Am ehesten sind für diesen Nomaden Glückszustände in Großstädten erreichbar, also dort, wo er sich treiben und verführen lässt. Im dichten Gewühl urbaner Räume begrüßt er die grenzenlose Schönheit, erfährt er die Außenreibung, empfängt er die Lebensappelle und Sinnenanreize, derer er dringend bedarf, um sich am Leben, eben gegenwärtig zu fühlen.
Zu dem Glück gehört in meinen Augen etwas, das in der Schweiz nicht zu befrieden, nicht zu stillen war, nämlich der Schönheitshunger ... , bis einem die Augen übergehen. Der Schönheitshunger war für mich so wichtig wie das tägliche Brot. ... Wenn man dreißig Jahre in einer Stadt lebt, die noch nicht aufgebraucht ist für die Empfindungen, abgenutzt ist, noch nicht bekannt geworden ist, sondern immer wieder wie ein Springbrunnen neue Facetten und Schönheitsanfälle produziert, dann ist das natürlich eine reiche Stadt zu nennen, an Schönheit.
In den Straßen, auf den Trottoirs und im Banne der architektonischen Schönheit, unter den namenlosen Passanten der Metro, also dort, wo er ganz Auge und ganz Ohr ist, fühlt sich der nun 75-jährige Paul Nizon zuhause. Ja, Leben ist für ihn Bewegung. Ein permanentes Transzendieren. Nichts Abgeschlossenes. Reine Vorläufigkeit. Ein Immerweiter ohne feste Anhaltspunkte. Ein allmähliches Vorwärtstasten in den Dark Rooms der gelebten Zeit. Alles in allem ein so lustvolles wie letztlich unbegreifbares Abenteuer voller Hindernisse jenseits bürgerlicher Normen und Konventionen, die alles vorbestimmen.
Es hängt damit zusammen, ... dass ich denke, dass das eigene Leben nicht nur eine eigene Erfindung ist, sondern eine eigene Schöpfung, wobei mir bewusst ist, dass soundso viele Leute gar keine Wahl haben, im letzten doch eine Wahl haben. Für mich ist das ein Axiom, dass das Leben nicht immer in einem verschlossenen, versiegelten Zug passiert werden soll, dass man es bewusstseinsmäßig und mit allen Wahrnehmungsmöglichkeiten ergründen und vertiefen kann oder ableben oder abschlafen kann. Das ist eine Grundüberzeugung, die fast schon an das Phänomen der Sünde grenzt, wobei ich sagen muss, dass ich mir natürlich bewusst bin, dass ich von einem privilegierten Standpunkt aus spreche, aber das ist nun einmal so, Wir können ja nicht darüber entscheiden oder hadern oder ein unglaublich schlechtes Gewissen haben, auf welcher Seite des Globus und unter welche Bedingungen wir geboren oder ins Leben geworfen worden sind. Es gibt ja auch viele privilegierte Leute, die nichts aus ihrem Leben machen, sondern es nur verblöden und versauen.
Für diesen Nonkonformisten, der alles auf diese eine Karte setzt, ist Leben ein Akt der Selbsterfindung und aufs Engste, also unlösbar mit dem Schreiben verflochten. Nur das Feuer der Liebe, die Anarchie der Gefühle kann so stark und mächtig sein, dass es den täglich Schreibenden von seiner selbsterhaltenden Passion abhalten kann.
Von der Erfahrung einer, wie Nizon sagt, "Liebesvergiftung" berichtet er in seinem jüngsten, dem zweiten Journal. "Das Drehbuch der Liebe", das den Zeitraum von 1973 bis 1979 umfasst, knüpft nahtlos an die "Erstausgaben der Gefühle" an, die bis in das Jahr 1961 zurückreichen. Da wird, was sich im Innern abspielt, so hautnah vermittelt, dass die Eifersucht, die Verletzungen, das Nicht-mehr-ohne-den-anderen-Sein-Können, der Taumel der kopflosen Gefühle, das Kämpfen um die Nähe des anderen und die dadurch bedingte Selbstaufgabe nachvollziehbar werden. Aus seiner Umlaufbahn geworfen, findet er erst wieder in der Einsamkeit, als er die Geliebte und spätere Ehefrau nach London schickt, zu sich und damit auch zu seinem Schreiben. So ungeschützt, so direkt hat Nizon von sich noch nie zuvor erzählt. Und trotzdem verwandeln sich alle Mitteilungen durch die Gestalterin namens Sprache in rhythmische Weltliteratur, so dass die Frage, was denn das Journalschreiben von dem Romanschreiben unterscheide, neu gestellt werden muss. Mit dem, was in den Journalen steht, füllen sich nicht etwa die Lücken und Zwischenräume, die Romane wie "Untertauchen", "Canto", "Stolz", "Das Jahr der Liebe", "Im Bauche des Wals" oder "Hund" hinterlassen.
Früher gemeinhin habe ich oft gedacht, bei mir ist es so, dass der Kommentar zu den geschriebenen und veröffentlichten Büchern größer und kostspieliger ist als die Bücher, und das ist interessant, Also. ...Mein ganzes Werk bis zu einem gewissen Teil ist nur die Machtanmeldung zu einem nicht geschriebenen Werk. So, wie ich irgendwo mal gesagt habe, meine Bücher sind nur die Särge von nicht geschriebenen Büchern. Aber das Journal sehe ich heute anders, ich sehe es eigentlich als die Darstellung, als die Beschreibung einer Existenz unterwegs zum Bücherschreiben.
Die Journale sind also mehr als nur begleitende Texte, die lediglich die Privatsphäre erhellen und somit den Voyeurismus der Leser befriedigen. Sie lesen sich wie sprunghafte, fast romanhafte Berichte aus dem Nahbereich und inneren Bezirk eines Schriftstellers, der den Weg zum Roman, die Mühsal der Sprachwerdung sowie das langsame Inkubieren akribisch thematisiert. Dabei kreiert er fortlaufend ein Bild von sich, so als wäre dies selbst in Gefahr, sich im Nichts aufzulösen. So sehr sich die beiden Flügel seines Schreibens aufeinander beziehen lassen, so klar wird nun, dass sich die Zuweisung, das eine sei autobiographisch und das andere fiktiv, letztlich nicht aufrechterhalten lässt. Denn auch unter der scheinbaren Spontaneität des autobiographischen Schreibens verbergen sich ein literarisches Bewusstsein sowie der Wille zur nachträglichen Ummodellierung des Selbsterlebten in Anschauung.
Lange habe ich gedacht, der Unterschied besteht darin, dass die Bücher ... das fiktionäre Werk sind, und das andere wäre das Autobiographische. Das wären die zwei Flügel, aber im Grunde genommen sind, auch die Journale haben fiktionalen Charakter, sie sind, wenn man will, .... nicht meine Lebensbilanz, sondern mein Lebensroman. Damit meine ich,.. dass ein Leben, das zum Größten Teil, wenn es publiziert wird, zurückliegt, eben auch einen Romancharakter haben kann, eben den Charakter einer großen Prosaerzählung.
"Am Schreiben gehen" heißen bezeichnenderweise die Frankfurter Vorlesungen, die Paul Nizon im Sommer 1984 hielt. In ihnen berichtet er von der Notwendigkeit des Heranwachsenden, die Innenausschläge seines zerfransten Ichs mit Hilfe der Sprachtastatur zu fassen, damit sie ihn nicht völlig lähmen. Doch die frühen Versuche, Herr der alles kommentierenden Gedankenmaschine zu werden, endeten vergeblich. Beim Notieren kam er sich wie ein Musiker vor, der, statt wirklich zu spielen, pausenlos damit beschäftigt ist, sein Instrument zu stimmen. Im Grunde handeln all seine Bücher von Lebensanwärtern. Da sind diejenigen, denen es nicht gelingt, in die satt gefüllte Welt zu gelangen, sowie die Zu-Sich-Kommenden, die den Sprung ins Leben schaffen, weil sie an einem Wirklichwerden der Welt durch Schreiben arbeiten.
Es gab in meiner sehr frühen Zeit einen Satz, der eigentlich ein Schlüsselbegriff ist für meine Journale, der heißt ungefähr so: Ich hatte sehr früh das Gefühl, dass nur der geschriebene Tag mein Tag ist, und der ungeschriebene Tag wie nicht gewesen und nicht existent ist. Und das war für mich immer schon der Movens oder der Impetus zum Schreiben, auch in der langen Zeit, wo ich nur notiert habe, ohne etwas zu veröffentlichen, also in der frühen Jugend, das dieses Bedürfnis, zu verbalisieren und nur durch die Sprachwerdung etwas ist. Etwas, was nicht Sprachwerdung geworden ist, ist so gut wie nicht gewesen.
Schreiben stellt für Nizon auch eine Möglichkeit dar, das Fremdheitsgefühl, dem er sich ausgesetzt fühlt, zu überwinden. Paradox daran ist, dass es ihm einerseits darum geht, die Entfremdung für Momente zu überwinden. Andererseits braucht er die große Fremde namens Paris, die sich niemals ganz benennen lässt. In ihr erneuert sich das schön Unbekannte, die keine Langeweile aufkommen lässt.
Ja, ich habe ja schon gesagt, ich bin ein geborener Großstadtnarr, das ist eine sehr frühe Entdeckung, man ist so geboren oder nicht. Ich konnte nie genügend Stadt haben, und die Stadt konnte nie genügend groß sein, aber das hängt natürlich auch damit zusammen, das mein primäres Erlebnis oder schöpferisches Movens das Erlebnis der Fremde ist, also menschliche Existenz gleichgesetzt mit der Konfrontation mit einer totalen finsteren Fremde, die es aufzuhellen gilt, wenn man nicht von ihr verschlungen werden will, dass ich ebenfalls als ein fremdes Wesen , das es zu erfahren gilt und auch, wenn es schrittweise erfahren werden kann, von der neuen Fremde zugedeckt wird, und nun ist die Stadt natürlich die riesigste Fremde, die aber alles enthält, und zwar in einem derartig geballten komplexen und verlockenden Sinn, dass sie eine unaufhörliche Einladung und Herausforderung ist, sich hineinzustürzen in das Abenteuer der Erkundigung, weil das Fremde und dieses vermutlich existentialistische Lebensmuster hat zum Gegenteil eine Anfälligkeit für Langeweile... Ich muss mich immer ununterbrochen aufheizen können, ich muss meine Sinne, meine Gedanken, meine Sensibilität und Nervosität hochreizen, um mich am Leben zu fühlen.
Und so streunt Paul Nizon bis heute immer noch durch die Straßen von Paris. Um zu schreiben, fährt er fast täglich mit dem Bus oder mit der Metro von seiner Wohnung, nahe dem Louvre gelegen, hinauf zum Montmartre in das Viertel, in dem Henry Miller seine "Stillen Tage in Clichy" verbrachte. Mit seinem Roman "Im Jahr der Liebe" eroberte der Pariser mit Schweizer Pass nicht nur die Herzen der Franzosen. Berühmt für seine Sprachgewalt, gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren. Längst aufgenommen in den Kreis der Unsterblichen, ist er beileibe kein Gruppenmensch, sondern ein Einzelgänger, der die Forderungen der Freiheit angenommen hat. Einer, dessen Literatur von Leben durchdrungen ist und Leben abgibt. Seine Zeit ist, wie er einmal bekannte, der Frühling, also das Erwachen und der Aufbruch.