Christa Bittner spielt ein Stück namens "Geburtstagsgruß" auf ihrem Flügel, umgeben von schwarz-weiß-Fotografien, von alten Stadtansichten Berlins. Heute ist sie 78 Jahre alt. Während der Berlin-Blockade war sie acht, wohnte mit ihrer Mutter im Wedding, im französischen Sektor. Die Sowjetunion hatte Autobahnen, Eisenbahnverbindungen und Schifffahrtswege nach West-Berlin abgeriegelt, weil die West-Alliierten in ihrem Teil Berlins die D-Mark eingeführt hatten.
"Ich weiß: Wenn ich meiner Mutter sagte: ‚Ich hab so einen Hunger‘, kriegte ich ne Ohrfeige. Die hatte ja auch Hunger. Es war so wenig, dass man also wirklich am liebsten am Daumen gelutscht hätte."
Im Zwei-Minuten-Takt landeten amerikanische und britische Maschinen auf den Berliner Flughäfen. Sie lieferten Trockenkartoffeln, Milchpulver, Mehl, Margarine – auch Kohle und Baumaterial – und versorgten so vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 2,2 Millionen West-Berliner. Christa Bittner blickt in den Berliner Himmel und sagt:
"Wenn ich ein Flugzeug sehe und das fliegt hier rüber, freue ich mich. Stört mich der Lärm auch nicht, gar nichts."
"Der Lärm war eben unentwegt"
Der Fluglärm war den Berlinern willkommen – auch der damals 20-jährigen Anita Stapel.
Sie wohnt heute in einem Reihenhaus in Lichtenrade im südlichen West-Berlin. Vor 70 Jahren lebte sie in Kreuzberg.
"Der Lärm war eben unentwegt, Tag und Nacht, aber niemand hätte sich beschwert darüber, und diese Maschinen waren wirklich sehr sehr laut. Es waren ja zweimotorige, und es kam noch hinzu: Sie mussten ja unter 3000 Meter fliegen, weil das die Bedingungen der Russen waren."
Der Militärgouverneur der amerikanischen Zone, Lucius Clay, setzte die Luftbrücke als Mittel gegen die sowjetische Blockade West-Berlins durch.
"Vor den Russen hatten wir immer Angst, vom Ende des Krieges an. Und als die nun zumachten – weil man ja in dem Moment auch nicht wusste, was draus wird. Die wollten ja Berlin sozusagen ganz haben. Und davor hatten wir riesige Angst. Wir waren im amerikanischen Sektor. Zum Glück. Damals, da waren wir heilfroh. Denn Berlin wurde ja so aufgeteilt, dass man gar keine Wahl hatte. Da, wo man wohnte, da war man eben dann."
Der bekannteste amerikanische Pilot war der sogenannte "Candy-Bomber" Gail Halvorsen. Er ist heute 98 Jahre alt.
"Im Juli 1948 traf ich Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren. Sie kamen an den Stacheldrahtzaun des Flughafens Tempelhof, und ich habe mich mit ihnen unterhalten, ungefähr eine Stunde lang. Dabei haben sie sich nicht einmal beklagt, nicht genug zu essen zu haben. Sie sagten: ‚Eines Tages werden wir genug zu essen haben. Aber wenn wir unsere Freiheit verlieren, werden wir sie nie wieder erlangen. Diese Kinder veränderten mein Leben."
425 Kilo Süßes für die Kinder in West-Berlin
Halvorsen bastelte kleine Fallschirme und befestigte Süßigkeiten daran. So landeten jeden Tag Schokolade und Bonbons für die Kinder in West-Berlin. Bald warfen Halvorsen und seine Crew täglich 425 Kilo Süßes ab. Davon hörte auch Christa Bittner. Sie lief zum Humboldthain, wo Halvorsen im Tiefflug die Kostbarkeiten verteilte.
"Und der Größte hat dann immer aufgepasst, dass auch die Kleinen was kriegten. Und einer hat mir dann Papier geschenkt – und da habe ich dran gerochen. Das roch nach Schokolade."
Christa Bittner war so abgemagert, dass französische Soldaten in der Schule auf sie aufmerksam wurden.
"Und die kamen dann in die Schule, stellten uns aufs Pult, und wer dickere Knie hatte als Oberschenkel, der wurde angemeldet zum Ausgeflogenwerden. Raus kommt ja jeder."
Die achtjährige Christa wurde nach einem halben Jahr ausgeflogen – mit einem britischen Mehltransporter.
"Keine Sitze drin, also nur diese Schalen. Dann haben sie uns verteilt, rechts und links, und angebunden, angeschnallt. Und dann haben sie uns gezeigt: Nase zuhalten und Luft schlucken und an den Ohren ziehen, damit wir den Überdruck wohl weg kriegen."
In einem Kinderheim im Schwarzwald wurde Christa Bittner aufgepäppelt. Sie erinnert sich an den Speiseplan: Milchreis mit Maden und Bucheckern aus dem Wald.
Anita Stapel sitzt in ihrem holzgetäfelten Wohnzimmer und erinnert sich: Sie wurde während der Blockade schwanger.
"Und als es dann auf die Welt kam, war es genau so: Das Kind hatte ein normales Geburtsgewicht und eine normale Größe, nur ich war nur noch ein Strich in der Landschaft, wie man so sagen kann."
Ein politisch und technisch waghalsiges Unternehmen
Ein Care-Paket war für Anita Stapel die Rettung.
"Also Zucker war drin, Mehl, Kakao. Ich weiß, dass sogar Kerzen drin waren, Kaffee war drin. Das war schon unglaublich. Und irgendwie Fett."
Die Luftbrücke war ein politisch und technisch waghalsiges Unternehmen. 41 Briten, 31 US-Amerikaner und 13 Deutsche starben bei Unfällen während der Luftbrücke. Die Entschiedenheit der westlichen Alliierten und ihre Sanktionen gegen die Sowjetisch besetzte Zone führten am 12. Mai 1949 zum Einlenken der Sowjets.
"Wir wussten: Sie schaffen’s. Wir wollten das ja auch. Wir haben ja gehungert. Wir haben alles gemacht, was wir konnten, damit wir am Leben bleiben.
"Und vor allen Dingen die Tatsache, dass es da Menschen gab, die vorher unsere Feinde waren, die uns ja besiegt hatten. Und dass die plötzlich so humanitär handeln und den ehemaligen Feinden auch solche Pakete zukommen lassen - das fand ich unglaublich."
Heute fragt sich Anita Stapel, warum das deutsch-amerikanische Verhältnis in den 70 Jahren seit Ende der Luftbrücke so gelitten hat.
"Dieses Gefühl den Amerikanern gegenüber – das ist mir unfassbar, dass das heute auf diese Weise so in die Brüche ging, ja."