Beatrix Novy: Als in den 70er und 80er-Jahren die Ökologie entdeckt war, außerdem Trends wie New Age, Esoterik etc. zu Hochformen aufliefen, stellte man gern die exakten Wissenschaften, überhaupt die aus der Aufklärung kommende rationale Weltsicht in Frage, war die doch dabei, den Planeten zu zerstören. Da hatte man was entdeckt, aber offenbar ein einflussreiches Buch schon wieder vergessen: die "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor Adorno. Dieses erfolgreiche Buch während der Studentenbewegung (Raubdrucke stehen immer noch in vielen Wohnungen), geschrieben während des Zweiten Weltkriegs im Exil unter dem Eindruck der Barbarei des Faschismus, dem der Aufstieg der Vernunft eben nicht hatte beikommen können. Warum nicht, das Problem entdeckten die Verfasser in der Aufklärung selbst, im Herrschaftsanspruch ihrer instrumentellen Zielsetzungen.
70 Jahre wird im nächsten Jahr die "Dialektik der Aufklärung". Das war ein Anlass für eine Tagung an der Universität Marburg. Professor Winfried Schröder ist einer der Veranstalter. Ihn habe ich gefragt, mit welchem Bild von diesem einflussreichen Werk man heute nach 70 Jahren an seine Aussagen herangeht und was die Tagung von dem Buch wollte.
Winfried Schröder: Die Idee war es, diese vernunftkritischen, rationalitätskritischen Thesen wie folgt zu prüfen. Horkheimer und Adorno meinen nämlich, dass das rationale instrumentelle Denken seinen reinsten Ausdruck bei Philosophen der Aufklärung gefunden hat und bei den Vorgängern der Aufklärung, also bei Francis Bacon, bei Spinoza und bei Kant. Und der Nachweis, dass die Rationalität diese fatalen Folgen hat, lassen sich anhand der Texte dieser Protagonisten der Aufklärung führen. Wir haben dann gedacht, gut, schauen wir nach, lässt sich diese Rationalitäts- und Aufklärungskritik tatsächlich belegen anhand der Texte von Kant, Spinoza und Bacon. Das ist sozusagen unser Zugang gewesen und deshalb haben einige Experten zu diesen Philosophen sich hier zusammengefunden auf der Tagung und wir haben den beiden Frankfurtern, denen man eine Expertise zur Aufklärung ja sehr bereitwillig zuschreibt, kritisch auf die Finger geschaut.
"Kant ist die dominante Figur"
Novy: Das heißt also, es gab immer schon Philosophen, die die Aufklärung auch tatsächlich als das verstanden, was dann schließlich Horkheimer und Adorno über sie herausgefunden haben, nämlich als ein sehr doppelgesichtiges Phänomen.
Schröder: Man muss beides sagen. Was Sie gerade andeuten: Adorno und Horkheimer stehen nicht alleine da mit ihrer kritisch ambivalenten Sicht auf die Aufklärung. Aber es gab auf der anderen Seite natürlich die Verfechter des Aufklärungsprojektes, die eine solche Ambivalenz nicht gesehen haben, und es gab schließlich das Lager der konservativen Aufklärungskritiker, die sagten, die Zersetzung letztlich religiös fundierter Wertvorstellungen durch die Aufklärung und ihrer Traditionskritik führt uns in den Abgrund, in den moralischen Nihilismus, letzten Endes zu Positionen wie der des Marquis de Sade mit seiner sozusagen Ethik der Grausamkeit.
Wenn man genau schaut, welche Kandidaten müssen wir eigentlich befragen, um die Angemessenheit der Aufklärungskritik zu beurteilen, dann würden Horkheimer und Adorno sagen, Kant ist die dominante Figur. Wir wissen natürlich, dass das eine höchst selektive Sicht ist. Mindestens so einflussreich sind die französischen Materialisten der Aufklärung oder der vorhin schon genannte Bentham. Und bei Bentham zum Beispiel sehen wir genau das Gegenteil dessen, was Horkheimer und Adorno der Aufklärung attestieren. Wir sehen nicht eine Unterdrückung der Natur im Menschen, des naturhaften Triebhaften. Wir sehen nicht den Zwang zum Triebverzicht, sondern im Gegenteil eine Rehabilitierung der Sinnlichkeit. Bentham bezeugt besser als jeder andere, dass die Traditionskritik der Aufklärung zu einer Rehabilitierung der Sinnlichkeit, der Lust, des Körperlichen geführt hat. Bentham war vermutlich der erste Philosoph, der einen Text geschrieben hat zur Homosexualität, gegen die Ächtung der Homosexualität. Jede Art von Libido ist gleich gut. Die Vernunft hat gar nichts dazu zu sagen. Die Moral hat gar nichts dazu zu sagen.
Rehabilitierung der Aufklärung
Novy: Ist denn dieses Auftun weiterer Kronzeugen eines Aufklärungsprojekts, wie es in diesem Sinne verstanden wird, ist das jetzt eine Rehabilitierung der Aufklärung als selbstkritische Strömung, oder ist es eine Rehabilitierung des Buches, oder ist es eine Kritik am Buch von Horkheimer und Adorno?
Schröder: Ich berichte hier über eine Diskussion zwischen sehr verschiedenen Forschern und über eine Diskussion, in der es einige Dissense gab. Aber ich glaube, ich kann doch sagen, es ergibt sich eine Rehabilitierung der Aufklärung, wenn man die Sicht auf die Aufklärung befreit von dem Tunnelblick auf Kant, den Horkheimer und Adorno hatten. Die beiden alten Frankfurter kommen aus einem neukantianischen Kontext. Deshalb ist ihre Kant-Fixierung biografisch verständlich, aber sie ist sachlich nicht angemessen. Wenn wir also die Aufklärung in der Vielfalt ihrer Strömungen sehen, wenn wir zweitens die verengende und zum Teil grotesk regierende Kant-Deutung, die sie bieten, wegnehmen, denke ich, muss man sagen, dass eine Rehabilitierung der Aufklärung das Ergebnis ist.
Novy: Dank an Winfried Schröder für diesen Blick auf die Tagung der Universität Marburg zum 70. Jubiläum der "Dialektik der Aufklärung".
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