Marie Schneider: Émile Bravo, Sie arbeiten gerade an einer neuen Ausgabe von "Spirou", die zum 80. Jubiläum in diesem Jahr erscheinen wird. Welche Bedeutung hat "Spirou" heute in Frankreich?
Émile Bravo: Ich denke, es ist eine Figur, die in Frankreich immer noch sehr gemocht wird, vor allem aber in Belgien. Mein Bild von Spirou stammt immer noch aus meiner Kindheit. Es ist so, als ob man mir diese Figur ausgeliehen hätte, um eine Geschichte zu schreiben - meine Geschichte, denn da war ich sehr frei. Ich denke, in Frankreich ist der Comic zwar nicht so beliebt wie in Belgien. Aber er ist doch eine Art Monument, wie "Tim und Struppi" eben.
Eine Rolle für einen deutschen Künstler
Schneider: Und wie haben Sie sich gefühlt, als Sie erfahren haben, dass Sie diesen Jubiläumsband schreiben dürfen?
Bravo: Also eigentlich ist es etwas anders. Vor etwa 10 Jahren wurde ich gefragt, ob ich Lust hätte, einen "Spirou"-Band im Rahmen einer Sonderserie zu schreiben. Und ich habe "ja" gesagt, denn das Kind, das ich einmal war, hatte Fragen zu dieser Figur. Und als Erwachsener habe ich mich dazu entschieden, diese Fragen endlich zu beantworten. Ich habe also einen Band geschrieben vor etwa 10 Jahren, und es war zufällig das 70. Jubiläum von "Spirou" - und einige Jahre später wurde ich gefragt, ob ich Interesse an einer Fortsetzung meiner Geschichte hätte. Aber auch das Thema interessiert mich sehr: die Zeit der Besetzung, des Nationalsozialismus in Europa. Und jetzt kommt der Band zum 80. Jubiläum raus. Aber das ist reiner Zufall, das versichere ich Ihnen!
Schneider: Ihr Comic wird gleichzeitig in Frankreich und in Deutschland erscheinen. Was halten Sie von dieser Kooperation der beiden Länder bei diesem Jubiläum?
Bravo: Das ist super, ich freue mich sehr darüber! In meiner Geschichte kommt ein deutscher Künstler vor, den ich würdigen wollte. Ich will jetzt nicht spoilern, aber es war ein deutscher Künstler, der wirklich gelebt hat. Und das war meine Möglichkeit, auch die gemeinsame Veröffentlichung zu feiern. Ich bin sehr stolz, ich finde das toll!
Zum Nachhören in der Langfassung und im französischen Originalton:
das Corsogespräch mit Émile Bravo
Schneider: Was ist wichtig, wenn man die deutschen Leser ansprechen möchte und was ist anders als bei den französischen Lesern?
Bravo: Von Nationen halte ich nicht so viel. Ich bin sehr universalistisch eingestellt. Sobald ich verstanden werde - egal von wem - bin ich glücklich. Ich sehe schon, dass die deutsche Kultur Besonderheiten hat im Vergleich zu anderen Kulturen, so wie jedes Land seine eigene Kultur hat. Aber da ich versuche, den universellen Kern der Menschen zu berühren und bin begeistert, dass ich im Ausland Leser habe. Ich versuche nicht, nur diejenigen aus meinem eigenen Umfeld zu erreichen. Ich spreche zu allen Menschen. Und zu merken, dass das, was ich empfinde und vermitteln will auch außerhalb der Grenzen interessiert, ist einfach fantastisch.
Schneider: Auch ein deutscher Künstler wird den "Spirou" zeichnen - und zwar als erster Autor, der nicht aus Frankreich oder Belgien stammt, nämlich der in Berlin lebende Künstler Flix. Er wird wie Sie einen Band zum 80. Jubiläum schreiben. Was halten Sie von dieser Idee? Und können die Geschichte und der Humor Ihrer Meinung nach einfach ins Deutsche übertragen werden?
"Nicht zu viele Witze über einzelne Kulturen machen"
Bravo: Na, das hoffe ich doch! Nationalitäten spielen, wie gesagt, bei mir keine große Rolle. Ich selber bin Franzose, obwohl Spirou Belgier ist. "Spirou" ist ursprünglich belgisch. Aber es gibt schon einige französische Autoren, die einen "Spirou" geschrieben haben. Also, ob es nun Franzosen, Deutsche oder Spanier sind, ist mir ganz egal. Was den Humor betrifft: Ja, es gibt auch humoristische Besonderheiten in jedem Land, aber die müssen überwunden werden. Man braucht eine Art universellen Humor, damit man jeden erreichen kann. Man sollte nicht zu viele Witze über einzelne Kulturen machen, wenn man allgemein verstanden werden will.
Schneider: Und was erklärt den anhaltenden Erfolg nach 80 Jahren?
Bravo: Ich denke, es ist eine Figur, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Wenn man einen Vater oder einen Großvater hat, der einem in der Kindheit einen Band weitergibt, dann bleibt das in Erinnerung. Und dann ist da noch die Figur an sich, Spirou. Er bleibt jung und entdeckt immer wieder Neues im Leben. Das spricht einfach jeden an.
Schneider: Sie haben von der Weitergabe des Comics gesprochen. Es gab in der Geschichte dieser Comic-Reihe auch eine Art Weitergabe von Autor zu Autor. "Spirou" hatte schon viele Autoren. Glauben Sie, dass es Risiken gibt, wenn mehrere Künstler den gleichen Comic schreiben?
Bravo: "Spirou" gehört eigentlich niemandem - im Gegensatz zu "Tim und Struppi" oder den meisten anderen Comicfiguren. "Spirou" war ursprünglich ein leeres Maskottchen, das für die gleichnamige Zeitschrift Spirou erfunden wurde. Man hat mir also nur ein Maskottchen mit zwei anderen Marionetten gegeben, nämlich Fantasio und das kleine Eichhörnchen Pips. Und damit spiele ich, gestalte mein eigenes Universum und habe Spaß. Ich denke nicht so sehr über das nach, was jemand vor mir kreiert hat. Für mich ist der wahre Autor von "Spirou", der dieses Universum wirklich erfunden hat, Franquin.
Schneider: Was schätzen Sie am Comic-Künstler André Franquin?
Bravo: Ich glaube, er war jemand, der nicht nur sehr witzige und gute Geschichten erfunden, sondern auch die Bilder wirklich zum Leben erweckt hat. Seine Bilder werden ganz von alleine lebhaft. Fast alles, was heute in der Welt von "Spirou" vorkommt, hat er geschaffen. Es ist sehr vielfältig.
"Daraus entsteht mein grafisches Universum"
Schneider: Sie versuchen also, sich an ihm zu orientieren?
Bravo: Nicht wirklich. Ich versuche, mich an niemandem zu orientieren. Die Einflüsse sind immer da, weil ich ihn gelesen habe, als ich klein war. Aber ich habe auch sehr viel von Hergé gelesen, dem Schöpfer von "Tim und Struppi". Und daraus entsteht mein grafisches Universum; ich bewege mich zwischen den beiden. Naja, ich hoffe, dass sich daraus ein "Émile Bravo" ergibt, dass etwas Persönliches entsteht. Aber ich versuche auf keinen Fall, Franquin zu kopieren – das braucht man gar nicht erst zu probieren.
Schneider: Sie wollten die Serie also lieber erneuern, als in der Tradition zu bleiben - zum Beispiel auch vom Spirou-Erfinder, Robert Velter?
Bravo: Was ich versuche zu machen, sind meine kleinen Geschichten über die Themen, die mich interessieren. Aber es stimmt, dass der Comic eher klassisch angelegt ist, die Einteilung der Bilder zum Beispiel. Das habe ich halt als Kind gelesen, und ich fand es sehr wirkungsvoll.
"Die Amerikaner haben den Kult des Superhelden"
Schneider: Und "Tim und Struppi", "Asterix" und "Spirou", all diese Comics aus Europa, haben die noch eine Chance gegen die großen Verlage aus den USA und ihre Helden?
Bravo: Ja, klar. Es haben sowieso immer beide Comic-Welten existiert. Es sind zwei verschiedene Kulturen, zwei unterschiedliche grafische Schulen. Man darf einen Comic nicht als bloße Zeichnung sehen. Es ist keine Zeichnung. Das Zeichnen ist nur eine Art Stütze, es ist unsere Schrift. Statt mit Wörtern zu schreiben, schreiben wir mit Zeichnungen. Und dann ist natürlich interessant, was den Kern eines Comics ausmacht: Die Amerikaner haben den Kult des Superhelden - das ist nicht das gleiche in Europa. Aber am Ende kommt es nur auf das an, was wir erzählen. Denn wir sind da, um Geschichten zu erzählen - das ist mein Beruf, nicht das Zeichnen.
Schneider: Und in der Zukunft? Wird "Spirou" noch sein 100. Jubiläum feiern?
Bravo: Das weiß ich nicht, mal schauen, ob wir da überhaupt noch da sind.
Émile Bravos Sonderband erscheint im Oktober 2018 gleichzeitig in Frankreich und in Deutschland. Der deutsche Autor Flix hat im Juni die Ehre, als erster deutscher Autor einen "Spirou" zu veröffentlichen, der in Berlin spielt.
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