Anja Reinhardt: Der 10. Dezember ist auch der Tag, an dem vor 70 Jahren – 1948 - die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde – im Pariser Palais de Chaillot, verkündet von der Vorsitzenden der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, Eleanor Roosevelt. Mitgeschrieben an der Menschenrechtscharta hatten auch Überlebende des nationalsozialistischen Terrors, so wie Stéphane Hessel, der im Konzentrationslager Buchenwald interniert war und der 2011 in Weimar sagte:
"Buchenwald war der Anfang von Europa, in Buchenwald haben wir, die Buchenwaldhäftlinge, gelernt: Es gibt keine andere Antwort auf das kommende Jahrhundert, als Europa zu bauen."
Die Erfahrung des Terrors als Grundlage für ein Miteinander – und darum geht es ja auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die keiner Religion, keinem Menschenbild, keiner Ideologie verhaftet war, sondern deren Grundlage die Anerkennung des Wertes jedes einzelnen Menschen war.
Die Historikerin Annette Weinke hat sich mit der Geschichte der Menschrechte beschäftigt, ich habe sie heute Nachmittag gefragt: Wie wichtig war das für die Idee einer neuen Gesellschaftsordnung, dass jemand wie Stéphane Hessel an dieser Erklärung mitschreibt?
Annette Weinke: Diese Personen haben sowohl bei der Ausarbeitung der UN-Menschenrechtserklärung wie auch später bei der Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention – die ist dann ja zwei Jahre später verabschiedet worden -, da haben diese Personen eine sehr große Rolle gespielt aufgrund ihrer politischen Erfahrung im französischen Widerstand. Eleanor Roosevelt hat es geschafft, innerhalb von 18 Monaten einen sehr heterogenen Kreis von Experten aus den Staaten zusammenzubringen. Das ist auch wichtig, dass es sich um Staatenvertreter handelte. Hessel trat als Vertreter seines Staates auf. Dort mussten ganz, ganz unterschiedliche divergierende Interessen zusammengebracht werden. Und im Ergebnis kam das heraus, was herausgekommen ist, nämlich ein unverbindlicher Text, der keinerlei Rechtskraft hatte. Und es wurde in gewisser Weise ins Auge gefasst, eine verbindliche Konvention zu schaffen. Das gelang aber erst 1966, das hat sich dann noch sehr, sehr lange hingezogen.
Von der Erfahrung des Widerstands geprägt
Reinhardt: Verantwortung für den anderen, das sei Zivilisation – so hat Hessel die Charta mal sehr knapp zusammengefasst. Bis zu seinem Tod hat er sie ja angeblich auch immer bei sich getragen. Und er hat auch immer wieder betont, wie wichtig Widerstand sei. Wie stark sind diese Gedanken eigentlich heute noch?
Weinke: Ja, ich denke schon. Diese Erfahrung des Widerstands geht sehr stark ein in den Text. Rechtliche Verbindlichkeit hatte der Text, wie gesagt, nicht. Aber er macht deutlich, dass man es nicht hinnehmen muss, wenn Staaten die Rechte ihrer Bürger verletzen. Das hat auch dann im Laufe der Jahrzehnte in gewisser Weise eine Eigendynamik angenommen. Das ist das Interessante an dieser Menschenrechtserklärung. Und das ist auch das, was Hessel bis zum Schluss betont hat: dass im Grunde diese symbolische Kraft dazu geführt hat, dass Menschen in aller Welt sich auf diesen Text berufen konnten – mit dem Ziel, die internationale Gemeinschaft zu moralischem Handeln zu animieren. Vorstaatliche Menschenrechte sind der Staatensouveränität ganz klar nachgeordnet, und insofern war es ein symbolisches Instrument, was aber dann in den 70er-Jahren und erneut in den 90er-Jahren eine sehr große internationale Wirkmacht erreicht hat. Und das hat Hessel natürlich auch reflektiert, dass er quasi in einer Zeit noch gelebt hat, als es wirklich noch zu einem späten Aufschwung der Menschenrechte kam, an den wahrscheinlich viele gar nicht mehr geglaubt hatten.
Menschenrechte gegen Staaten durchsetzen
Reinhardt: Ja. Aber andererseits hat er auch noch erlebt, dass im Namen der Menschenrechte wiederum Kriege geführt werden. Wie kann man das eigentlich erklären, wenn man sich die Grundlage dieser Charta noch mal ins Bewusstsein ruft?
Weinke: Im Grunde hat es damit zu tun, dass in den 90er-Jahren sich das Bewusstsein für die tiefe Zäsur des Judenmordes überhaupt erst weltweit festgesetzt hat. Das hängt sehr, sehr eng zusammen. Es hat im Grunde während der ersten Nachkriegsjahre gar keinen Versuch gegeben, jetzt den Holocaust als internationalen Erinnerungsort zu etablieren. Das ist eine Entwicklung, die erst viel, viel später einsetzt, in den 80er-, 90er-Jahren. Und die Idee, jetzt Menschenrechte gegen Staaten durchzusetzen, auch zu intervenieren, hängt damit zusammen, dass man jetzt sich darüber klar geworden ist, wie tief die Zäsur des Holocaust war: dass das in gewisser Weise der tiefste Einschnitt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Gleichzeitig haben sich in den 90er-Jahren in Europa wieder neue schreckliche Massenverbrechen ereignet, und das hat ja dann dazu geführt, dass es unter anderem auf internationaler Ebene, auf UNO-Ebene diesen Versuch gab, jetzt die Staatensouveränität zu beschränken und vor diesem Hintergrund auch die militärische Intervention in Erwägung zu ziehen.
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