Den Deutschen sei nach dem "fürchterlichen, vor allem sittlich-moralischen Bankrott" der NS-Zeit gar nichts anderes übrig geblieben, als sich wieder der westlichen Zivilisation anzuschließen und zu Demokraten zu werden, meint Bommarius. "Nur: Dass ihnen nichts anderes übrig blieb, leuchtete der Mehrheit der Menschen im Nachkriegsdeutschland nicht ein. Die meisten waren völlig desinteressiert an der Staatsgründung und dem Grundgesetz. Es gab eine Anhänglichkeit an den NS-Staat und die Vorstellungen, die sich damit verbanden: Obrigkeitsstaat, autoritäre Erziehung. Das war alles noch in den Köpfen - kein Wunder vier Jahre nach dem Krieg - und es blieb auch noch lange."
"Die Entnazifizierung ist gescheitert"
Das eigentliche Wunder sei deswegen nicht das Wirtschaftswunder gewesen, sondern dass aus Deutschland eine gut funktionierende Demokratie wurde - nicht nur in den Institutionen, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Die Entnazifierung ist laut Bommarius gescheitert. "Das konnte nichts werden, das war viel zu viel, was die Amerikaner sich vorgenommen hatten". Die Menschen in Deutschland hätten sich mit allem möglichen beschäftigt - aber nicht mit ihrer jüngsten Vergangenheit. "Sie haben sich mit einer geradezu verzweifelten Euphorie der Arbeit zugewandt", so der Publizist. Es sei einfach zu früh für die Menschen gewesen, sich angemessen mit ihre "ungeheuren" Verantwortung auseinanderzusetzen.
Ablenkung durch den Kalten Krieg
Außerdem habe auch der Kalte Krieg eine intensive Auseinandersetzung der Siegermächte mit Deutschland verhindert. "Durch den Kalten Krieg hatte die gesamte westliche Welt einen anderen Blick auf Westdeutschland: Es wurde nicht mehr als Täter begriffen, sondern als Partner im Kampf gegen den Bolschewismus." Das habe eine Beschäftigung mit der Schuldfrage und auch der Haftungsfrage verdrängt.
In seinem Buch "1949 - Das lange Jahr" schildert Bommarius die Entstehung des Grundgesetzes nicht nur aus Sicht seiner Macher: "Ich wollte auch die andere Seite schildern, die des Volkes, in dessen Name das Grundgesetz gilt: Was war in den Köpfen los?" Dafür hat er Tagebücher und Notizen von Zeitzeugen ausgewertet, etwa auch von Thomas Mann. Den Schriftsteller habe es als einer derjenigen, der während der NS-Zeit geflohen war, geärgert, dass Deutschland seiner "Strafe wegen einer günstigen Fügung der Weltpolitik entkam", sagt Bommarius.
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