Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte zum Auftakt der Gedenkstunde, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker* vor 30 Jahren, in der er den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" bezeichnete, sei 1985 noch keine allgemein vorhandene Einsicht gewesen. Sie habe aber eine veränderte Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht, die heute von einer breiten Mehrheit der Deutschen geteilt werde.
"Am 8. Mai war ein Weltkrieg zu Ende, der von einer deutschen Regierung mit krimineller Energie betrieben wurde", sagte der Bundestagspräsident. "Heute vor 70 Jahren schwiegen in Europa endlich die Waffen."
Der 8. Mai sei kein Tag der deutschen Selbstbefreiung gewesen, so Lammert. Auch wenn die mutigen Versuche Deutscher im Widerstand nicht vergessen werden sollten, "gelten unsere Gedanken heute denjenigen, die die nationalsozialistische Terrorherrschaft beendet haben" - sowohl auf Seiten der westlichen Alliierten als auch der Roten Armee.
Festredner: Kriegsende wurde von wenigen als Befreiung gesehen
Heinrich August Winkler, emeritierter Geschichts-Professor an der Humboldt-Universität Berlin, sagte in seiner Festrede: "Als Befreiung erlebten die bedingungslose Kapitulation zunächst nur die Deutschen, denen der verbrecherische Charakter von Hitlers Herrschaft schon vorher bewusst geworden oder von jeher bewusst gewesen war."
Winkler zitierte den damaligen Premierminister Winston Churchill, der im Juni 1944 an seinen Außenminister Anthony Eden schrieb: "Es besteht kein Zweifel, dass es sich hier um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten Mitteln verübt wird."
Deutsche haben sich der "Monstrosität des Holocaust" gestellt
Viele Deutsche hätten einen langen und schmerzhaften Weg zurücklegen müssen, bevor sie diesem Urteil eines ehemaligen Kriegsgegners rückblickend zustimmen konnten, sagte Winkler. Wenn sie nicht bereit gewesen wären, sich "der einzigartigen Monstrosität des Holocaust" zu stellen, "wie hätte die Bundesrepublik Deutschland je wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft werden können?"
Auch seine Einheit habe Deutschland nur wiedererlangt, weil es mit den Teilen der politischen Tradition gebrochen habe, die der freiheitlichen Demokratie entgegen standen. Darauf habe Deutschlands "zweite Chance" beruht.
Keine Schuldgefühle, aber Geschichtsbewusstsein
Niemand erwarte von den nachfolgenden Generationen ein Schuldgefühl angesichts der Taten, die lange vor ihrer Geburt von Deutschen im Namen Deutschlands begangen wurden. Doch der Wille, sich der Geschichte des Landes im Ganzen bewusst zu werden, gehöre zur Verantwortung für das ganze Land.
In seiner Rede betonte der amtierende Bundesratspräsident, der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, die Bedeutung der Europäischen Union für den Frieden auf dem Kontinent. Er sagte zudem: "Der 8. Mai verlangt eine Haltung, die unser Tun bestimmen sollte." Es gehe um Respekt, Toleranz und Zivilcourage. "Nicht nur am 8. Mai, sondern immer wieder aufs Neue."
(vic/tzi)
*Anmerkung/Korrektur: In einer vorherigen Fassung war an dieser Stelle von Johannes Rau als Bundespräsident die Rede, das ist jedoch nicht korrekt.