Die Frau, die in Sportkleidung am Kaffeetisch sitzt, wirkt sehr dynamisch. Gleich muss Edeltraut Söhnel zum Training. 73 Jahre ist sie alt und der Sport hat ihr Leben geprägt: Seit 44 Jahren ist Söhnel Trainerin beim TV Trappenkamp und irgendwie passt es, dass sie sich dort nicht nur ums Turnen kümmert, sondern auch um die Bereiche Fitness und Boxen.
Denn wie viele Hundertausende auch musste sie sich damals durchboxen in Schleswig-Holstein nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwei Jahre war sie alt als die Familie vertrieben wurde aus dem Sudetenland. Über eine Zwischenstation in Bayern kam sie 1949 nach Neumünster – als Flüchtling. Von einer Willkommenskultur konnte damals keine Rede sein – zumindest nicht in Söhnels Erinnerung an die Zeit.
"Also, die Nachbarn, die Einheimischen, haben ganz kühl reagiert. Die haben zwar Guten Tag gesagt aber das war es dann auch. Weil wir eben aus der Fremde kamen und das war denen eben nicht geheuer, den Einheimischen. Das hat sich so bis 1952 hingezogen. Also, man wurde eben nicht beachtet. Und man hatte immer das Gefühl: Wer weiß, was die jetzt für Krankheiten mitbringen."
70-Jahr-Feier am Wochenende in Eutin
Vielerorts herrschte bei den Einheimischen nur wenig Bereitschaft, Wohnraum, Nahrung und Arbeit mit den Flüchtlingen zu teilen. Wenn Schleswig-Holstein an diesem Wochenende in Eutin sein 70-Jähriges Bestehen feiert, dann wird auch an dieses besondere Kapitel erinnert.
Kein anderes Bundesland hat pro kopfgerechnet nach 1945 so viele Flüchtlinge aufgenommen wie das Land zwischen den Meeren. Zählte Schleswig-Holstein im Mai 1939 noch knapp 1,6 Millionen Einwohner, waren es im Oktober 1946 rund 2,6 Millionen. Viele dieser neuen Schleswig-Holsteiner waren geflohen vor den Bombenangriffe auf Hamburg. Die meisten Flüchtlinge sollten zum Kriegsende hin aber aus dem Osten kommen.
"Also, der Norden war ja letztlich bis zum bitteren Ende noch unbesetzt. Und hierher haben sich dann eben die Leute auf Schiffen aus den von der Rotem Armee bedrängten Gebiete hergeflüchtet, eben weil das noch der Punkt war, oder die Region, die am weitesten entfernt war von der Roten Armee und wo man sich eben auch am meisten Sicherheit erhofft hat", sagt Oliver Auge, Professor für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein an der Uni Kiel.
Immer wieder sind Flüchtlinge nach dem Krieg in Schleswig-Holstein auch gegen den Willen der örtlichen Bevölkerung in Wohnungen und auf Bauernhöfen einquartiert worden. Die meisten landeten jedoch in Flüchtlingslagern über das ganze Bundesland verstreut. Noch im Jahre 1950 lebten rund 130.000 Flüchtlinge in solchen Unterkünften oftmals in vollkommener Enge.
Insgesamt habe Schleswig-Holstein diese Aufgabe gemeistert und die Flüchtlinge integriert, meint der Historiker Oliver Auge:
"Und es gibt immer wieder Untersuchungen, die unterstreichen, wie wertvoll dieser Bevölkerungszustrom gewesen ist für die Entwicklung Schleswig-Holsteins."
Auge nennt als Beispiel Trappenkamp: In der durch vertriebene Sudetendeutsche entstandenen Flüchtlingssiedlung sei durch mitgebrachte Handwerkerfähigkeiten eine kleine Industriekultur entstanden.
Inzwischen sind in Trappenkamp rund 5.000 Menschen aus 44 Nationen zu Hause. Auch für Edeltraut Söhnel ist das nahe Bad Segeberg gelegene Städtchen in den 70er-Jahren zur neuen Heimat geworden.
Norden als neue Heimat
Heute engagiert sie sich für die jüngst hierhergezogenen Flüchtlinge. Auf einer Willkommensparty beschloss sie die Patentschaft zu übernehmen für die syrische Familie Alhabash.
"Ja, und dann habe ich sie in mein Auto gepackt, weil ich ja sechs Sitze habe und dann konnte ich sie mitnehmen."
Der 16-Jährige Saad – der jüngste der fünf Söhne – ist voll des Lobes.
"Frau Söhnel war die erste, die uns aufgenommen hat. Ich erinnere mich immer noch. Das erste Mal, dass ich Trappenkamp sehe, das war wunderbar mit ihr. Und wirklich, wenn ich mit Frau Söhnel spreche, wenn ich mit Frau Söhnel telefoniere, fühle ich mich, als ob ich mit meiner Oma telefoniere."
Ein bisschen geschockt war ich zunächst schon, weil ich von Schleswig-Holstein noch nie zuvor gehört hatte, gesteht der Teenager. Doch inzwischen fühlt er sich hier sehr wohl. Für Saads Mutter ist die nahe gelegene Landeshauptstadt Kiel indes zu einem besonderen Hafen geworden – der sie an ihre Heimatstadt erinnert:
"Kiel - die Stadt ist sehr schön. Und gibt es ein bisschen ähnlich Gassen zwischen Damaskus und Kiel."