"Manchmal beim Lesen dieser historischen Texte hatte ich Gänsehaut."
Maritta Tkalec blättert in der allerersten Ausgabe der "Berliner Zeitung", bei der sie seit über 30 Jahren als Redakteurin arbeitet. Die Pionierleistung ihrer frühen Kollegen fasziniert sie:
"In den ersten Tagen sind sie nicht nur durch Trümmer gekrochen und haben Maschinen und Papier beschafft; die Lage war unsicher: Die Nationalsozialisten waren gerade erst wenige Tage besiegt, sie waren ja auch noch da, Menschen, die bis zum Schluss fanatischen Widerstand geleistet hatten. Natürlich hörte man auch von Übergriffen von Soldaten der Roten Armee gegen Frauen. Und die ersten Journalisten, die haben tagelang nicht an Essen gedacht und haben Tag und Nacht gearbeitet, also das nötigt einem enormen Respekt ab – Hut ab."
Chefredaktion lag in russischer Hand
Die ersten Journalisten, das war eine Handvoll Kreative, die die NS-Zeit im Exil verbracht hatten: Rudolf Herrnstadt zum Beispiel, Konrad Wolf oder Fritz Erpenbeck. Die Chefredaktion lag in russischer Hand, denn 1945 herrschte die Sowjetunion als einzige der vier alliierten Siegermächte in Berlin:
"Man kann erfahren, dass bereits im Dezember 1944 der sowjetische Oberst Alexander Kirsanow von den Zuständigen der Roten Armee beauftragt wurde, sich Gedanken zu machen über die Wiedereinrichtung von Zeitungen im zukünftig befreiten Deutschland. Und tatsächlich wurde der nach Berlin befohlen am 18. Mai und damit beauftragt, innerhalb von zwei Tagen die erste Zeitung auf die Beine zu stellen."
Kirsanov hat dann drei Tage gebraucht: Am 21. Mai 1945 erschien die "Berliner Zeitung" zum ersten Mal.
"Die erste Ausgabe hatte vier Seiten, der Zeitungskopf noch ohne den Berliner Bären, Schlagzeile: Berlin lebt auf – mit einem dicken roten Strich darunter."
100.000 Exemplare waren gedruckt worden und die Leute haben sie den Zeitungsverkäufern förmlich aus den Händen gerissen: Nach dem Informationsvakuum und unzähligen Gerüchten in den letzten Kriegstagen wollten die Menschen endlich verlässliche Nachrichten – und gute:
"‚Der Berliner Verkehr lebt auf!‘ Das war natürlich für die Leute ganz wichtig. Das Gaswerk arbeitet wieder, die Bank eröffnet wieder, es öffnen wieder 5.000 Lebensmittelgeschäfte, die ersten Züge fahren wieder. Es gab eine erste Kulturnachricht: ‚Neues Leben, neue Klänge‘, da geht es um das bevorstehende Pfingstkonzert des Berliner Kammerorchesters. Und es gibt ein Sendeprogramm Berliner Rundfunksender."
"Berliner Zeitung" in der DDR
Schon nach wenigen Wochen, im Juli 1945, wurde die "Berliner Zeitung" von der sowjetischen Administration an den Magistrat von Groß-Berlin übergeben. Weil der Verlag im Ostteil der Stadt lag, vor allem aber wegen ihrer "antifaschistischen Ausrichtung", wurde die Tageszeitung nach Gründung der DDR schließlich dem Zentralkomitee der SED unterstellt. Allerdings erst 1953 – und auch nicht als reines Parteiorgan, das war das "Neue Deutschland":
"Wir waren so ein bisschen an der längeren Leine. Und die Zeitung war ausgesprochen beliebt wegen ihrer Lokalberichterstattung und wegen der kulturellen Berichte. Und da fand man schon auch Dinge, die so im etwas steiferen "Neuen Deutschland" nicht standen. Allerdings der politische Korridor, was man durfte und was man nicht durfte, der war natürlich auch sehr beschränkt."
Nicht zur Hauptstadtzeitung geworden
Dennoch hatte die "Berliner Zeitung" vor der Wende eine Traumauflage von 500.000 Exemplaren, so dass sich nach 1990 mehrere große West-Verlage dafür interessierten.
"Nach der Privatisierung bestand schon die große Hoffnung, dass sich die Zeitung eine starke Leserschaft auch im Westteil der Stadt erobert und auch darüber hinaus gelesen werden sollte. Man hat wirklich vieles versucht, man hat großartige Journalisten so Mitte der 90er-Jahre von der "FAZ", von der "taz" geholt, um auch einen Qualitätsschub zu geben. Aber Zeitungsleser sind Gewohnheitstiere."
Das heißt, die "Berliner Zeitung" wurde nicht, wie erhofft, zur Hauptstadtzeitung des wiedervereinigten Deutschlands.