Jan Litynski blickt die Straße "Krakowskie Przedmiescie" hinunter und hebt ganz leicht den Zeigefinger:
"Die Straße hier war früher viel breiter, jetzt ist hier dieser Boulevard, es ist schöner geworden. Das Gebäude der Staatsanwaltschaft war allerdings schon das gleiche."
Kein Wunder, dass sich der 72-Jährige gerade an dieses spätbarocke Gebäude erinnert: Er wurde 1968 zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Begonnen hatten die Proteste hier, am Mickiewicz-Denkmal:
"Das Theaterstück 'Dziady' von Mickiewicz wurde damals zum letzten Mal aufgeführt im Nationaltheater, bevor es verboten wurde. Danach, gegen elf, haben wir eine Demonstration organisiert. Hier, am Mickiewicz-Denkmal, haben wir Blumen niedergelegt. Dort hinten, an der Swietokrzyska-Straße, wurden ich und ein Dutzend andere, festgenommen."
Vorläufig festgenommen. Hohe Haftstrafen verhängten die Gerichte des kommunistischen Polen erst später. Nach den großen März-Kundgebungen, die ausbrachen, nachdem zwei Studenten exmatrikuliert worden waren.
Das war nur eine von vielen politischen Episoden in der Geschichte der Krakowskie Przedmiescie. Auch in jüngerer Zeit steht dieser Ort, steht die Straße immer wieder im Mittelpunkt von Kundgebungen und Protesten.
Umstrittenes Holocaust-Gesetz
Zuletzt Anfang Februar: Nationalisten forderten Staatspräsident Andrzej Duda auf, das weltweit umstrittene sogenannte Holocaust-Gesetz zu unterschreiben. Es verbietet, der polnischen Nation eine Mitverantwortung am Holocaust zuzuschreiben. Antisemitisch klingende Sprechchöre prägten die Szene. "Zieh die Kippa aus und unterschreib", stand auf einem Plakat.
Jan Litynski, der selbst jüdische Vorfahren hat, gibt der heutigen Regierung eine Mitschuld an solchen Tönen:
"Die Regierung propagiert den Antisemitismus nicht, auch nicht den Nationalismus, aber sie toleriert ihn. Noch mehr: Sie inspiriert Rassismus. Nehmen wir ihre Rhetorik in Bezug auf Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Sie könnten Krankheiten und Epidemien einschleppen, heißt es. Und wenn Nationalisten Parolen von einer 'weißen Rasse' rufen, dann bestraft sie dafür niemand."
Kommunistische Partei startete antisemitische Kampagne
Auch deshalb denkt Jan Litynski heute häufiger an das Jahr 1968 zurück. Die Führung der kommunistischen Partei startete damals eine antisemitische Kampagne - unter dem Deckmantel der Kritik an Israel. Alles begann mit einem Machtkampf in der Partei, dann wurden die Studentenproteste als "zionistisch" gesteuert abgestempelt. Schließlich verließen 13.000 Polen jüdischer Abstammung das Land - viele von ihnen hatten ihre Arbeit oder ihren Studienplatz verloren.
Dass Polen jüdischer Herkunft auch heute bedroht wären, kann sich Litynski nicht vorstellen.
Und doch: Zumindest einige von ihnen fühlen sich nicht mehr wohl in ihrer Heimat. Zu ihnen gehört Stanislaw Skarzynski, Redakteur der regierungskritischen Zeitung "Gazeta Wyborcza":
"Zum ersten Mal habe ich gesehen, dass Juden im öffentlichen Leben völlig unverzeihlich behandelt werden. Bei einer Diskussion im öffentlichen Fernsehen hat Adam Sandauer das Studio unter Protest verlassen. Und die Moderatoren haben nicht auf den niederträchtigen Antisemitismus reagiert, der von geladenen Gästen kam. Da ist mir klar geworden, dass mir jemand das Recht streitig machen kann, als Journalist, an der öffentlichen Debatte teilzunehmen - nur deshalb, weil ich jüdische Vorfahren habe."
Jüdische Geschichte Polens nie ausreichend gewürdigt
Stanislaw Skarzynski steht vor dem Museum für die Geschichte der polnischen Juden. "Fremd im eigenen Land", steht auf einem Plakat, das eine Ausstellung über den März 1968 anpreist.
Der Journalist kennt dieses Stadtviertel von Warschau gut - hier haben die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg das jüdische Ghetto eingerichtet. Offener Antisemitismus sei heute auch deshalb möglich, weil die jüdische Geschichte Polens nie ausreichend gewürdigt worden sei, meint er:
"In dieser Richtung befindet sich das ehemalige Rondo Babka, heute ist es nach einer Gruppierung der polnischen Heimatarmee benannt. Dort weht an einem großen Mast die größte polnische Flagge in Warschau. Für mich ist dieses Viertel ein Gebiet, wo das Andenken an die polnischen Juden bekämpft wird."
Ein paar Hundert Meter weiter östlich zeigt Stanislaw Skarzynski, was er meint. Dort, wo einst einer der größten Plätze im Ghetto war, steht ein Denkmal für nach Sibirien verschleppte Polen. Ein Meer von Kreuzen auf einem offenen Güterwaggon.
In offiziellen Statistiken gilt auch Stanislaw Skarzynski als Katholik. Heute denkt der Journalist ernsthaft darüber nach, ob er in Polen bleiben - oder sich nicht eine neue Heimat suchen solle.
Solche Gedanken hat der 72-jährige Jan Litynski nicht. Das Klima, das derzeit Polen präge, könne sich schnell ändern, meint er und hofft auf die Jugend:
"Meine Generation war bis zu einem bestimmten Moment apolitisch. Ein Jahr hat gereicht, um das zu ändern. Es hat sich gezeigt, dass wir ein schlafender Vulkan waren. Vielleicht ist das auch bei der heutigen jungen Generation so, aber wissen tun wir es nicht."