Um die Demokratie müsse gekämpft werden, heute wie früher, sagte der Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Gute Beispiele dafür liefere die Literatur. Es gebe eine deutsche Tradition des revolutionären Aufbruchs, die heute fast vergessen sei.
An demokratische und revolutionäre Traditionen will eine Lesereihe mit Texten zur Demokratie erinnern, die das Münchener Residenztheater in Zusammenarbeit mit der Ludwig Maximilian-Universität München das ganze Jahr 2018 über veranstaltet. Clemens Pornschlegel, Literaturwissenschaftler am Institut für Deutsche Philologie in München, forscht seit langem über die politische Funktion der deutschen Dichtung. Über Heinrich Heine, Hugo Ball oder Rolf Dieter Brinkmann sagte er:
"Ich lese aus deren Werken eine große Verzweiflung über die deutschen Zustände." Die neuen Verteilungskämpfe der Gegenwart zeigten, dass der Blick in die Vergangenheit notwendig sei.
"Wir leben ja in einer sehr gegenwartszentrierten Zeit, jeder Augenblick sagt, ich bin der einzige, ich bin der völlige Neubeginn, und was wir aus den Augen verlieren, ist die die längere Geschichte in diesem Land. Die sehr kompliziert ist, die tragisch ist, die unglücklich ist; aber ein bisschen gegen das Vergessen anzuarbeiten und die politische Geschichte dieses Landes, wie sie in der Literatur ausgedrückt ist, vorzustellen, das ist das Anliegen."
Die Judenbuche: "Einer der großartigsten Texte über soziale Zustände"
Der Literaturwissenschaftler beschäftigt sich seit langem mit der politischen Funktion der deutschen Dichtung, die sich eingemischt hat. Viel aus der Literatur des Vormärz, vor allem die agitatorischen Schriften, hätten leider nicht überdauert. Als ein herausragendes Beispiel von in Literatur gebannter Zeitgeschichte nannte Pornschlegel "Die Judenbuche".
"'Die Judenbuche' von Annette von Droste-Hülshoff ist einer der großartigsten Texte über soziale Zustände, Rechtszustände, konfessionelle Konflikte, politische Konflikte in Deutschland, die es in den 40er-Jahren (Anm. d. Redaktion: des 19. Jahrhunderts) gibt. Das ist derart genau beobachtet, dass man sich nur in Bewunderung vor dem Text verneigen kann. Es gibt wenige Texte, die die sozialen Konflikte, wie die um den Wald, ums Holz, den gewöhnlichen Antisemitismus, so klar, so deutlich und - fast hätte ich gesagt: so cool, so objektiv darstellen. Wir müssen bei Soziologen lange suchen, um eine derart genaue Sicht der Dinge zu finden."
Enzensberger oder Martin Walser schon vor 1968 aktiv
Alle Revolutionen in Deutschland seien gescheitert, aus verschiedenen Gründen. Die der "'68er" findet Pornschlegel überbewertet:
"Meine Sicht auf 1968 ist die, dass die großen intellektuellen künstlerischen Auseinandersetzungen, auch die mit der restaurativen, bürgerlichen Kultur, eigentlich schon in den 50er-Jahren beginnen und in den frühen 60ern intensiv werden. Denken Sie an die Filmemacher, an die Literatur: Enzensberger oder auch Martin Walser, beide sind schon vor 1968 aktiv. 68 war eine Popularisierung dieser Tendenzen und gleichzeitig eine unendliche Kommerzialisierung. Das ist, was "68" bedeutet: Die Popkultur, die hauptsächlich über die Musik läuft, mit ihren Musikgruppen, die populär werden, und die ein einziges riesiges Geschäft ist, wie wir wissen. Die Zeitschriftenkultur, Fernsehen, alle Arten von Produkten entstehen, was dann massifiziert wird. Einer der ersten Kritiker, der mir deshalb auch sehr lieb ist, war Frank Zappa, der das sehr schön gesehen hat."
Der Literaturwissenschaftler möchte den 68ern nicht das Recht absprechen, rebelliert zu haben. Die Zustände seien haltlos geworden, die rebellierenden Studenten hätten sich "Atemluft" verschafft: "Was sie nicht gesehen haben, ist der ökonomische, kapitalistische Pferdefuß, der unter den ganzen Befreiungskostümen schon hervor lugte."