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70 Jahre Bundesverfassungsgericht
Rechtswissenschaftler sieht "Entwertung des politischen Prozesses"

Beim politischen Willensbildungsprozess würde man sich zu sehr auf das Bundesverfassungsgericht berufen, kritisierte der Verfassungsrechtler Uwe Volkmann im Dlf. Es würde zu wenig darüber gestritten, was politisch richtig oder falsch wäre. Diese Verfassungslastigkeit gebe es in anderen Ländern kaum.

Vor dem Bundesadler im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgericht steht eine Miniaturausgabe des Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sowie ein Barett eines Bundesverfassungsrichters. Im September 2021 feiert das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag.
Das Bundesverfassungsgericht ist eines der mächtigsten Gerichte seiner Art weltweit: In diesem Jahr wird es 70 Jahre alt (picture alliance/dpa | Uli Deck)
Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - seit seiner Gründung im Jahr 1951. Am 28. September 2021 jährt sich der Festakt zur offiziellen Eröffnung durch Bundeskanzler Konrad Adenauer zum 70 Mal.
70 Jahre Bundesverfassungsgericht sei einerseits ein Grund zu feiern, sagte Verfassungsrechtler Uwe Volkmann im Deutschlandfunk. Kaum eine politische Institution genieße so hohe Zustimmungswerte wie Deutschlands oberstes Gericht. Die Tatsache, dass die politischen Parteien und das Parlament keine so hohen Zustimmungswerte hätten, sei aber auch problematisch.
Darin offenbare sich eine "Entwertung des politischen Prozesses". Der werde in Deutschland stark verfassungslastig geführt. "In vielen Fragen streiten wir nicht darüber, was politisch richtig oder falsch ist, sondern es kommt relativ früh das Argument: ‚Das ist mit der Verfassung nicht vereinbar‘ oder ‚Die Verfassung will etwas anderes‘." Diese Verfassungslastigkeit sei auch eine Besonderheit des deutschen politischen Diskurses. Das gebe es so in anderen Ländern kaum.
Bundesverfassungsgericht "verzettelt sich" in Detailfragen
Der Journalist, Jurist und ehemalige Richter Heribert Prantl hat unlängst konstatiert, dass Verfassungsgericht sei "schon mal in besserer Verfassung gewesen". Für diese Einschätzung gebe es durchaus Gründe, so Volkmann. "Die großen dogmatischen Grundentscheidungen sind in vielen Bereichen gefallen." Jetzt gehe es um die Detailarbeit des Bestehenden. "Und dabei verzettelt sich das Bundesverfassungsgericht – das kann man in vielen Bereichen beobachten."
Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, steht während der Urteilsverkündung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) an seinem Platz.
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Gefährliche Vorlage für Nationalisten und Populisten? Oder Konsequenz aus höchstrichterlichem Kontrollauftrag? Gudula Geuther, Stephan Detjen und Brigitte Scholtes über das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Ein Teil des Problems sei auch, dass das Bundesverfassungsgericht machtvolle Konkurrenz bekommen hat – in Gestalt der europäischen Gerichte, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder des Gerichtshofes der Europäischen Union, welche viele angestammte Domänen des Bundesverfassungsgerichts für sich entdeckten, insbesondere im Bereich des Grundrechtsschutzes. "Hier hat das Bundesverfassungsgericht Monopolstellung verloren, und das ist natürlich für das Gericht ein Problem."
Urteile mit "politischer Breitenwirkung"
Dass Verfassungsrecht immer auch vom Zeitgeist geprägt sei, würden Studien zum Obersten Verfassungsgericht in den USA sehr gut belegen – und das könne man auch an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz erkennen oder auch an der Entscheidung auf ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. "Diese Entscheidung wäre so vor 20 oder 30 Jahren schlichtweg nicht möglich gewesen", so Volkmann.
Der Präsident des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, kommt am 03.03.2016 in Karlsruhe (Baden-Württemberg) bei der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über ein Verbot der rechtsextremen NPD in den Gerichtssaal. 
Ära Voßkuhle endet mit Konflikt über Kompetenzen
Nach zwölf Jahren verlässt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle das Bundesverfassungsgericht und hinterlässt einen Konflikt mit dem EuGH. Nun wird es an seinem Nachfolger Stephan Harbarth sein, die Verwerfungen aufzulösen.
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes hätten immer auch eine politische Wirkung, so beispielsweise beim Schwangerschaftsabbruch, beim Urteil zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer, bei Urteil zum Abbau des Kruzifixes in den Schulen. "Das sind alles Urteile mit einer erheblichen politischen Breitenwirkung." Das Klimaschutzurteil reihe sich in diese kontroversen politischen Entscheidungen ein. "Die rechtliche Konstruktion ist hier ziemlich gewagt." Zudem spreche aus dem Urteil auch ein "kühner richterlicher Wille".
Insel Pellworm, Luftbild vom Schleswig-Holsteinischen Nationalpark Wattenmeer
Klimagesetz teils verfassungswidrig
Dem deutschen Klimaschutzgesetz fehlen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Maßgaben, wie der Treibhausgas-Ausstoß nach 2031 reduziert werden solle. Bis Ende 2022 müsse der Gesetzgeber hier nachbessern. Auslöser für das Urteil waren mehrere Klimaklagen.
"Totalausfall" während der Corona-Politik
In der Corona-Politik sei des Gericht allerdings "ein Totalausfall" gewesen, so Volkmann. Das Fehlen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für die Freiheitseinschränkungen über viele Monate sei ein "klar verfassungswidriger Zustand". Hier hätte man früher eine Beteiligung des Parlaments anmahnen können. Auch bei der Entscheidung zur Notbremse haben man es verpasst, "ein starkes Zeichen für die Freiheit zu setzen".
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