Vor 75 Jahren, am 21. Februar 1946, erschien die erste Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit". Sie umfasste acht Seiten und kostete 40 Pfennig.
Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Blatt von etlichen bekannten Persönlichkeiten geprägt – und bis heute zählt "Die Zeit" mit ihren Print- und Online-Angeboten zu den führenden Medienhäusern in Deutschland.
Vor allem zwei Namen stehen bis heute für die Gründungsphase und die ersten Jahrzehnte: So erhielt der Verleger Gerd Bucerius zusammen mit anderen Unternehmern kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den britischen Militärbehörden die Lizenz für eine Wochenzeitung. Auch die spätere Chefredakteurin Marion Gräfin Dönhoff schrieb von Beginn an für die Zeitung.
Nach dem Tod von Gründer Bucerius 1995 wurde der Zeitverlag von der Holtzbrinck Gruppe übernommen. Das Layout wurde erneuert und die Titelseite mit Fotos belebt. 1996 ging "Die Zeit" online.
Heute zählt das Blatt zu den wenigen gedruckten Zeitungen, deren Auflage steigt. Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagte im Deutschlandfunk, es sei zentral für die Zukunft, "dass man wirtschaftlich so dasteht, dass man unabhängigen Journalismus und aufwendigen Journalismus noch leisten kann".
Sebastian Wellendorf: Acht Seiten war sie dick – oder dünn: die Ausgabe Nummer eins der "Zeit". 75 Jahre ist das her, im Februar 1946, dass sie zum ersten Mal erschienen ist. Und wenn wir diese Jahreszahl wirken lassen – 1946 – und alles, was da historisch mitschwingt, dann können wir erahnen, welche Bedeutung dem unabhängigen Journalismus und der freien Presse damals beigemessen wurde. Was sich verändert hat für die Zeitung, aber auch für die Ideale des Journalismus, darüber habe ich vor der Sendung mit dem "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo gesprochen – und ich habe ihn zunächst gefragt, wie "Die Zeit" das Jubiläum heute inhaltlich begeht, für all diejenigen, die die aktuelle Print-Ausgabe nicht vor sich liegen haben.
Giovanni di Lorenzo: Wir werden kein Fest machen dieses Jahr. Das erste Mal, dass wir einen runden oder halbrunden Geburtstag nicht feiern. Stattdessen versuchen wir ein bisschen, unsere Leserinnen und Leser zu feiern. Und wir wollen das tun, indem wir heute anfangen mit einer Serie unter dem Motto "75 Jahre ‚Zeit‘, 75 Ideen für ein besseres Leben". Das sind manchmal ganz kleine Erfindungen oder Initiativen, manchmal ganz große. Aber alle haben eines gemeinsam: Menschen haben es aus eigener Initiative geschafft, etwas zu schaffen, was die Welt ein kleines bisschen erträglicher macht.
Wellendorf: Quasi ein erbaulicher Beitrag in diesen Corona-Zeiten.
Di Lorenzo: Erbaulich klingt so handgestrickt, es sind aber zum Teil ganz wunderbare und elektrisierende Geschichten.
"Massivsten Anfeindungen ausgesetzt"
Wellendorf: Ich möchte aus der Ausgabe Nummer eins vor 75 Jahren zitieren. Da hat die Redaktion auf der Titelseite nämlich ihre journalistischen Ziele formuliert: "Nach zwölf Jahren der Nazi-Herrschaft und Propaganda eine freie Presse in Deutschland wiederherzustellen" – Zitatende. Herr Di Lorenzo, heute berichten Journalistinnen und Journalisten vor einem anderen historischen Hintergrund und mit anderen Erfahrungen. Aber dennoch: was würden Sie jetzt in so einem Artikel als Ziele beziehungsweise Anliegen ihrer Zeitung formulieren?
Di Lorenzo: Das ist genau das Thema, was ich mir vorgenommen habe jetzt für diese Geburtstagsausgabe in einem Leitartikel auf der Seite eins. Was heißt es heute, liberale Wochenzeitung zu sein? In `46, als alles losging, da war es der Versuch, in einem in jeder Hinsicht verwüsteten Land mitzuwirken an der Schaffung einer politischen Mitte. Aufklärung, Vernunft, Frieden, Demokratie. Heute erscheint dies weitgehend selbstverständlich, aber es gibt neue Bedrohungen. Für manche Medien sind es die wirtschaftlichen Gegebenheiten, in Ländern, in denen es nicht so gut geht wie Deutschland, gibt es Journalisten und Journalisten, die für ihre investigativen Recherchen mit dem Leben bezahlen.
Aber es gibt auch in einem augenscheinlich kommoden Land wie Deutschland Kolleginnen und Kollegen, die massivsten Anfeindungen ausgesetzt sind, auch bei der "Zeit". Sei es, dass sie einen Migrationshintergrund haben. Dann ist völlig egal, was Sie schreiben, sie werden aufs wüsteste und unflätigste beschimpft. Sei es, dass sie sich Themen... und Autorinnen zum Beispiel über Gendergerechtigkeit schreiben und sofort geht der Shitstorm los. Man muss aber auch sagen: Das sind alles Angriffe von rechts, auf der anderen Seite es Kolleginnen und auch Funktionsträger gibt – zum Beispiel bei der konservativen Springer-Presse, konservativeren Springer-Presse –, die Ähnliches erleben, wenn auch unter einem anderen Vorzeichen.
Und beides ist gleichermaßen furchtbar und dürfte eigentlich nicht sein. Und insofern, finde ich, gibt es viele gute Gründe, die Mitte im Moment stark zu machen, die durchaus streiten kann und soll, aber im Moment ziemlich farblos und grau geworden ist und ein bisschen verzagt wirkt angesichts dessen, was von den Rändern reingeschrien wird.
Wellendorf: Was bedeutet das für den Journalismus zum Beispiel ihrer Zeitung? Wie kann man da die Ränder und die polarisierenden Meinungen auf eine sachliche Ebene holen und dann möglicherweise vereinen?
Di Lorenzo: Ich glaube, dass wir niemals den Anspruch aufgeben dürfen, unterschiedliche Gruppen ins Gespräch zu bringen miteinander, Realitäten unterschiedlichster Prägung sichtbar zu machen. Das heißt, in dem Moment, wo Medien anfangen, nur noch eine bestimmte Klientel vor Augen zu haben, laufen sie Gefahr, an etwas mitzuwirken, worunter wir eigentlich alle leiden und was wir alle beklagen, nämlich an der Spaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Eins der schlimmsten Probleme, die wir im Moment haben.
"Offen für das Gegensätzliche"
Wellendorf: Heißt das, dass "Die Zeit" das in den letzten Jahren möglicherweise auch ein bisschen versäumt hat, alle anzusprechen?
Di Lorenzo: Das weiß ich nicht. Sie ist ja sehr gewachsen, also müssen wir ja Menschen erreicht haben. Ich glaube, dass es Ermutigung ist, da weiterzumachen, wo unsere Vorfahren bei der "Zeit" angesetzt haben. Bei uns gab es ja in den 50er-Jahren die prägendste Auseinandersetzung. Da hat Marion Gräfin Dönhoff gegen ihren damaligen Chef, der das Blatt nach rechts rücken wollte, mit viel Mut und mit hohem Einsatz es geschafft, das Blatt wieder zu einem liberalen zu machen. Liberal heißt ja nicht wirtschaftlich liberal und schon gar nicht parteipolitisch liberal. Sondern Liberal heißt: offen für das Gegensätzliche, schützend vor Diffamierung abweichender Meinung dazustehen, einzustehen. Es heißt, dass die Minderheit nicht von der Mehrheit majorisiert werden darf. Und das, glaube ich, ist heute gültiger denn je. Auch der Anspruch, dass wir die Leute nicht indoktrinieren wollen, die uns Gottseidank lesen, sondern ihnen die Mittel an die Hand geben wollen, damit sie sich eine eigene Meinung bilden können.
Wellendorf: Sie haben eben die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angesprochen. Auch die haben sich ja verändert. Ich glaube, man kann sagen, dass der Zeitungsmarkt sich in den letzten zehn Jahren so stark verändert hat, wie in den gesamten 60 Jahren davor. Was würden Sie sagen, worin Sie die größte Herausforderung derzeit sehen, wenn wir auf die Digitalisierung, auf die Mediennutzungsveränderung, Social Media usw. schauen? Was ist da die große Herausforderung für Ihr Blatt?
Di Lorenzo: Dass man wirtschaftlich so dasteht, dass man unabhängigen Journalismus und aufwendigen Journalismus noch leisten kann. Das ist natürlich nicht mehr dann der Fall, wenn die Auflagen einbrechen und die Werbeeinnahmen sinken. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir einiges auch selber in der Hand haben. Vielleicht sind sinkende Auflagen nicht nur dem Strukturwandel, also vor allem natürlich der Digitalisierung geschuldet. Vielleicht gibt es hier und da auch eine Entfremdung zwischen Medienmachern und jenen, die diese Medien nutzen sollen.
"Man baut sich sein Zelt"
Wellendorf: Das heißt, ein bisschen haben diejenigen das auch selbst zu verantworten, dass sich die Leser oder Hörer oder Zuschauer verabschieden?
Di Lorenzo: Ich halte jetzt nichts von Schuldzuweisungen, aber nichts ist monokausal. Vieles ist natürlich durch den Strukturwandel zu erklären. Aber gerade das Beispiel der "Zeit", der man um die Jahrtausendwende eher das Totenglöckchen geläutet hat, als es noch überhaupt keine digitale Herausforderung gab, zeigt doch, dass es auch möglich ist, eine Trendumkehr zu schaffen. Es sind natürlich auch Momentaufnahmen, zeigt aber auch, dass wir Instrumente in der Hand haben, nach wie vor Menschen zu erreichen. Und es ist meine feste Überzeugung, dass zu den Gründen, die zu diesem Erfolg führen, auch die Meinungsvielfalt in unserem Blatt zählt.
Wellendorf: Warum ist es immer noch gut, eine gedruckte Ausgabe in der Hand zu haben und nicht die E-Paper-Version?
Di Lorenzo: Die Antwort ist ganz einfach: weil es einfach genug Leserinnen und Leser gibt, die es noch so haben möchten, in Papierform. Wir haben ja – auch das macht uns sehr, sehr glücklich – nach wie vor junge und sehr junge Leser. Und selbst von denen möchte die Hälfte die Ausgabe noch in Papierform haben. Offenbar ist "Die Zeit" etwas, womit man sich zurückzieht. Man baut sich sein Zelt und fängt an zu lesen. Die Größe dazu ist da.
Wellendorf: Ja, zum Zelt bauen reicht es allemal. Der "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo – mit ihm habe ich über die Inhalte und die Aussichten beziehungsweise Herausforderungen des Blattes zum 75. Geburtstag gesprochen. Nicht sein Geburtstag, sondern des Blattes.
Di Lorenzo: Nein, noch nicht.
Wellendorf: Danke, Herr di Lorenzo.
Di Lorenzo: Sehr gerne.