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Abbas Khider: "Der Erinnerungsfälscher"
Sich selbst ein Leben erfinden

Eigentlich hat Said Al-Wahid mit seiner alten Heimat Irak abgeschlossen. Dann aber hört er, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er reist nach Bagdad und taucht ein in seine lange verdrängte Vergangenheit. Plötzlich erinnert er sich wieder an die Flucht, sein Asylverfahren, die vielen Demütigungen. Aber muss das überhaupt seine wahre Geschichte sein?

Von Carsten Hueck | 24.01.2022
Der Schriftsteller Abbas Khider und das Covers seines Romans „Der Erinnerungsfälscher“
Ein Schicksalsschlag gleich zu Beginn, ein Anruf, der alles durcheinanderwirbelt: Said Al-Wahid sitzt gemütlich im ICE. Der angehende Schriftsteller hat erfolgreich an einer literarischen Podiumsdiskussion in Mainz teilgenommen und will nun schnell zurück zu Frau und Kind in Berlin. Das Handy klingelt, sein Bruder teilt ihm mit, dass in Bagdad ihre Mutter im Sterben liege.
„Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei. Hätte er sich jemals an die Bequemlichkeit der letzten Jahre gewöhnt, hätte er ihn zu Hause liegen gelassen, als er nach Mainz fuhr. Said ist noch immer jemand, der der Welt nicht traut.“
Die Reise nach Bagdad beginnt so abrupt wie überraschend. Und konfrontiert ihn mit seiner Vergangenheit und dem Verlust vieler Erinnerungen. Er will seine Mutter noch einmal fragen, ob sie mit ihm als Kind gespielt hat. Said weiß es nicht mehr. Nach seiner Flucht aus dem Irak vor vielen Jahren war er nur zweimal noch in der alten Heimat. Und jedes Mal hat er sie ein bisschen mehr verloren..
„Es war eine fremde Welt, gruseliger als in der Zeit der Diktatur und gruseliger als im Chaos der amerikanischen Soldaten. „Gottes Soldaten“, „die Wächter des Paradieses“ und „die Streitmacht des Himmels“ waren nur ein paar Namen von bewaffneten Milizen, die nun überall im Land herrschten. Früher hatte Said geglaubt, alles würde erträglicher werden, wenn es mit dem Polizeistaat vorbei wäre. Aber so kam es nicht. Es war kompliziert und unübersichtlich. Gott selbst war bewaffnet.“
Gefangen in Vergangenheit und Gegenwart 
Abbas Khiders Protagonist ist ein Heimatloser, abgestoßen von seinem Herkunftsland, in seiner neuen Heimat nicht selbstverständlich willkommen. Zu oft war er in Deutschland Schikanen aufgrund seines Aussehens ausgesetzt. Bei seiner Arbeit für eine NGO war Said das arabische Feigenblatt für weiße, ignorante Männer, die es chic fanden, ihn „Habibi“ zu nennen. In der Berliner Eckkneipe erklärt ihm ein Gast, dass er kein Deutscher sei. Auf Saids Einwand hin, er besäße doch die deutsche Staatsbürgerschaft, entgegnet der teutonische Trinker: „Papier ist Quatsch“.
Anhand der Erlebnisse seines Protagonisten aber zeigt Abbas Khider sehr plastisch und gar nicht plakativ, auch mit Wortwitz und jenem Humor, der schon seine vorherigen Bücher auszeichnet, wie verstörend die deutsche Gegenwart für einen Menschen dunkler Hautfarbe und wie prägend dessen zurückliegenden Erlebnisse sind. Er kann sie kaum teilen, auch nicht mit der geliebten Frau, der Mutter seines Sohnes.
„Es ist, als hätte Said eine Affäre, von der keiner erfahren soll, eine mit sich selbst. Er ist wie ein Januskopf. Das eine Gesicht ist für alle sichtbar, zeigt sich allen, so wie sie es sich von ihm wünschen. Das andere Gesicht ist verschleiert, verborgen, rückwärtsgewandt, kauert allein und freiwillig eingesperrt. Das ist Said Al-Wahid, ein verstecktes Ich und ein sichtbares Ich, die unvereinbar sind, aber dasselbe Schicksal teilen müssen.“
Problem mit Erinnerungen
Das Thema dieses Romans, das stärker in den Vordergrund tritt als in allen anderen Büchern von Abbas Khider, ist das Trauma. Das, was nicht mitteilbar oder wegzulachen ist. Der Autor flüstert davon. Unaufdringlich, aber eindeutig hörbar ist, dass eine traumatische Erfahrung nicht einfach vergeht, sondern im Gegenteil - auch unter weniger bedrohlichen Umständen – immer wieder getriggert werden kann.
Auf seiner Reise nach Bagdad ziehen viele Erinnerungen an Said vorbei. Es wirkt, als würde er sich selbst noch einmal sein Leben erzählen. Alltagsminiaturen, Familiengeschichten, Begegnungen wechseln ab. Grundiert sind sie von Traurigkeit und Einsamkeit. Manches wovon er erzählen, worüber er schreiben will, entzieht sich, ist nicht benennbar. Je präziser Said sein will, desto stärker blockiert das sein Schreiben. Und obwohl der Roman nicht als ein autobiographischer gelesen werden sollte, entfaltet sich an dieser Stelle die Poetik des Dichters Abbas Khider.
„Seine Erinnerungen sind unvollendete Ereignisse, unpräzise Skizzen. Alles Teile eines großen Puzzles, das es zusammenzusetzen gilt. Viele dieser Teile existieren nicht mehr. Sie sind durch ein Loch im Gedächtnis verloren gegangen, unauffindbar. Said muss sich die Zusammenhänge also ausdenken. Erstaunlicherweise findet Said Al-Wahid das Erinnern nicht mehr anstrengend, seitdem er es erfindet. Die Erinnerungen haben nun eine Struktur, eine Reihenfolge, und seine Geschichten haben, wie die Moderatorin bei dem Podiumsgespräch in Mainz behauptete, „eine heilende Leichtigkeit“ erlangt.
Durch das Erfinden die eigene Geschichte erzählen
Abbas Khiders Roman ist eine überzeugende Absage an den Glauben, dass alle Menschen gleich seien und alle Probleme therapierbar wären. Auch an die Forderung, alles müsse authentisch sein, um als wahr zu gelten. „Der Erinnerungsfälscher“ ist ein ernster und zugleich gewitzter Roman, schlicht in der Form, tief in der Wirkung. Ein berückendes Stück deutsche Gegenwartsliteratur aus ungewöhnlicher Perspektive.
Abbas Khider: „Der Erinnerungsfälscher“
Carl Hanser Verlag, München. 125 Seiten, 19 Euro.