Archiv

75. Todestag von John Maynard Keynes
Die Ära des Keynesianismus erlebte er nicht mehr

John Maynard Keynes war der einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Außenseiter in seiner Zunft. Mit undogmatischem Blick revolutionierte er in den 1930er-Jahren das ökonomische Denken.

Von Bert-Oliver Manig |
    S/W Foto von John Maynard Keynes, dem berühmten englischen Ökonom
    Die Ökonomie interessierte ihn nicht ... Dann wurde John Maynard Keynes einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. (imago images / leemage)
    John Maynard Keynes, der das ökonomische Denken im 20. Jahrhundert revolutionierte, war auch jenseits seiner wissenschaftlichen Leistung eine faszinierende Erscheinung: Sein Leben zwischen Universität, Finanzwelt, politischer Publizistik und Künstlerbohème füllte immerhin drei stattliche Bände seines Biographen Robert Skidelsky.
    Der Philosoph Bertrand Russell schrieb über Keynes: "Er hatte den schärfsten und klarsten Verstand, der mir je begegnet ist. Diskussionen mit ihm forderten mir alles ab – selten ging ich ohne das Gefühl daraus hervor, ein Esel zu sein."

    Gelangweilt von dogmengläubiger Ökonomie

    Keynes studierte Geschichte und Philosophie, promovierte mit einer vielbeachteten Arbeit in Mathematik. Die Ökonomie interessierte den 1883 in Cambridge geborenen Sohn eines Wirtschaftsprofessors zunächst nicht, ihre Dogmengläubigkeit langweilte ihn. Über die Ideologie des Laissez-faire, mit der liberale Ökonomen die Wirtschaft von staatlichen Einflüssen freihalten wollten, spottete er:
    "Die ganze Sippschaft der Ökonomen war dazu da zu beweisen, dass schon die kleinste Abweichung vom Wege der Frömmigkeit finanziellen Ruin zur Folge hat."

    Der Reiz der Praxis

    Dann packte es ihn doch: Wenige Wochen ernsthafter Beschäftigung mit der ökonomischen Literatur reichten aus, um vom damals bedeutendsten britischen Wirtschaftswissenschaftler, Alfred Marshall, eine Assistentenstelle angeboten zu bekommen. Keynes lehnte sie ab. Was ihn an der Ökonomie reizte, war die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung, wie er seinem Freund, dem Schriftsteller Lytton Strachey 1905 anvertraute:
    "Ich finde Wirtschaftswissenschaften zunehmend befriedigend, und ich denke, ich bin ziemlich gut darin. Ich möchte eine Eisenbahngesellschaft leiten, einen Konzern schmieden oder wenigstens die Investoren an der Börse aufs Kreuz legen."

    Das wichtigste ökonomische Buch des Jahrhunderts

    Tatsächlich sollte Keynes später ein äußerst erfolgreicher Spekulant werden, der an der Börse ein Vermögen von 30 Millionen Pfund erwarb. Doch er wurde noch vieles mehr und alles gleichzeitig: Dozent in Cambridge, gewissenhafter Redakteur des "Economic Journal", Vorstandsvorsitzender einer Versicherungsgesellschaft, Eigentümer und fleißiger Autor einer politischen Wochenzeitung. Nebenbei gründete er ein Theater in Cambridge und schrieb das wichtigste ökonomische Buch des 20. Jahrhunderts, die "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes".
    Illustration eines Jungen im Amzug, Krawatte und Sonnenbrille, mit zur Seite ausgestreckten Armen. Darunter ist der Schriftzug "WallStreet Bets" zu sehen.
    Finanzkrise - Der untötbare Neoliberalismus
    Trotz Finanzkrise scheint der Neoliberalismus weiterhin die dominante ökonomische Philosophie zu bleiben. Und das, obwohl viele ihn durch die Finanzkrise widerlegt sehen. Wieso das so ist, analysieren die Autoren Philip Mirowski und Wendy Brown in ihren Büchern.
    Weltberühmt wurde Keynes nach dem Ersten Weltkrieg als Publizist. Er warnte vor den deflationären Folgen der Rückkehr zum Goldstandard und behielt recht: Die Wirtschaft geriet 1929 in eine Abwärtsspirale von fallenden Preisen und Arbeitslosigkeit. Nach herrschender Lehre hätten sinkende Löhne und Preise Investitionen anregen und zum Aufschwung führen müssen, doch das Gegenteil geschah. Ökonomen und Politiker waren ratlos.

    Unerhörte Forderung staatlicher Ausgabenprogramme

    Keynes fand eine unorthodoxe Erklärung: In einer modernen Geldwirtschaft tendierten Märkte nicht mehr notwendigerweise zu einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Vielmehr können Unsicherheiten und irrationales Verhalten zu stabilen Ungleichgewichten führen. So konnte Keynes auch plausibel machen, warum Menschen dauerhaft Geld horteten, statt es zu investieren oder für den Konsum einzusetzen. Seine Schlussfolgerung war die Forderung nach kreditfinanzierten staatlichen Ausgabenprogrammen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, um aus der Deflationsfalle herauszukommen.
    Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann 
    Ulrike Herrmann: "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung" - Was Marx, Smith und Keynes den Ökonomen heute sagen können
    Mehr als 400.000 Studierende der Wirtschaftswissenschaften lernen die falsche Theorie, meint Ulrike Herrmann, "taz"-Wirtschaftsredakteurin Die zumeist gelehrte, neoklassische Wirtschaftstheorie sei völlig realitätsfern.
    Keynes war Optimist: Regierungen und Notenbanken würden künftig Wirtschaftskrisen durch antizyklische Politik verhindern können. Als die britische Regierung im Mai 1939 ein Rüstungsprogramm auflegte, blickte Keynes in der BBC bereits über den kommenden Krieg hinaus und sah eine Epoche von Wohlstand und sozialer Sicherheit heraufziehen:
    "Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Ende der außergewöhnlichen Arbeitslosigkeit in Sicht ist. Wenn die Rüstungsausgaben tatsächlich die Arbeitslosigkeit beseitigen, dann sage ich voraus, werden wir nie wieder zum alten Zustand zurückkehren. Wenn wir die Arbeitslosigkeit mit unproduktiven Rüstungsausgaben bezwingen können, so können wir das auch mit produktiven Friedensausgaben."
    Die Ideen sind da, doch wir noch nicht so weit - Warum Utopien scheitern
    Eine Welt ohne Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, eine Gesellschaft, in der die Freiheit aller Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist, ein Fortschritt, der allen Mobilität, gute Arbeit, materielle Fülle und Gesundheit bringt – diese soziale Utopie ist so alt wie die europäische Neuzeit.
    Die Ära des Keynesianismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein Vierteljahrhundert lang Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik dominierte, hat ihr Namensgeber nicht mehr erlebt. Am 21. April 1946 starb John Maynard Keynes an Herzversagen