Der Mann hat den Kopf in den Nacken gelegt, sein Mund ist aufgerissen. Ein stummer Schrei der Verzweiflung, mit weit ausgestreckten, gen Himmel gerichteten Armen. Da, wo andere ihr Herz haben, klafft ein riesiges Loch.
"De verwoeste stad" – "Die verwüstete Stadt" - heißt diese monumentale Skulptur des russischen Bildhauers Ossip Zadkine im Zentrum von Rotterdam. Sie erinnert an den 14. Mai 1940, jenen Tag vor 80 Jahren, an dem die niederländische Hafenstadt ihr Herz verlor.
Um 13:20 Uhr tauchten sie am Himmel auf: 90 deutsche Mittelstreckenbomber. "Ich sah sie kommen!", erzählt ein alter Mann. Er ist 85 und auf dem Weg zu seinem Physiotherapeuten. Damals war er sechs.
Binnen 15 Minuten komplett verwüstet
Innerhalb von 15 Minuten zerstörten Fliegerbomben mit einem Gesamtgewicht von 97.000 Kilogramm nahezu die gesamte Rotterdamer Altstadt. Nur noch der Turm der Laurenskirche ragte in den Himmel. 800 Menschen kamen ums Leben.
"Wir wohnten da hinten, sehen Sie, da, wo jetzt das Hochhaus steht. Wir haben zum Glück alle überlebt, meine fünf Brüder, meine Schwester, die Eltern. Kurz darauf wurde unser Vater dann von den Deutschen abgeholt, zum Arbeitseinsatz in Deutschland. Als Zwangsarbeiter. Meine Mutter musste sich mit sieben Kindern alleine durchschlagen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe 75. Jahrestag der Befreiung - Die Niederlande und das Trauma der deutschen Besatzung.
Dennoch habe er im Gegensatz zu vielen anderen Rotterdamern Deutschland nie als Erzfeind gesehen: "Ich war immer gern dort, Deutschland ist ein schönes Land. Wir sind oft dorthin gefahren. Auch nach dem Krieg. Vielleicht liegt es daran, dass ich deutsche Wurzeln habe."
Die Eltern seines Großvaters seien einst aus Deutschland eingewandert, erzählt er noch, bevor er sich sputen muss.
Gerade ältere Rotterdamer würden sich mit Deutschland manchmal noch schwer tun, glaubt ein Geschäftsmann, der die Mittagspause in der Sonne auf der Kaimauer verbringt und ein "broodje kaas", ein Käsebrötchen, isst. Die Wunden seien zwar längst vernarbt, aber hie und da gebe es noch diesen alten Schmerz – altes Weh, nennt er es.
Wiederaufbau als moderne Hafenstadt
Wolkenkratzer statt Grachtenidylle lautete nach Kriegsende die Losung. Als moderne Metropole wurde Rotterdam wiederaufgebaut. "L.A. der Niederlande" wird die Hafenstadt auch genannt. Oder "Manhattan an der Maas". Darauf sind viele Rotterdamer stolz, auch der Geschäftsmann:
"Unser altes Herz haben wir verloren, aber dafür ein neues bekommen – und das ist stärker als das vieler anderer Städte und pulsierender!"
"Ja, doch! Sehr schön, wunderschön!" Marius Esser kann das nur bestätigen. Der 25-jährige Wirtschaftsstudent aus München ist für ein Auslandssemester in Rotterdam. Auf dem Weg zur Uni kommt er oft am Zadkine-Denkmal vorbei.
"Eine richtig schöne Stadt. Die Architektur ist sehr vielfältig, sehr modern. Eine geschäftstüchtige Stadt."
Marius hat miterlebt, wie die Rotterdamer am 4. Mai ihrer Toten gedenken. Wie sie am 5. Mai die Befreiung feiern. Und am 14. Mai wird er miterleben, wie der Bombardierung vor 80 Jahren gedacht wird. Dann werden überall in der Stadt, an Plätzen, U-Bahnhöfen und Tramhaltestellen, Filme und Schwarz-Weiß-Fotos der Zerstörung zu sehen sein. Wie fühlt man sich als Deutscher in einer Stadt, die einst von Deutschen zerstört wurde?
"Gut soweit, eigentlich. Ich fühl mich nicht mehr schuldig oder nicht mehr beeinflusst durch die Vergangenheit. Natürlich weiß ich’s und hab’s im Hinterkopf und bin mir bewusst, was passiert ist..."
An der Uni müsse er sich manchmal Witze anhören, da ginge es dann immer um die klassischen Klischees und natürlich auch um Hitler und den Nationalsozialismus. Da seien die Niederländer schon ziemlich derb, sagte er.
Aber das ginge den Kommilitonen aus anderen Ländern nicht anders. Und die Witze würden keinen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. "Nein, überhaupt nicht. Das überhaupt nicht. Wirklich nicht."
Deutschland? Bier, Fleisch, Autos
Er werde als Deutscher nicht anders behandelt als andere, betont Marius, als eine Gruppe niederländischer Schüler vorbeikommt. An was denken sie bei Deutschland als erstes?
"Bier und Oktoberfest!"
"Fleisch!"
"Autos!"
Und was ist mit dem Krieg?
Was damals passiert ist, habe nichts mit dem heutigen Deutschland zu tun, sagt ein Mädchen. Ihr Freund kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es einmal Krieg gab, das sei schon so lange her.
Wo man geboren werde, sei Glückssache, findet ein zweiter Junge. Da könne man halt auch Pech haben. Aber deshalb sei man doch nicht verantwortlich für das, was andere vor 80 Jahren getan hätten!
Marius schwingt sich auf den Sattel und radelt weiter zur Uni. Er sieht sich in seinen Erfahrungen bestätigt: Auch in Rotterdam werde Deutschland nicht mehr als der Feind von damals betrachtet: "Die Zeiten sind, glaub ich, wirklich vorbei."
Der Geschäftsmann auf der Kaimauer sieht ihm nachdenklich nach, wie er die Neue Maas entlang Richtung Campus entschwindet. Dann klopft er sich die Krümel von der Hose und steht auf.
Eigentlich sei der Schmerz 75 Jahre nach Kriegsende nicht mehr wirklich präsent. Es existiere nur noch die Erinnerung an ihn. Das alte Weh, sagt er, sei fast verheilt.