Archiv

75 Jahre nach Katyn
"Polen und Russland sind sehr weit auseinandergerückt"

Vor 75 Jahren ermordete der sowjetische Geheimdienst bei Katyn 22.000 polnische Offiziere und Angehörige der Elite. Die russische Zivilgesellschaft habe enorm viel zur Aufklärung der Verbrechen beigetragen, sagte der polnische Historiker Wlodimierz Borodziej im DLF. Doch das offizielle Russland steuere konsequent dagegen.

Wlodzimierz Borodziej im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Der polnische Historiker Prof. Dr. Wlodzimierz Borodziej gibt am Dienstag (04.05.2010) im Rathaus von Oldenburg eine Pressekonferenz zu seiner Auszeichnung mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik.
    Der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej (picture-alliance/ dpa / Ingo Wagner)
    Noch immer sei Katyn einer der wichtigsten Erinnerungsorte für Polen, sagte der polnische Zeitgeschichtler im DLF-Interview. Das Massaker von Katyn zähle für die Polen zu den zentralen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Zugleich sei es ein gleichsam abgeschlossenes Kapitel - anders als etwa der sowjetische Einmarsch in Polen.
    Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise habe die Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee ab dem 17. September 1939 eine größere Bedeutung in der individuellen Erinnerung. Heute sehe Polen in Russland sehr wohl eine militärische Bedrohung, die Angst, dass sich Katyn wiederholen könnte, gebe es dagegen nicht.
    Borodziej, Co-Leiter des Jenaer Imre-Kertész-Kolleg für osteuropäische Zeitgeschichte, war bei den russisch-polnischen Gedenkfeiern im April 2010 dabei. Damals habe es eine Annäherung beider Länder im Gedenken gegeben. Nach dem anschließenden Flugzeugunglück vom 10. April 2010 nahe Smolensk, bei der Polens Staatspräsident Lech Kaczyński und zahlreiche Parlamentarier ums Leben kamen, habe sich das Verhältnis deutlich verschlechtert. Inzwischen sei die Sicht auf den 10. April in Russland und vor allem in der polnischen Rechten völlig anders. Nun seien beide Länder "sehr weit auseinandergerückt".
    Zugleich zeige sich am Beispiel Katyn der geschichtspolitische Revisionismus der russischen Regierung. Während die russische Zivilgesellschaft, etwa Organisationen wie "Memorial", viel zur Aufarbeitung der Verbrechen von Katyn geleistet habe, arbeite das offizielle Russland "konsequent dagegen", sagte der Historiker und ergänzte: "Es ist beunruhigend, einen Nachbarn zu haben, der Schwarz als Weiß bezeichnet".
    Das Massaker von Katyn: Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen tötete der sowjetische Geheimdienst in der Nähe des westrussischen Ortes Katyn und an weiteren Orten zwischen dem 3. April und dem 19. Mai 1940 mehr als 20.000 polnische Gefangene.
    Die Offiziere und Vertreter der bürgerlichen Elite wurden durch Genickschuss hingerichtet. Im April 1943 fanden Einheiten der deutschen Wehrmacht im Wald von Katyn bei Smolensk Massengräber mit mehr als 4.000 Leichen. Die Sowjetunion leugnete über Jahrzehnte die Täterschaft und machte deutsche Truppen dafür verantwortlich. Erst 1990 gab der damalige Kremlchef Michail Gorbatschow zu, dass Josef Stalin den Befehl zu dem Massaker gegeben hatte.
    Hinweis: Das Gespräch können Sie mindestens fünf Monate lang als Audio-on-demand abrufen.