Von bis Ägypten bis Australien, von Panama bis zu den Philippinen: Was dabei herauskommt, wenn diese Staaten darüber streiten, was die Menschenrechte sind? Sätze wie dieser:
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, beschlossen 1948 – vor 70 Jahren – von den Vereinten Nationen. 18 Staaten wirken damals mit in der UN-Menschrechtskommission unter der Leitung von Eleanor Roosevelt, der ehemaligen First Lady der USA. Einig sind sich die 18 Staaten nur selten. Und so verwundert es nicht, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte praktisch von Beginn an mit dem Vorwurf konfrontiert ist: Sie sei gar nicht allgemein, sondern westlich, christlich, eurozentrisch.
"Nein. Also dieser Vorwurf stimmt überhaupt nicht."
Orientalische Werte?
Kamal Sido ist kurdisch-syrischer Deutscher, sunnitischer Muslim und vor allem: Menschenrechtler. Bei der Gesellschaft für bedrohte Völker ist er zuständig für die Menschenrechtslage im Nahen Osten. Die Vorwürfe an die Adresse der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte will Sido nicht gelten lassen:
"Wenn sie auch christlich wäre: Woher stammt das Christentum? Das Christentum ist im Nahen Osten, im Orient entstanden. Also es sind orientalische Werte letztendlich, und daher stimmt dieser Vorwurf überhaupt nicht."
Der Einwand, die Allgemeine Erklärung würde nicht die Werte aller Menschen und Kulturen gleichermaßen berücksichtigen, kam zum Beispiel aus China und Umgebung - unter dem Schlagwort "asiatische Werte". Die UN-Menschrechtserklärung stellt die Rechte des Individuums in den Mittelpunkt. Im Gegensatz dazu betonen besagte "asiatische Werte" stärker das Kollektiv – etwa Fleiß, Sparsamkeit, Anerkennung von Autorität und Gemeinschaft. Ähnliche Kritik wurde auch in islamisch geprägten Staaten laut, erklärt Kamal Sido.
"Einige oder viele Muslime meinten immer, diese allgemeine Erklärung sei nicht vereinbar mit den Werten des Islam, mit dem Koran, und deswegen fühlten sie sich nicht verpflichtet – also die Machthaber – diese Erklärung der Menschenrechte umzusetzen."
"Unter Gott vereint"
1982 etwa kritisierte der Vertreter des Iran bei den Vereinten Nationen, die Menschenrechtserklärung sei "eine säkulare Interpretation der judäo-christlichen Tradition", die von Muslimen nicht ohne Bruch des islamischen Rechts befolgt werden könne.
Also formulierten islamisch geprägte Staaten eine eigene Erklärung. Zunächst eine inoffizielle, 1990 dann beschließt die Organisation der Islamischen Konferenz die "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam". Sie ist angelehnt an die Allgemeine Erklärung, liest sich teils ähnlich, ist aber tatsächlich grundverschieden. Artikel 1 beginnt hier so:
"Alle Menschen bilden eine Familie, deren Mitglieder durch die Unterwerfung unter Gott vereint sind und alle von Adam abstammen."
"Grundsätze der Scharia"
Immer wieder verweist die islamische Erklärung auf Gott, auf den "wahrhaften Glauben" – also den Islam – und auf die Scharia. Damit werden die allgemeinen Menschenrechte eingeschränkt.
"Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung, soweit er damit nicht die Grundsätze der Scharia verletzt."
Die islamische Erklärung relativiert außerdem die Rechte von Frauen sowie die Religionsfreiheit. Abschließend heißt es:
"Alle in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freiheiten sind der islamischen Scharia nachgeordnet."
Nun gilt in der islamisch geprägten Welt aber nicht überall dieselbe Scharia. Die verschiedenen Staaten, Konfessionen und Rechtsschulen legen das islamische Recht unterschiedlich aus. Die Erklärung der Menschenrechte im Islam lässt also bewusst Interpretationsspielräume offen – und ist auch deshalb aus Sicht von Menschenrechtlern problematisch.
"Das Problem dieser Erklärung ist genau das, was wir nicht haben wollen, und zwar belässt sie die Deutung in den Händen der Mullahs, der Hodschas, der Imame. Wir wollen die Menschenrechte nicht deuten, sondern umsetzen."
"Selbst diese Erklärung will man nicht umsetzen"
Kamal Sido kann der islamischen Menschenrechtserklärung trotzdem auch etwas Positives abgewinnen: Denn es wäre für viele islamische Staaten ein Fortschritt, wenn sie zumindest ihre eigene Erklärung umsetzen würden, sagt er mit einem Augenzwinkern.
"Sind einige Punkte, die sehr gut sind. Die sollte man sofort umsetzen, vor allem in den muslimischen Ländern. Ich würde sagen, in Saudi-Arabien, im Iran, in Pakistan. Aber das Problem: Selbst diese Erklärung will man nicht umsetzen."
Der Grund dafür könnte auch sein, dass die islamische Erklärung der Menschenrechte kaum bekannt sei in islamisch geprägten Staaten, vermutet Kamal Sido.
"Ich glaube viele in der islamischen Welt – in der arabisch-islamischen Welt, haben von dieser Erklärung gar nicht gehört. Weil das ist oft in den herrschenden Kreisen gar kein Thema. Vielleicht in Europa bekannter, glaube ich, die islamische Erklärung der Menschenrechte, als in der islamischen Welt."
"Auch die arabische Erklärung brauchen wir nicht"
Das könnte auch für eine weitere Erklärung gelten: die Arabische Charta der Menschenrechte, 2004 nach langem Hin und Her beschlossen.
"Die Araber wollten ein Zeichen setzen, dass auch die arabischen Länder sich um Menschenrechte kümmern. Und deswegen hat die Arabische Liga diese Erklärung verabschiedet."
Sie ist vergleichbar mit anderen regionalen Abkommen – wie der Europäischen und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention oder der Afrikanischen Charta der Menschenrechte. Im Vergleich zur islamischen Erklärung nähert sich die Arabische Charta den allgemeinen Menschenrechten wieder an.
"Die arabische ist ein Stück weiter als die islamische Erklärung. Aber auch die arabische brauchen wir nicht."
Für den kurdisch-syrisch-deutsch-sunnitischen Menschenrechtler Kamal Sido gibt es nur eine sinnvolle Lösung:
"Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt für alle."