"Junge Mädchen, die in den Wohnungen der Bürgersleute am fremden Herd stehen, junge Burschen, die in den Kasernen exerzieren, eine ganze junge Menschheit, die in der ungeheuren Stadt kein Zuhause hat, die im Wirbel dieses brausenden Lebens verlaufen und einsam ist, findet hier, im rauchig-dunstigen Saal ein Stückchen Heimat."
Tanzböden, Tierbändiger, Damen ohne Unterleib - der Wurstlprater im großen Wiener Pratergelände diente seit je dem Vergnügen des einfachen Volks und seiner Beobachter aus den höheren Klassen. Zu letzteren gehörte Felix Salten, Journalist und Schriftsteller. 1911 erschien das Buch, das seinen Nachruhm als moderner Autor mitbegründen sollte: Wurstlprater". Eine Bild-Text-Collage über Trostlosigkeit und Kraft des Schaustellergewerbes mit eindrücklichen Fotos von Emil Mayer, die neben den zeitgenössischen Genres der Sozialreportage eines Max Winter oder den Flaneur-Skizzen eines Peter Altenberg eine intermediale Neuheit darstellte.
Fürsprecher der sexuellen Befreiung
Offen propagierte Salten das Recht, das die "junge Menschheit" sich nachts auf den Praterwiesen nahm: auf ein Leben ohne heuchelnde Sexualmoral.
"Einfach, wie nirgendwo anders sonst, enthüllen sich hier die einfachen menschlichen Triebe. Die Lust des Weibes am Mann. Die Lust des Mannes am Weibe."
Die libertäre Gesinnung teilte der Autor mit seinen Schriftstellerkollegen im Kaffeehaus. Felix Salten, geboren 1869 als Siegmund Salzmann in Budapest, aufgewachsen in Wien, stieß früh zur Literatengruppe "Jung Wien". Im Café Griensteidl traf er Hermann Bahr und Arthur Schnitzler, lernte den jungen Hugo von Hofmannsthal kennen und schloss herzliche Feindschaft mit Karl Kraus, der sich in gewohnter Gnadenlosigkeit an den Schwächen seines Kollegen rieb
"Im journalistischen Dienste hart mitgenommen, hat sich der Literat bis heute doch seine Eigenart zu wahren gewusst. Die Verwechslung des Dativs mit dem Akkusativ gelingt ihm noch immer mit unverminderter Jugendfrische."
Multimedialer Mehrfachverwerter
Ja, Salten schrieb für Geld, weil er es gern ausgab. Er tat es mit immensem Fleiß und unter etlichen Synonymen, schrieb Romane, Theaterkritiken, Bühnenstücke, Libretti und Leitartikel, reüssierte bei großen Zeitschriften, nutzte die Möglichkeiten des neuen Mediums Film und verfasste Drehbücher:
"Sein Schreiben orientiert sich stark auch an einer Nachverwertung, die Möglichkeit, seine Romane filmisch umzusetzen, ist etwas, was ihm schon sehr bewusst ist und auch beim Schreiben kenntlich steuert", so der Historiker Siegfried Mattl über Saltens literarische Produktivität, die sich an Strömungen der Zeit ausrichtete. Spektakulären Nachruhm erntete er nur mit zwei Titeln, zu einem von ihnen hat er sich nie ausdrücklich bekannt: Die – durchaus zufriedene - Lebensbeichte der Dirne Josefine Mutzenbacher, angeblich von ihr selbst erzählt.
"Aus Armut und Elend, wie ich entstammt bin, habe ich alles meinem Körper zu verdanken. Ich bin nicht im Dreck der Vororte erstickt. Ich habe mir eine schöne Bildung erworben, die ich nur einzig und allein der Hurerei verdanke."
Saltens anderes Erfolgsbuch über ein getüpfeltes Reh stempelte den angeblichen Pornografen zum angeblichen Kinderbuchautor: "Bambi" war nur eines seiner schönen Tierbücher, mit denen er einen eigenen Weg beschritt, die Natur nach Menschenart, und doch realistisch sprechen zu lassen. So wie Waldemar Bonsels "Biene Maja", ebenfalls kein Kinderbuch, wurde auch "Bambi" zum historischen Missverständnis.
"Was war das?" fragte Bambi erregt.
"Nichts", beschwichtigte die Mutter.
"Aber…" Bambi zitterte, "aber… ich hab’s doch gesehen."
"Nun ja", sagte die Mutter, "erschrick nicht. Der Iltis hat die Maus getötet."
Dass Bambis Mutter selbst das Opfer eines Jägers wird, konnte sogar in der niedlichen Disney-Verfilmung nicht verschwiegen werden und schockiert seither Generationen kleiner Kinogänger.
Bambi als Produkt des Ersten Weltkriegs
"Worum geht es in Bambi? Es geht um Massaker, es geht um die Jagd, die eigentlich als analog gesehen werden sollte zur Erfahrung dieser industriellen Kriegsmaschinerie des Ersten Weltkriegs, die Salten ja sehr beunruhigt hat."
Die Bambi-Verfilmung und ihren enormen Erfolg hat Salten noch erlebt – und um ein verspätet angemessenes Honorar von Disney gestritten. Die Nazis und den Zweiten Weltkrieg überlebte er in der Schweiz, wohin seine Tochter ihn geholt hatte, nur um ein paar Monate: Er starb am 8. Oktober 1945.