So wie sich die Aufklärer von der Religion als Welterklärungsmuster verabschieden mussten, müssen wir von gewohnten Positionen Abstand nehmen. Sind Privatsphäre, Individualität und ähnliche Errungenschaften nicht quasi-religiöse Dogmen, die von der technischen Wirklichkeit ad absurdum geführt werden? Betreiben wir, wenn wir die Digitalität als kontrollierbare Anwendertechnologie begreifen, nicht einen ähnlichen Selbstbetrug wie ein Teufelsaustreiber des 18. Jahrhunderts, der sich gegen die wissenschaftliche Medizin wendet?
Vier Fragen fordern Autor Florian Felix Weyh zu einer vorläufigen Antwort darauf heraus, wo der Mensch stehen wird, wenn sich die Welt nur noch als Code definiert und nicht mehr als Glaubens- oder Vernunftzusammenhang.
DigiKant oder: Vier Fragen, frisch gestellt
Von Florian Felix Weyh
Ende 1989 brach in Berlin die Nachkriegsordnung zusammen. Im August desselben Jahres war in Tokio ebenfalls Bedeutsames passiert, allerdings hatte kaum einer davon Notiz genommen: Auf einem Symposion zu den Grundlagen der Quantenmechanik hatte der Physiker John Archibald Wheeler einen Vortrag über den Zusammenhang von Information und Materie gehalten. Wheeler, einst Mitarbeiter von Niels Bohr, schilderte darin, wie sich auf der Quantenebene Materie konstituiert. Gleich zu Beginn des Vortrags benutzte er eine einprägsame Formel: "It from bit."
"It from bit.”
Soll heißen: Bestehendes - "it" - resultiert aus einem Informationsvorgang: "bit". Oder wie Wheeler selbst schreibt:
"Jedes Sein - jedes Teilchen, jedes Kraftfeld, selbst das Raumzeit-Kontinuum an sich - leitet seine Funktion, seine Bedeutung, ja seine nackte Existenz völlig, wenn auch in manchen Kontexten indirekt, aus den geräteinduzierten Antworten auf Ja‑oder-Nein-Fragen ab, aus einer binären Auswahl, aus Bits."
Das war eine skandalisierende Weltwahrnehmung - nicht jedoch 1989. Das binäre Informationsuniversum steckte da noch in den Kinderschuhen, und das physikalische Universum auf binärer Basis beschäftigte bloß ein paar Eingeweihte.
"Information kann nicht nur das sein, was wir über die Welt ‚lernen’. Sie kann das sein, was die Welt 'macht'. [...] Wenn ein Photon absorbiert und dadurch ‚gemessen’ wird - bis zu seiner Absorption hat es keine Wirklichkeit -, wird ein unteilbares Informations-Bit zu dem hinzugefügt, was wir über die Welt wissen, und gleichzeitig determiniert das Informations-Bit die Struktur eines kleinen Teils der Welt. Es 'schafft' die Realität von Zeit und Raum dieses Photons", präzisierte John Archibald Wheeler den Gedanken später noch einmal.
Information als Urgrund von allem
Information ist also kein Spiel innerhalb einer physisch vor sich hin existierenden Welt, sondern der Urgrund von allem. Damit wirft "it from bit" einen Diskurs auf, der 1989 so noch nicht geführt werden konnte. 2016 aber zerstreut die digitale Wirklichkeit längst den Verdacht, "it from bit" sei ein bloß kokettes Wortspiel: Was wir auch tun, es wird längst mehr von Informationsvorgängen als von physischen Kräften bestimmt, die gemäß Wheeler ja wiederum auch nur aus Informationsvorgängen heraus in Erscheinung treten. So schließt sich der Kreis, und es bedarf wenig Fantasieanstrengung, alle digitalen Entwicklungen so weit zu extrapolieren, dass in eher kürzerer als längerer Zeit "it from bit" die Akzeptanz einer Weltformel genießt.
Alles kommt aus Information, alles wird zur Information, alles ist Information.
Damit wäre dann die Erste Aufklärung - die des 18. bis 20. Jahrhunderts - fragwürdig geworden, denn sie basierte auf dem umgekehrten Prinzip: Als sie den Menschen vom unreflektierten Glauben emanzipierte, stellte sie die intellektuellen Verhältnisse von Metaphysik auf Physik um, von Glauben auf Denken, Schlussfolgern, Rationalität. Das aber war: "bit from it."
Bit from it: Erst ist da die Welt, dann kommt die Information über sie. Man begreift die Welt, indem man ihr Informationen abringt. Wissenschaft und Technik, Gesellschaft und Politik funktionieren nach Regeln und Heuristiken, die sich in der physischen Welt bewährt und als wahrheitsfähig erwiesen haben, nicht länger nach Postulaten, die man einem Alten oder Neuen Testament entnommen hat.
Doch wenn die Welt andersherum funktioniert, wenn sie im digitalen Universum erneut aus Informationen ersteht, dann muss man sich fragen, was von den Regeln und Heuristiken der Ersten Aufklärung noch vernunftgemäß ist.
Vier Fragen
Man muss vier Fragen stellen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?"
Diese vier Fragen warf Immanuel Kant 1765 in seinen Vorlesungen zur Logik auf. Philosophisch sind sie so naiv ...
Nein, so rein.
... dass sie in der Entfaltungsphase einer neuen Epoche abermals gestellt werden sollten. Und zwar genauso naiv. Nennen wir es: die Zweite Aufklärung.
Erste Frage: "Was kann ich wissen?"
Schreiben wir erkenntnishalber das Jahr 2050. Mitte des 21. Jahrhunderts ist alles komplett durchdigitalisiert. Jeder Vorgang, im Kleinsten wie im Größten, wird in einer Sphäre der Information gespiegelt, gespeichert und zugänglich gemacht sein. Das gilt für Individuen wie für gesellschaftliche Vorgänge, für Biologisches wie für Physikalisches, für Kunst wie für Recht - für schlichtweg alles. Dafür sorgen eine Armee an elektronischen Arbeitssklaven, Sensoren jeder Art und Hybridschnittstellen zwischen organischer und anorganischer Welt. Um unsere Fragestellung noch zuzuspitzen, gilt das auch für den Bereich der Gedanken, die sich aus dem neuronalen Strom auslesen lassen. 2050 ist die Antwort damit eindeutig:
"Was kann ich wissen?" - Alles.
Alles. Man ist im Wissen. Wer im Wissen ist, erwirbt keines mehr; überkommene Eigentumsmetaphern büßen ihren Sinn ein. Wenn überhaupt, sind die Eigentumsverhältnisse jetzt umgekehrt: Dem Wissen gehört der Mensch, jene menschlichen Daten nämlich, die er zuliefert, damit Wissen überhaupt entsteht. Jahrzehnte zuvor nannte man das naserümpfend "Big Data"; der Begriff sollte Angst machen, doch hat sich niemand davon einschüchtern lassen: Alle wollten ja hinein ins Wissen, als konsequente Vollendung der Ersten Aufklärung. Data locuta, causa finita - aber man würde es sich zu einfach machen, die erste Kantsche Frage mit dieser simplen Antwort "alles" zu bescheiden. Im Grunde umfasst sie ihrerseits vier Fragen:
WAS kann ich wissen? Was KANN ich wissen? Was kann ICH wissen? Was kann ich WISSEN?
"WAS kann ich wissen?" zielt auf die Digitalisierbarkeit an sich. Auch 2050 beharren Häretiker noch darauf, nicht alles sei binär abtastbar. Sie gelten als Sektierer, denn sie können ihren Glauben so wenig belegen wie jeden anderen Glauben, da ihm keine allgemeinen Erfahrungstatsachen zugrunde liegen. Nur vereinzelt erleben Menschen seelische Phänomene, die an den Hybridschnittstellen zwischen organischem Nervensystem und Rechennetz nicht ausgelesen werden können. Sie sind statistisch unbedeutend.
Was KANN ich wissen?
Das fragt nach einer Bewältigungsstrategie für die Unendlichkeit. Dass alles zugänglich ist, heißt ja nicht, dass es auch geistig verarbeitbar wäre. Konventionelle Wissenschaft, wie sie sich zuvor idealtypisch in Doktorarbeiten und Habilitationen niedergeschlagen hat, gibt es 2050 nicht mehr. Kein vernünftiger Zeitrahmen würde ausreichen, ein Fachgebiet, ja nur eine Fragestellung daraus, in all seinen Facetten zu rezipieren. Längst ist das zur Maschinenangelegenheit geworden, wie jede Datenverarbeitung. Unter diesem Aspekt kann man also nicht alles kennen, sondern immer nur eine algorithmisch erzeugte Teilmenge: Der Geist ernährt sich von Vorgekautem. Doch sind nicht schon diese kleinen Portionen weit mehr, als der Mensch verträgt?
Ein Philosoph der Übergangszeit, der Koreaner Byung-Chul Han, mahnte im Jahr 2012 vor den Folgen dieser Unendlichkeit fürs Denken, diesen allem Wissen nachgelagerten Vorgang:
Ein datengetriebenes Denken gibt es nicht. Datengetrieben ist nur das Rechnen. [...] Die Theorie, der das Denken zugrunde liegt, ist eine Vor-Gabe. Sie transzendiert die Positivität des Gegebenen und lässt dieses auch jäh in einem anderen Licht erscheinen. Das ist keine Romantik, sondern die Logik des Denkens, die seit dessen Anfängen gilt. Die uferlos wachsende Daten- und Informationsmasse lenkt die Wissenschaft heute massiv von der Theorie, vom Denken ab."
Große Denker legten meist nur Fakten frei
Tatsächlich genießt Wissenschaft in der Zweiten Aufklärung kein sonderliches Prestige mehr. In einer Welt des Überflusses zählt das Überflüssige zu wenig, um sich durch dessen weitere Vermehrung noch Meriten erwerben zu können. Spezialisierte Intellektuelle würden sich lächerlich machen, pochten sie auf einen gesonderten Status als Wissenslieferanten; vor allem, wenn sie nur hypothetische Denkgebäude - Theorien! - abliefern. Historisch gesehen, legten auch große Denker meist nur Fakten frei, statt wie in Byung-Chul Hans Vorstellung wissensleer zu spekulieren. Dessen Postulat, Denken funktioniere aus der Leere heraus besser als aus der Fülle, war 2012 eben auch nur ausgedacht. In Wahrheit steckten die Denker der Ersten Aufklärung in einem derart engen Korsett an Wissensreferenzen, dass sich ihre Originalität nur selten entfalten konnte.
Dies lag am Zitationssystem. Erst die digital möglich gewordene Suchanfrage im Volltext entschärfte dessen hierarchische Struktur. Der Digisoph Michael
Seemann - als Digisophen seien Denker der Zweiten Aufklärung bezeichnet, die sich ohne schutzsuchende Anlehnung an die Erste Aufklärung der binären
Realität stellen - der Digisoph Michael Seemann hält die "query", wie er die Suchanfrage nennt, für eine der wirkungsmächtigsten neuen Errungenschaften.
Eine Stichwort- oder Phrasenrecherche im binären Weltkorpus erschließt jedem ernsthaften Forscher ein viel größeres Erkenntnisfeld, als es Quellenangaben und Verweise in der Ersten Aufklärung je vermocht hätten. Im Zitationssystem existierten dagegen nur vorgebahnte Pfade. Wer in diesem Zitationssystem nicht auftauchte, ging für immer unter. Dass ein unbekanntes Buch plötzlich aus den Magazinen hervorgeholt und neu rezipiert worden wäre, kam so gut wie niemals vor. Nicht utopisch ist dagegen die zufällige Wiederentdeckung beiseite gedrängter Texte im binären Weltkorpus. Entmächtigung des Zitationswesens bescherte also einen Zugewinn an Erkenntnis.
"Gründe für Uncitedness", also dafür, warum Texte nicht zitiert wurden, führte der Informationswissenschaftler Walter Umstätter auf:
"Man müsste eigene Fehler zugeben. Man möchte bestimmte Autoren bzw. Institutionen möglichst nicht aufwerten. Man ignoriert anscheinend oder scheinbar minderwertige Wissenschaft (z.B. Zeitschriften der Dritten Welt) [...] Man möchte fehlerhafte Hypothesen aussterben lassen. [...] Man möchte die eigene Arbeit nicht durch zu viele Gegenargumente belasten. Nur 7 Prozent der Zitationen im SCI sind negativ bzw. Falsifikationen. Der Rest soll belegen, dass die eigene Theorie richtig ist."
Was ist wirkliches Wissen?
So viel zum wissenschaftlichen Anstand während der Ersten Aufklärung. Doch bevor wir uns der Anstandslehre - der Ethik - zuwenden, stehen noch zwei Teilfragen aus.
Was kann ICH wissen?
Das ist ein Problem der Identität und gehört damit zur letzten der vier Kantschen Fragen. Vertagen wir es einstweilen.
Was kann ich WISSEN?
Umformuliert: Wie weiß ich, dass das, was ich für Wissen halte, wirkliches Wissen ist?
Um als Wissen gelten zu können, muss Information validiert sein. Dazu gehört der Ausschluss von Sinn- und Nutzlosem, von Überholtem und Widerlegtem, oder wie Michael Seemann sagt: die Ermittlung von Anschlussfähigkeit:
"Die Trias Daten, Information und Wissen lässt sich so zusammenfassen: Informationen sind Daten, die an ein Wissen anschlussfähig sind."
In der Zweiten Aufklärung verliert das Wissen durch den Verlust des Trägermaterials Papier seinen Zeitstempel; zugleich bedeutet "digital" immer auch "grenzenlos". Es gibt nur noch Wahrheitsvereinbarungen mit mäßiger gesellschaftlicher Bindungskraft: Wem eine Vereinbarung nicht passt, der wählt eine andere.
Schon im Mittleren Internetzeitalter, ungefähr 2005 bis 2015, rückten Verschwörungstheorien und parawissenschaftliche Weltdeutungen den etablierten Wahrheiten immer dichter auf den Pelz. Denken drohte ankerlos zu werden, bis man sich erinnerte, dass Wissen als Orientierungsmacht nur dort existiert, wo Institutionen für abgesicherte Informationsfelder sorgen, und Unwissen beherzt ausgegrenzt wird.
Spät, aber gerade noch rechtzeitig genug, überwand man die Ängste der Traditionalisten vor Zensurbezichtigungen, um nicht in eine neue geistige Dunkelheit zu geraten. Skeptiker wie der Digisoph Alexander Pschera hatten allerdings bereits in der Übergangszeit davor gewarnt, bequemen Annahmen der Ersten Aufklärung weiterhin zu folgen:
"Woran es den politischen Entscheidungen heute am meisten fehlt, ist eine belastbare Evidenzbasis für historische und soziale Zusammenhänge."
Verständnis der eigenen Gesellschaft
Ein anderer Skeptiker, Christoph Kucklick, ergänzte: "Viele wissenschaftliche Überzeugungen halten höher auflösenden Daten nicht stand. So wird es auch mit unserem Verständnis der eigenen Gesellschaft gehen."
Das Verständnis der eigenen Gesellschaft berührt die zweite Kantsche Frage.
"Was soll ich tun?"
Reden wir über die wichtigste gesellschaftliche Übereinkunft, die Staatsform. Mit der Ersten Aufklärung hat die Demokratie den Souverän zwar entthront, aber nicht abgeschafft. Er verkörpert das Prinzip: "Einer handelt und entscheidet für alle". Wo der König gestürzt ist, wird er aus der Wahlstimmenmehrheit rekonstruiert und durch Stellvertreter gespielt. Es gilt dann: "Das Wahlvolk ist der Souverän", was unsinnig ist, da das Wahlvolk weder handeln noch entscheiden kann. Die Gesetzgebung funktioniert im einen wie im anderen Modell willkürlich: Der Souverän oder seine Darsteller folgen einer abstrakten, letztlich religiös abgeleiteten Idee davon, was für die Menschen richtig und falsch sei. Diese Idee wird in konkrete Vorschriften gegossen. Selbstredend kann die Idee dramatisch verkehrt sein, und schon im Normalfall hinkt sie gesellschaftlichen Veränderungen hinterher. Recht und Politik sind systematisch out of date.
"Es scheint ein geschichtliches Gesetz der Jurisprudenz zu sein, dass ihr die Rechtswirklichkeit dauernd entgleitet, dass, wenn sie endlich ein Problem dogmatisch perfekt in den Griff bekommen hat, es schon nicht mehr aktuell ist", konstatierte schon 1985 der Rechtsphilosoph Peter Noll.
Die Zweite Aufklärung nun schafft alle motiv- und meinungsgetriebene Politik ab, indem sie ausschließlich konkrete Handlungen bewertet. Diese kann sie aus den ubiquitären Datenspuren auslesen und erfährt damit, wie die Gesellschaft jenseits abstrakter Annahmen wirklich funktioniert. Für den Einzelnen besteht demokratische Mitwirkung nicht darin, eine beinflussbare und instabile politische Meinung abzugeben, sondern darin, der Gesellschaft seine Datenspuren zur Verfügung zu stellen. Bahnung ersetzt Planung.
Mit der Auswertung dieser Trampelpfade im digitalen Universum macht sich Demokratie ehrlich, nämlich zu einem System, in dem Realität auf die Politik einwirkt und nicht - wie jahrhundertelang zuvor - Politik die Realität in die Geiselhaft ideologischer Vorstellungen der jeweils Regierenden nimmt.
Trampelpfade im Datendschungel führen in die Hölle
Geben wir aber zu: Noch im Mittleren Internetzeitalter betrachtet man diese Entwicklung als Alptraum. Man glaubt, die Trampelpfade im Datendschungel führten direkt in die Hölle.
Zudem ist mit der Entwicklung eine ähnlich radikale Entmachtung verbunden wie die der Monarchen während der Ersten Aufklärung. Nun geht die Macht von Repräsentanten auf Datengeber über. Die gesamte Schicht der Repräsentanten verliert ihre Funktion. Damit stellt sich für den Einzelnen in verschärftem Maße die zweite Kantsche Frage:
"Was soll ICH tun?"
Denn sein Tun zeitigt mehr als nur individuelle Folgen. Es bahnt die Pfade neuer Rechtsnormen mit. Die Antwort steht bei Kant selbst:
"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Übersetzt in die Praxis, heißt das bei Kant in etwa: "Ja wenn mich jemand beim Ladendiebstahl beobachten würde und daraus eine Erlaubnisregel ableitete, dann sähe es für die Gesellschaft schlecht aus." Da er mir aber nicht zusieht und niemand eine Regel daraus ableitet, bleibt es ein Appell im Konjunktiv. Sünden dieser Art mache ich mit meinem Gewissen ab, nicht mit dem Gesetzgeber.
Sobald aber jede Fingerbewegung registriert wird und sich aus der groben Steuerungsmacht des Rechts eine immer feinere Steuerungsmacht des Wissens entwickelt, ist das nicht mehr möglich. Michael Seemann nennt dies den "Kontrollverlust", ein weiteres zentrales Signum der Zweiten Aufklärung. Plötzlich befinden sich auch Rechtsverstoß und Ahndungsmacht des Rechts im selben Raum. Bestimmte Delikte wie Steuerhinterziehung sind zum Beispiel 2050 a priori nicht mehr möglich, weil Geldflüsse von Regelungsalgorithmen so gesteuert werden, dass der Staat immer seinen Anteil erhält.
Doch auch wer im Transportsystem - im selbstgelenkten Auto wie im öffentlichen Verkehrsmittel -gegen die Norm verstößt, wird künftig nicht einfach eine Geldbuße bezahlen oder den Führerschein verlieren - heute eine lachhafte Strafe - sondern sein Fahrvermögen an sich einbüßen: Alle Fahrzeuge auf der Welt, die er zu starten versucht, reagieren nicht mehr auf ihn. Kein öffentliches Verkehrssystem lässt ihn noch seine Schranken passieren.
Zukunft voller digitaler Schlösser
Mit dem Zugang zu so gut wie allem besitzt die Exekutive 2050 eine gewaltige Ahndungsmacht: Jeder dieser Zugänge kann mit digitalen Schlössern verriegelt werden, die auf unveränderliche Individualcodes programmiert sind. Wer aus irgendeinem Grund den Pfad des Erlaubten verlassen hat, wird mit der Abdrängung ins Nichts bestraft. Der Imperativ lautet dann:
"Handle so, dass sich durch dein jetziges Tun nicht die Türen zu künftigem Tun verschließen."
Zweifelsohne verträgt sich dieser Imperativ nicht mit den Freiheitsvorstellungen der Ersten Aufklärung. Er kettet den Einzelnen an einen Rückkopplungsmechanismus, dessen Wirkungsweise er nie ganz durchschauen kann, und der ihm die Freiheit nimmt, sich regelwidrig zu verhalten.
Andererseits wäre es ein Irrglaube, die Erste Aufklärung habe je zum Rechtsverstoß eingeladen. Das sah nur so aus, weil dem Recht die Sanktionspräzision fehlte. Rechtstheoretikern - wie hier Uwe Wesel - war das auch durchaus bewusst:
"Das Regal ist klein, in dem man etwas über Strafzumessung findet, und der Befund vernichtend: Nothing, wenn man genauer hinsieht. [...] Wenn es ans Eingemachte geht, wird über den Daumen gepeilt."
Beim Strafen herrschte bis zur Zweiten Aufklärung eine dysfunktionale Blindheit. Seit man aber im digitalen Universum seine Freiheit in Zahlung gab, um durch die Registratur aller Handlungen politisch wirksam zu sein, erhielt man gratis ein System angemessen abgestufter Sanktionsmöglichkeiten dazu.
Anders als früher verbinden sich diese Sanktionen auch inhaltlich direkt mit den Verstößen. Ihr Gerechtigkeitsbegriff siedelt viel näher an der Urdefinition von Gerechtigkeit - jedem das Seine - als das grobe Muster von Körper- und Geldstrafen der letzten 2000 Jahre.
Data locuta, causa finita - zum Zweiten!
Irrweg zum Zweiten: Sollte dies 2050 so eingetroffen sein, lebten die Menschen wirklich in der Hölle.
Vielleicht. Aber keiner würde es merken. Ein schleichender Normenwandel ist der perfekte Normenwandel - und übrigens nicht illegitim. So verlief der Übergang von der Ersten zur Zweiten Aufklärung "in der Art des Klimawandels: hintergründig, indirekt, in der Art einer schleichenden Erosion von Stabilität", wie der Digisoph Martin Lindner mitten im Wandel vermutete. Was kommen würde, lag ohnehin offen auf dem Tisch. Michael Seemann sah es jedenfalls schon 2014:
"Das libertär-liberale Konzept von Freiheit als Ungebundenheit und Selbstbestimmung ist am Ende. Die Kränkung, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt, wird nicht leicht zu verdauen sein."
Mensch belächelt Überwachungsängste der Ersten Aufklärung
Überraschenderweise doch: Schon nach einer Generation wird die Unterwerfung unter eine neue Technik als Sieg des Menschen über dieselbe empfunden. So belächelt der Mensch der Zweiten Aufklärung die Überwachungsängste der Menschen der Ersten Aufklärung nur noch.
Wer Wissen sagt, sagt Registratur. Wer Registratur sagt, sagt Überwachung. Damit ist die Überwachung kein Störfaktor mehr, sondern das konstitutive Element der Zweiten Aufklärung. Ihr Spektrum reicht von der sorgenden bis zur unterdrückenden, von der abstrakt-statistischen bis zur persönlich-lenkenden Überwachung - ganz so, wie sich unterschiedliche Gesellschaftsformen und -normen auch schon in der Ersten Aufklärung gegenüber dem Individuum positionierten. Dass ums Verhältnis zwischen Einzelnem und Gruppe gerungen werden muss, ist nichts Neues. Im Gegenteil, es ist der Urgrund von Politik, ja von Zivilisation überhaupt. Die Registratur der Zweiten Aufklärung fügt dem nichts hinzu. Sie sagt nur: Ihr müsst auch hier wieder Maßverhältnisse finden, die einer aufgeklärten Zivilisation würdig sind.
Ohnehin erledigen sich durch den Normenwandel viele Ängste von selbst. Ein sozialer Tod findet nicht mehr statt. Ächtungsmechanismen, die darauf beruhen, dass in Einzelfällen "schmutzige Geheimnisse" gelüftet werden, schleifen sich ab. Auch setzt auf breiter Front eine Kommentierungs- und Suchmüdigkeit ein: Wo jeder über den anderen alles wissen kann, will keiner mehr etwas wissen. Wo jeder alles sagen darf, verfällt er ins Schweigen. Dauerskandalisierungen und Hypererregung im Shitstorm erweisen sich als typische, zeitlich begrenzte Phänomene der Übergangszeit.
Noch einmal: "Was soll ich tun?"
Dasselbe wie zu Kants Zeiten: Dem Eigenen nur so lange Vorrang gewähren, wie es das Allgemeine nicht beschädigt. Der Vorteil der Zweiten Aufklärung liegt darin, dass man ein unmittelbares Feedback erhält. Während man früher einen moralischen Stellungssinn benötigte - und ihn oft genug verkümmern ließ -, erhält man nun eine Stellungsmeldung, die einen unmittelbar über eigene Fehlstellungen in der Gesellschaft informiert. Und jede Störung im Gefüge meldete sich als Störung im Individuum zurück. Das bemerkten schon die Menschen der Übergangszeit, als sie - zwar nur kurzzeitig, doch viel zu häufig - durch Serverausfälle den Kontakt zu ihrem digitalen Selbst verloren. Schon damals wurde der Verlustschmerz umso größer, je mehr sich die personale Identität in die fremdgespeicherten Aufzeichnungen verlagert hatte. Damit wären wir bei der vierten Kantschen Frage angelangt - "Was ist der Mensch?" - hätten allerdings die dritte übersprungen. Das muss nicht sein, denn sie lässt sich rasch beantworten.
Dritte Kantsche Frage: "Was darf ich hoffen?"
Ich darf hoffen, unsterblich zu werden. Da Information unsere Existenz begründet - "It from bit" - kann es im ewigen Verzeichnetsein keinen Tod mehr geben, nur noch ein Verschleißen des biologischen Trägermaterials. Demenz wird nicht pharmakologisch, sondern informatorisch besiegt, durch den Transfer aller ich‑relevanten Daten ins Digitale. Ein Ich muss nicht mehr zwingend atmen können. Es reicht, wenn seine Bits und Bytes abrufbar bleiben, um die ehemalige geistige Gestalt rekonstruieren zu können. Es geht sogar noch darüber hinaus.
Wenn ich begriffen habe, dass es Gott nicht gibt, bin ich ein anderer Mensch. Das war die Erste Aufklärung. Wenn ich begriffen habe, dass es mich nicht gibt, bin ich in der Zweiten Aufklärung angekommen, in der die Menschen dem Wissen übereignet werden. Existentes und Transzendentes fallen dann in eins. Mehr als daran teilzuhaben, kann man vom Leben wie vom Nachleben wohl kaum erhoffen. Data locuta, causa finita zum Dritten.
Kantsche Frage zum Vierten. "Was ist der Mensch?"
Der Mensch ist weiches biologisches Gewebe, das Schmerz empfindet. Schmerz haust in allen Rundungen des Körpers, stößt jäh und unerwartet zu oder nistet dumpf in Knochen und Muskeln, Gelenken und Gedärmen. Wer Schmerz empfindet, weiß, dass er existiert. Er weiß, wo er endet, und wo die Welt beginnt. A priori widerlegt der Schmerz die Annahme der Zweiten Aufklärung, der Mensch sei ein bloßes Datenprofil, und Identität konstruiere sich aus Aufgezeichnetem, nicht aus körperlichen Erfahrungen.
Plötzlich aber ist der Schmerz gelöscht. Ein Arzt hat in den Informationshaushalt des Körpers eingegriffen, die Kommunikation der Nervenzellen unterbunden. Und jetzt?
Jetzt ist klar: Auch Schmerz besteht nur aus Information und Fehlinformation. Auf immer neuen Wegen kehrt die Weltformel zurück: "It from bit". Der Mensch basiert auf Informationen; sie allein zu kennen oder nicht zu kennen, macht den Unterschied. Jahrtausendelang konstituierte sich sein psychisches Ich aus der Informationsarmut, nämlich daraus, Geheimnisse vor anderen zu haben. So lange er mehr über sich wusste als die anderen über ihn, war er jemand.
"Identität ist Verschlüsselung", spitzte der Digisoph Martin Burckhardt 2015 zu. 2050 geht das nicht mehr; schließlich schwimmen Gedanken dann ganz oben mit im Stream. Nun gibt es nirgendwo mehr ein Ich, das sich durch Erfahrungen selbst programmiert. Es greift, im Gegenteil, auf alle je gemachten Erfahrungen zurück und erzeugt seine ich-ähnlichen Differenzierungen mittels Auswahlalgorithmen.
Wer diese zur Verfügung stellen darf, wäre die zu klärende Machtfrage; aber Machtfragen sind in der Zweiten Aufklärung Servicefragen und damit kein gesellschaftliches Schlachtfeld mehr. Sie entscheiden sich im Kraftfeld von Angebot und Nachfrage, von Erfindung und Verlockung. Gewalt ist undigital. Data locuta, causa finita - zum Letzten.
Was wäre der Mensch demnach? - Ein Teilspeicher des Gesamtspeichers.
Und worin liegt der Sinn dieser Entwicklung? - Das ist keine Kantsche Frage mehr.
Epilog.
Fest steht: Die Erste Aufklärung hat Gott vermenschlicht, die Zweite wird den Menschen entgöttlichen; jedenfalls in der Art, in der er sich selbst zum Schöpfer erkor. Mit der Digitalisierung ging er einen Schritt zu weit. Sie veränderte den humanen Code so, dass der Mensch am Ende seine Macht wieder verlieren muss, die er zwischenzeitlich durch die Maschinen gewonnen zu haben schien. Er diffundiert in eine schwer fassbare Entität hinein, in ein vielleicht beglückendes Wir, das ohne Ichs auskommt. Damit entsteht, Ironie der Geschichte, ein echter kollektiver Souverän und kein bloß metaphorischer mehr wie in der parlamentarischen Demokratie. Rückwirkend erweist sich diese Demokratie als Biotop, in dem der massenhaft auftretende, narzisstische Prothesengott am besten gedieh. Im Jahr 2050 wird er fast drei Jahrhunderte lang viel Unheil angerichtet haben. Ist sein Verschwinden Grund zur Sorge? Uns Heutigen, den Akteuren der Übergangsphase, riet jedenfalls 2014 der KI-Forscher Jürgen Schmidhuber zu Gelassenheit:
"Umarmen wir das Unvermeidliche!"
Oder schalten wir den Strom ab.