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Abenteuerromane für Jugendliche

Abenteuerromane, das bedeutet auch immer ein Stück Anarchie, das bedeutet, dass die normale Ordnung aufgehoben ist, keine Gerechtigkeit garantiert und deshalb die jugendlichen Helden selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen müssen. Sie wachsen über sich hinaus, reifen und was ihnen hilft sind oft unglaubliche Zufälle und ihre moralische Integrität. Dieses Muster variieren auch die drei Jugendbücher, die wir jetzt vorstellen möchten nicht. Aber wie üblich liegt die Qualität der Abenteuerromane in der Fremdartigkeit der Welten, in die sie ihre Leser entführen. In Paul Bajorias Romandebüt „Schwarze Spuren“ bringt Druckerlehrling Mog ein bisschen Licht ins düstere kriminelle London des vorletzten Jahrhunderts. Die indisch-britische Autorin Jamila Gavin geht gar bis ins 17. Jahrhundert zurück und schickt ihren Goldschmiedesohn Filippo auf eine beschwerliche Reise, die von Venedig bis nach Afghanistan reicht. Und Erfolgsautor Kenneth Oppel, der in Deutschland mit seinen Fantasy-Trilogie „Silber-, Sonnen- und Feuerflügel“ über Fledermäuse bekannt wurde, lässt in seinem neuen Buch „Wolkenpanther“ einen Kabinenstewart per Zeppelin eine Insel mit seltsamen Raubtieren entdecken. Aufregende Orte und Zeiten also.

Von Nicole Strecker |
    Überall in London ist es nun zu sehen: ein fieses Mördergesicht, mit einem Blick von hypnotischer Schwärze und einer Miene, in der jeder die Skupellosigkeit eines Verbrechers erkennen kann. Aber London ist gewarnt, dank Mog, einem 12jährigen Druckerteufel, der über hundert mal den Steckbrief von diesem Mörder durch die Druckerwalzen gezogen hat:

    " Wenn ich durch die Straßen von London lief und überall meine eigenen Plakate mit den riesigen schwarzen Lettern an den Mauern und Zäunen sah, kam ich mir insgeheim sehr wichtig vor. Sie machten die Leute glücklich und neugierig und ängstlich, sie brachten die Leute zum Reden. Mir kam es so vor, als ob die Dinge nur passierten, weil ich das druckte. "

    Die Presse manipuliert – und das schon im London des 19. Jahrhunderts, einer düsteren Zeit, als der Gestank der Abfälle in den engen dunklen Gassen die Sinne betäubte, Kinder für ein paar Pennys zu Mördern wurden und die Justiz hilflos war. Hier hatten viele ein kurzes Leben – und Autor Paul Bajoria nimmt sich in seinem Roman „Schwarze Spuren“ viel Zeit für's makabre Lokalkolorit.

    " Große, rußige Tropfen fielen herab und zerplatzten auf den heißen Straßen. Die ausgetretenen Pflastersteine glitzerten und in den Gossen strömte das Wasser zusammen, sammelte sich bisweilen zu Pfützen und verwandelte den Staub der ungepflasterten Gassen in knöcheltiefen Matsch. Es ließ den schwarzen Fluss anschwellen und der schmutzige Teppich aus Lumpen, Müll und toten Tieren auf den stinkenden Uferstreifen wurde davon überspült. In der Stadt schwirrten die Gerüchte herum wie die Schmeißfliegen. "

    Bei diesen London-Impressionen standen wohl die Milieustudien eines „Oliver Twist“ Pate, zumal auch bei Bajoria das grausam ungerechte Schicksal eines Waisenjungen ans Herz geht. Doch anders als beim Klassiker von Charles Dickens ist Mog nicht bloß Opfer, sondern vor allem unersättlich neugieriges Gör, das sich selbst dank seiner detektivischen Spürnase eher wie eine Miss Marple immer wieder in Gefahr bringt. Denn im Sündenpfuhl London gerät Held Mog in eine äußerst verwickelte Verbrechergeschichte mit einer Vielzahl brutaler Figuren. Es geht um Drogengeschäfte. Doch für Mog geht es immer wieder auch um seine Herkunft, denn die Waise spürt, dass dieser Kriminalfall auf verschlungenen Pfaden etwas mit ihrer Familiegeschichte zu tun hat. Am Ende findet Mog tatsächlich einen Zwillingsbruder und löst damit zum Teil das Mysterium seiner Herkunft. Die Aufklärung des Verbrechens jedoch endet mit der Hilflosigkeit des Polizeibeamten Cricklebone.

    „Bücher, wie Mog hier sehr gut weiß“, entgegnete Mr Cricklebone, „haben immer ein paar leere Seiten am Ende.“
    „Ja“, sagte ich, „weil die Handlung meistens....“
    „Weil“, unterbrach mich Mr Cricklebone, „das Ende eines Buches nur selten das Ende der Geschichte ist.“

    Die Metapher ist Programm, so bleiben viele Fragen dieses Buches einfach offen und am liebsten möchte man wie in Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ das unvollständig scheinende Leseexemplar umtauschen. „Schwarze Spuren“ ist Bajorias erster Roman. Der Journalist lebt unter anderem von der Produktion von Quizshows – und große Rätsellust setzt er am Ende auch bei seinen Lesern voraus, die während des Geschehens keinen Wissensvorsprung vor dem Helden bekommen haben und immer wieder in die Irre geführt wurden. Doch Bajorias Botschaft lautet wohl ganz selbstbewußt: Noch mal lesen und sich nicht mehr von Mogs Fehldeutungen täuschen lassen. Vielleicht geht Bajorias Kalkül angesichts seines spannenden und anspruchsvollen Krimis auf, während auf derlei Engagement Jamila Gavin bei ihrem Roman „Der Ozean des Mondes“ nicht setzen dürfte.

    Auch sie erzählt das Melodram eines Vaterlosen, die tragische Geschichte der 12jährigen Halbwaise Filippo, die ihre Heimat Venedig verläßt, um in Afghanistan ihren Vater aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch anders als bei Bajoria vertröpfeln hier auch die aufregendsten Abenteuer im Parlando-Erzählton und viel zu lang geraten ihr die Sätze, wenn ihrem Helden doch eigentlich der Atem stockt. Dabei hat sich Gavin höchst exotische Schauplätze für ihr Geschehen ausgewählt: Von Venedig übers stürmische Meer nach Damaskus, von dort durch die Wüste nach Basra, und schließlich durch das Gebirge bis nach Kabul.

    " Die Nacht, die über ihrer Insel liegt, rollt weiter über das Gesicht der Erde. Auch der Mond zieht, wie die Laterne eines Reisenden, über Wüstenlandschaften und glitzernde Meere, dampfende Dschungel und Gebirgspässe. Hier ist er ganz zu sehen, dort zu drei Vierteln, dort nur halb. Über den messerscharfen Kämmen des Hindukusch steht er in dieser Nacht nur als Sichel. Ein schmaler, scharf umrissener Bogen am eisigen Himmel. "

    Die Melancholie des Mondes hat, so scheint's, die Sprache dieses Buches geprägt. Und wenn ein psychologisch glaubwürdig gezeichneter Held Filippo am Ende nach all den Mühen, Entbehrungen und Ängsten nur mit einem toten Vater ins zerstörte Heim zurückkehren kann, dann erschließt sich auch die Distanz der Erzählperspektive, für die alles Treiben letztlich zum sinnlosen Eifern wird. Fast sinnlos. Denn was sich vordergründig wie ein handlungsorienterierter Abenteuerroman liest, ist auf einer subtilen Ebene auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Glaubensformen. Ganz im aufklärerischen Sinne ist er ein Werben für Toleranz, aber zugleich auch ein Plädoyer für das Vertrauen in spirituelle Kräfte. So streut Gavin immer wieder mystische Erlebnisse in das Geschehen ein: Menschen, die in tiefere Bewußtseinsschichten vordringen können oder metaphysische Erscheinungen in Trance. Am Ende, in der Danksagung gibt Gavin ihre – während des Romans nicht immer ganz sichtbare – Motivation für ihre Geschichte preis: Eine Zeitlang vermutete die Forschung nämlich, dass ein venezianischer Goldschmied den Entwurf für das Tadsch Mahal gestaltet hat. Diesem Goldschmied widmet Gavin ihre Geschichte und erzählt von der Gier nach einem kostbaren Juwel, dem sogenannten „Ozean des Mondes“, das Ursache für das viele Blutvergießen in ihrem Roman ist. Denn Filippo sollte das Schmuckstück als Lösegeld für seinen inhaftierten Vater bis nach Agra bringen.

    " Vielleicht hat es so kommen sollen. Ein wahres Meisterwerk kann nicht für immer verborgen bleiben, weder in der Werkstatt seines Schöpfers noch in der geheimen Schmuckschatulle einer Königin. Nun ist es für alle Zeiten eine Inspiration. Wer auch immer im Besitz des Ozean des Mondes ist und für welch dunkle Zwecke auch immer er benutzt wurde – das Tadsch Mahal, wie es genannt wird, wird für alle Zeiten ein Monument der Liebe sein und für alles stehen, was gut ist in der Welt. Vielleicht war das sogar das Leben meines Vaters wert. "

    Im Kontrast zwischen der konkret beschriebenen Gewalt und den poetisch vermittelten Seelenlagen liegt ein großer Reiz dieses Buches. Allerdings hätte man sich von der in Indien aufgewachsenen Autorin noch viel mehr Präzision bei den kulturellen Hintergründen gewünscht. Ganz anders ihr kanadischer Kollege Kenneth Oppel, der in seinem neuen Roman „Wolkenpanther“ ausgesprochen gerne mit akademischer Akkuratesse auftritt und sich gelegentlich mit überzeugender Ernsthaftigkeit eines Fachjargons bedient – und seien die Erkenntnisse auch nur der Fantasie entsprungen. So etwa bei seiner Beschreibung des Luftschiffs Aurora:

    " Es war geradezu unglaublich. Alle Vorräte, Fracht, Ausrüstung, Passagiere und Mannschaft zusammengezählt, wog die ‚Aurora‘ fast eine Million Kilo. Mit einer Länge von 275 Metern vom Bug bis zum Heck und einer Höhe von vierzehn Stockwerken war sie ein Gigant. Doch sobald die Gaszellen mit Hydrium gefüllt waren, wog sie so gut wie nichts. "

    Luxusreisen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, wie Kenneth Oppel sie sich ausmalt. Sein Held Matt Cruse arbeitet als Kabinensteward auf einem Luftschiff. Er versorgt 120 Passagiere in ihren Suiten, präsentiert im schiffseigenen Kino Filme der Gebrüder Lumière und hat natürlich weit heroischere Begabungen als bloß Serviceleistungen. Die zu zeigen, gibt ihm Oppel mit einem hochdramatischen Geschehen ausführlich Gelegenheit: Das Luxusschiff wird von Piraten geentert, im Sturm zerfetzt und landet schiffbrüchig auf einer bislang unentdeckten Südsee-Insel, die gleich mehrere Geheimnisse birgt:

    " Ein grellbunter Papageienflügel trudelte durch die Zweige, jedoch ohne Papagei. (...) Etwas hatte soeben diesen Papagei verschlungen. Etwas hatte den Papagei verschluckt, aber den Flügel ausgespuckt. (...) Es sprang. Es war lang und schlank mit einem geschmeidigen, wolkenweißen Fell und so schnell, dass sich die Augen kaum darauf konzentrieren konnten. Als es durch die Lücke zwischen den Bäumen schnellte, öffneten sich einen Sekundenbruchteil lang seine Flügel und plötzlich war es ein riesiges, völlig anderes Wesen. "

    Wolkenpanther hausen auf der Insel. Sie sind eine bislang unentdeckte Spezies, die nun jedoch das Interesse der reichen, schönen Luftschiff-Passagierin Kate geweckt hat. Mit der Katalogisierung dieses Tieres will die ehrgeizige Kate ihre wissenschaftliche Karriere zementieren. Und ein unwilliger Matt Cruse muss ihr dabei helfen. Gerade die Schwächen des Helden, seine Feigheit vor der Frau, auch sein Hang zum Selbstbetrug machen Oppels Charakter realistisch. Überhaupt liegt im vordergründigen Wirklichkeitsanspruch dieses Romans seine Faszination. Denn Oppel mischt hemmungslos historische Fakten und Fantasie und erzählt mit seinen beiden wissenschaftsbegeisterten Protagonisten, dem Ich-Erzähler Matt und seiner Muse Kate, eine höchst subjektive Variante des Menschheitstraums vom Fliegen.

    " Weil ich in der Luft geboren wurde, ist der Himmel für mich seit jeher der natürlichste Ort der Welt. Außerdem war ich dünn wie ein Schössling und sehr flink. Die Mannschaft scherzte immer, ich hätte Möwenknochen, hohl in der Mitte, um besser fliegen zu können. Sich über einen Spalt zu schwingen, 150 Meter über dem Meer, war für mich nicht schlimmer, als über eine Ritze im Asphalt zu hüpfen. Denn tief in meinem Herzen hatte ich das Gefühl, sollte ich je fallen, würde die Luft mich tragen wie einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. "

    Natürlich wird Oppels ‚Ikarus‘-Figur im Laufe des Geschehens von seiner Hybris geheilt und muss erkennen, dass auch er schwerer als Luft ist. So ist auch dieser Abenteuerroman ein Buch über das Reifen und Erwachsenwerden. Eine Entdeckungsreise ins Selbst unter strapaziösen Bedingungen. In Kenneth Oppels Version bleibt auch dieses Urmotiv der Literatur ein höchst aufregendes Thema.

    Die Abenteuerromane:

    Paul Bajoria: Schwarze Spuren, aus dem Englischen von Nina Schindler,
    Beltz & Gelberg, 364 Seiten, 14,90 Euro, ab 12, aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

    Jamila Gavin: Der Ozean des Mondes,
    Ravensburger Buchverlag, , 416 Seiten, 16,95 Euro, ab 10 J.

    Kenneth Oppel: Wolkenpanther. Beltz & Gelberg, aus dem Englischen von
    Anja Hansen-Schmidt, 550 Seiten, 16,90 Euro, ab 12