ist denn in diesen Tagen die offizielle?
Ungvary: Die offizielle Deutung ist eindeutig. Man spricht nur über diese Helden, die an der Straße gegen die Sowjetpanzer gekämpft haben, aber auch von dieser Reihe werden natürlich diejenigen ausgespart, die zum Beispiel meinetwegen eine Verbindung auch zur früheren Partei hatten. Oder es gibt die Figur Istvan Anjol, der ist der Einzige von den Revolutionären, die auch eine bewaffnete Gruppe geführt haben, der zwar von den Kommunisten verurteilt worden war, er ist ja hingerichtet worden, aber er war in 45 auch in Auschwitz, weil er jüdischer Abstammung war. Komischerweise taucht seine Figur nicht in der staatlichen Erinnerungskultur auf.
Schulz: Und wie erklären Sie sich das?
Ungvary: Ich glaube, weil man sich diesen Fragen überhaupt nicht stellen will, die damit zusammenhängen, warum dieser Mensch überhaupt nach Auschwitz kam beziehungsweise dass er auch im Jahre 56 nicht von der rechten Plattform zu den Waffen gegriffen hat, sondern dass er damals an einen Sozialismus geglaubt hat mit menschlichem Antlitz. Das ist heute sozusagen kein Thema.
"Die aktuelle politische Lage überschattet diese Erinnerung"
Schulz: Gibt es vielleicht, ich nenne es jetzt mal, eine konkurrierende, eine, wenn man so will, oppositionelle Lesart, gerade unter einer Regierung, die ja die Meinungsfreiheit im Land eher schwächt als stärkt?
Ungvary: Es gibt natürlich sehr viele Lesarten und die erscheinen auch in Ungarn. Es gibt auch dazu eine rege historische Forschung.
Aber ich meine, ein Durchschnittsungar an der Straße kann damit relativ wenig anfangen, und für die meisten Menschen ist 56 etwas Abstraktes. Schließlich ist es ja schon so lange her, dass ihre Gestalten jetzt mindestens 80 Jahre alt sind, die damals eine Rolle gespielt haben. Also es schwindet eigentlich so langsam von der Zeitgeschichte und wird zu einem Bücherlehrstoff. Und deshalb: Ein alternatives Erinnern mit Persönlichkeiten ist immer schwieriger, und ich glaube, das spielt sich so auch nicht ab und die aktuelle politische Lage, für oder gegen die Regierung, überschattet diese Erinnerung. Und was noch das überschattet ist natürlich die unvorstellbare Geldverschwendung, die bei dieser Erinnerungskultur seitens der Regierung gemacht wird. Es ist nämlich sehr viel Geld dafür da, das allerdings völlig undurchsichtig für sehr komische Zwecke ausgegeben wird.
Schulz: Nennen Sie es mal konkret. Wofür wird das ausgegeben, das Ganze Geld?
Ungvary: Es gab eine Bewerbung für 1956 und die Erinnerungskultur und da konnte man sich mit Sachen melden wie zum Beispiel Bücher, die schon einmal erschienen sind und niemand die gekauft hat. Aber trotzdem eine fachliche Prüfung dieser eingesandten Sachen ist ja überhaupt nicht erfolgt. Ich meine, die Geschichtswissenschaft als Historikerzunft hatte damit überhaupt nichts zu tun. Aber das Klientel der Regierung wird damit wahrscheinlich sehr schön befriedigt.
"Die Ungarn sind Opfer und die Anderen Täter"
Schulz: Regierungen, aber natürlich nicht nur die haben sich ja zu allen Zeiten irgendwie der Geschichte bedient, um ihre eigene Interpretation der Gegenwart zu bekommen. Fragen wir mal grundsätzlich: Was ist das für ein Geschichtsbild, das Viktor Orbán hat oder was er nutzt, um seine Interpretation der Gegenwart zu begründen?
Ungvary: Zuerst muss gesagt werden, dass ich sicher bin, dass Viktor Orbán kein solches Geschichtsbild hat. Er ist ein sehr pragmatisch denkender Mensch. Er bedient sich Geschichtsbildern, für die Bedarffindung in dem Land besteht. Das muss man auch offen sagen. Deshalb war er ja bisher auch so populär. Und das wichtigste Geschichtsbild besteht darin, dass die Ungarn Opfer und die anderen Täter sind, so ganz kurz gesagt. Das ist eine viktimologische Geschichtsweise und dafür gibt es natürlich überall Bedarf. Das ist keine rein ungarische Erscheinung, das war ja auch in Deutschland eine Zeit lang so. Und in Ungarn, das seine Freiheit erst 1990 zurückbekommen hat, dauert das noch länger.
Ungvary: Aufstand von 1956 spielt aktuell "überhaupt keine Rolle"
Schulz: Nach dem Aufstand von 1956 sind mehr als 200.000 Ungarn ins westliche Ausland geflohen, meistens über Österreich. Man hat die Menschen damals in Europa verteilt. Dieser Flüchtlingsaspekt des Aufstands, welche Rolle spielt der in diesen Tagen, in denen ja Viktor Orbán mit der Angst vor Flüchtlingen doch Politik macht?
Ungvary: Ja, das spielt überhaupt keine Rolle, nämlich die Argumente der Orbán-Regierung sind ja auch, dass der große Unterschied zwischen den Flüchtlingen von damals und heute einmal der kulturelle Unterschied ist und zum zweiten die Proportionen. Und das Wichtigste: Das war damals eine europäische Angelegenheit und heute in einem heiligen Egoismus wollen die das einfach nicht mehr auf sich nehmen.
Ich glaube, die Argumentation läuft nach dieser Schiene. Aber ich muss sagen, einen rationalen Kern hat das auch. In der Tat waren diese Ungarn sehr schnell integrierbar, die nach dem Westen geflohen sind, und die Zahl war eigentlich ein Bruchteil davon, was an Flüchtlingen jedes Jahr in Europa erscheint. Und außerdem ist die Hälfte von diesen 200.000 Menschen innerhalb von fünf Jahren zurückgegangen.
"Die Quotenverteilung der Europäischen Union war ein großer Fehler"
Schulz: Was ja bei den Flüchtlingen heutzutage nicht auszuschließen ist, wobei man ja auch gerade bei Ungarn nicht mal annähernd von solchen Dimensionen sprechen muss. Da sind ja eher vierstellige Flüchtlingszahlen im Gespräch.
Ungvary: Ja, es ist ja noch schlimmer, weshalb eine Volksabstimmung für fast 20 Milliarden Forint veranstaltet worden war. Das war die Frage, ob Ungarn bereit sei, ungefähr 1.250 Flüchtlinge aufzunehmen. Das war die Größenordnung und das ist natürlich lächerlich.
Andererseits muss man auch sagen: In einer Europäischen Union, wo die Grenzen offen sind und wo auch 10 Prozent der ungarischen Bevölkerung am liebsten nach Westen ziehen würde, kann ich mir schwer vorstellen, dass ich Flüchtlinge dazu überreden kann, in Ungarn zu bleiben, wo sie wirtschaftlich eigentlich viel weniger Chancen haben wie in anderen westeuropäischen Ländern. In diesem Sinne war natürlich diese Quotenverteilung der Europäischen Union, ich glaube, ein großer politischer Fehler und als solches auch sinnlos.
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