Manfred Reißaus blickt auf die flackernden Kerzen:
"Das ist eine schöne Sache. Wir haben das ja extra angeleiert, die Nacht der 1000 Lichter. Das finden wir schön, das ist eine gute Geste."
Die Dämmerung hat eingesetzt, die Sonne ist über dem ehemaligen Güter- und Rangierbahnhof der Stadt Duisburg untergegangen, als der Bus mit den Angehörigen der 21 Todesopfer der Loveparade-Katastrophe an jenem Ort eintrifft, an dem es passierte. Dicke, weiße Friedhofskerzen, auf denen Herzen oder Rosen- und Orchideen-Blüten abgedruckt sind, stehen vor und auf der Gedenkstätte.
Die Nähe zu den Verstorbenen
Auf jener Treppe, auf der sich einst Menschen retten konnten – und die für andere, die dorthin, in der Massenpanik, gedrängt, wurden – zum Verhängnis wurde. Wie eben Reißaus Tochter Svenja. Der große Mann, Brille, graue Haare, gestreiftes Hemd, kurze Hose, blickt sich um:
"Emotional ist das sehr bewegend, weil ich gucke immer auf das Stück der Treppe, weil meine Tochter halt nur zwei Meter brauchte, um das rettende Ufer zu erreichen und da hat von hinten, auch einer der verstorben ist, sie gezogen, am Bein und dann sind sie natürlich beide verstorben. Das ist eigentlich das schlimmste, wenn ich da immer draufgucke. Das ist für mich eine sehr wichtige Stelle, das zu sehen."
Familien aus Deutschland, Australien, China, Italien, Spanien und den Niederlanden verloren an diesem Juli-Tag Söhne oder Töchter. Damals war es, das zeigen die Videos und Bilder, die sich bei vielen Angehörigen und Betroffenen wohl auf ewig eingebrannt haben, heiß, laut, eng, zum Verzweifeln…
Nun ist es ruhig, die Kerzen leuchten. Noch nicht einmal einhundert Menschen sind gekommen, deutlich weniger als in den Jahren zuvor. Das öffentliche Interesse, die Aufmerksamkeit, auch in Duisburg, sie schwindet. Dennoch: Paco Zapater und Nuria Caminal aus Spanien werden immer kommen, stehen nun an der ehemaligen Rampe. Sie verloren damals ihre 22-jährige Tochter Clara. Beide haben Blumen an der Gedenkstelle aufgestellt, sie noch einmal – der Hitze wegen – mit einer extra mitgebrachten Flasche gewässert.
Für sie sei es absolut lebenswichtig, sagt Zapater, am 24. Juli hier zu sein. Hier passierte etwas sehr Dramatisches. Aber, so Zapater weiter, es gebe ein doppeltes Gefühl: Einerseits breche es einem Herz, tue es weh, hier zu sein. Auf der anderen Seite jedoch, sei Duisburg wie ein Magnet, gerade am 24. Juli, müssen sie hier sein, wegen der Nähe zu Clara.
Die Frage nach dem Warum
Warum, fragt Zapater, der selbst auch Jurist ist, immer wieder. Warum? Auch jetzt, an jenem Ort stehend, vor dem, fast auf Tag genau vor neun Jahren, dies alles passierte? Warum passiere so etwas und wie könne es sein, dass eine solche Katastrophe in einem hochentwickelten Land wie Deutschland, auch neun Jahre später, noch ohne strafrechtliche Folgen sei – und wohl auch bleiben werde.
"Das Gericht hat bislang 135 Verhandlungstage durchgeführt, davon alleine im letzten Jahr 87. Es hat bereits eine Vielzahl von Beweisen erhoben, so sind bereits über 80 Zeugen vernommen worden."
Sagt Anne Muckelmann, Sprecherin des Landgerichts Duisburg. Doch das Verfahren krankt – bei aller Sorgfalt und Sensibilität der nun damit Betrauten – eben an seinen Geburtsfehler: Zum einen wurde frühzeitig der Kreis der potentiell Angeklagte stark eingeengt, die Polizei beispielsweise außen vor gelassen, zum anderen fehlt einfach die Zeit.
Denn: Der nun laufende Prozess wurde erst im Dezember 2017 eröffnet, gut sieben Jahre nach der Tragödie. Sieben Jahre, in denen an Gutachten geschrieben, in denen die Eröffnung erst gerichtlich abgelehnt und dann von der nächst höheren Instanz angeordnete wurde. Wohl auch aufgrund dieser Umstände, hat das Landgericht Anfang dieses Jahres die Einstellung vorgeschlagen. Noch einmal Gerichtssprecherin Muckelmann:
"Die Einstellung des Verfahrens gegen sieben Angeklagte ist aufgrund einer vorläufigen Bewertung des Gerichts erfolgt. Aus Sicht des Gerichts hat eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände ergeben, dass bei einer gedachten Verurteilung die individuelle Schuld dieser Angeklagten als gering anzusehen wäre. Dabei hat das
Gericht aber natürlich auch die besonders schweren Folgen dieses Unglücks bedacht."
Drei Angeklagte, die alle einst beim Veranstalter Lopavent beschäftigt waren und die eine Geldauflage in Höhe von etwa 10.000 Euro hätten zahlen sollen, widersprachen. Für sie geht der Prozess weiter. Mit einem Abschluss rechnet aber niemand, da beispielsweise noch über 500 Zeugen gehört werden müssten:
"Die absolute Verjährung tritt im Juli 2020 ein. Tritt der Fall der absoluten Verjährung ein, ist weder ein Freispruch noch eine Verurteilung der Angeklagten für die ihn vorgeworfenen Taten möglich."
Die Überlebenen, die vergessen wollen
Letztendlich, das haben die letzten neun Jahre gezeigt, hat die Katastrophe viele Menschenleben zerstört: Die der 21 Todesopfer natürlich, deren Angehörigen, aber auch das der Überlebenden. Auch vor diesem, dem nun neunten Jahrestag gab es im Vorfeld Pressemitteilungen, öffentliche Schuldzuweisungen, Fernbleiben von der Gedenkfeier, weil sich Betroffene verletzt fühlten.
"Ich habe einen an der Klatsche. Ich war bei der Loveparade."
"Warum zertrampelst Du dann die Gedenkstätte?"
"Weil die tot sind und ich lebe."
"Aber ist doch gut. Dass Du lebst."
"Aber die, die tot sind, das sind die Guten, die ach so Wunderbaren, um die alle trauern können, und die, die überlebt haben, wir sind die Kaputten, die Arschlöcher, die nichts auf die Reihe kriegen."
Die Darstellung des ARD-Spielfilms "Das Leben danach", der die Loveparade-Katastrophe verfilmte, zeigt diesen Mechanismus: Die Angehörige wollen erinnern, die Betroffenen wollen vergessen. Es ist eine schwierige Gemengelage, in der das ausgleichende Gemüt von Rolf Karling vom Duisburger Verein "Bürger für Bürger" hilft. Seit Jahren organisiert er, schwer gezeichnet von einem Sturz, die "Nacht der 1000 Lichter", schafft – trotz allem – eine würdige Atmosphäre:
"Die Leute kommen hierher – und hier ist Ruhe. Ich habe hier noch keine Auseinandersetzung gehabt. Die Leute können kommen, sollen kommen, sollen nach ihrer Fasson Kerzen aufstellen. Fünf oder zehn oder zwanzig. Ist mir vollkommen wurscht."
Heute nun, am eigentlichen Jahrestag, wird es eine öffentliche Gedenkveranstaltung geben, mit einer kurzen Ansprache und 22 Glockenschlägen: 21 zum Gedenken an die 21 Todesopfer und einer für die mehreren hundert Verletzten. Es ist – sozusagen – das offizielle Programm, doch Karling weiß:
"Es gibt auch sehr viele Angehörige, die nur zu dieser Nacht der 1000 Lichter kommen, weil sie diese, diese gezwungene Atmosphäre die vorherrscht am Glockenschlagtag, sie können es nicht. Hier ist alles ungezwungen."
Und auch Manfred Reißaus, dessen verstorbene Tochter Svenja auf einem Foto, ganz unten in der Gedenkstätte abgebildet ist, geben diese Stunden viel:
"Kraft! Kraft, zum Durchhalten, alleine wegen dem Prozess schon."
Sagt er – und schaut wieder auf die Treppe.