"Im Namen aller Athleten verspreche ich, dass wir an den Olympischen Spielen teilnehmen und dabei die gültigen Regeln respektieren und befolgen und uns dabei einem Sport ohne Doping und ohne Drogen verpflichten, im wahren Geist der Sportlichkeit, für den Ruhm des Sports und die Ehre unserer Mannschaft." So lautet der Olympische Eid, den ein aktiver Sportler stellvertretend bei den Olympischen Spielen für alle anderen Athleten abgibt. In diesem Jahr war es der brasilianische Segler Robert Scheidt, der die Zeilen bei der Eröffnungsfeier vortrug.
Natürlich ist das zunächst ein Lippenbekenntnis. Vor vielen großen Wettkämpfen, zum Beispiel Fußball-Länderspielen, werden Fair-Play-Gelübde verlesen, ohne dass sie anschließend das Spiel sichtbar zum Positiven beeinflussen. Doch bei diesen Olympischen Spielen von Rio findet die Missachtung des Eids auf verschiedenen Ebenen statt – bis in die oberste. Der vielfach beschworene Olympische Geist ist ein Flaschengeist, der nur gelegentlich in Erscheinung tritt.
1. Die Sportlerebene
Natürlich möchte jeder gewinnen, die häufig als olympisches Motto bezeichnete Parole "Dabei sein ist alles" widerspricht der Natur des Wettbewerbs und dass mit einer gewissen Härte vorgegangen wird, ist nachvollziehbar.
Doch der faire Wettbewerb kennt Grenzen. Unter anderem dort, wo man dem Gegner ein Bein stellt, um selbst vor ihm ins Ziel zu kommen. Im Falle des Schwimmens ist Untertauchen das Äquivalent. Die Freiwasserschwimmerin Aurelie Muller griff sich ihre italienische Gegnerin Rachele Bruni kurz vor dem Ziel, tunkte sie, und schlug anschließend vor ihr an.
Danach wurde Muller disqualifiziert – und seither teilt sie auf Twitter all jene Kommentare, die sie verteidigen – und ihren Ausschluss verurteilen. Von Einsicht also keine Spur.
Auch der verweigerte Handschlag des ägyptischen Judokas Islam al-Shehabi seinem siegreichen israelischen Gegner Or Sasson gegenüber war ein Akt, bei dem der olympische Geist sich offenbar gerade an einer anderen Wettkampfstätte aufhielt. Al-Shehabi wurde von seinem nationalen Verband nach Hause geschickt, vom IOC gemaßregelt.
Nun gut, mag man sagen - das sind Einzelfälle, die es so oder so ähnlich auch bei vorausgegangenen Spielen gegeben hat. Die Sportler haben ihre Strafe erhalten – das schreckt andere hoffentlich ab.
2. Das Publikum
Aber auch sonst stimmt irgendwas nicht mit dem Spirit der Spiele. Das brasilianische Publikum stört die Athleten, unterbricht mit Applaus oder auch Buh-Rufen die Konzentration des Athleten.
Ein kulturelles Phänomen, weil die Brasilianer eben so jubeln, wie sie es auch beim Fußball tun, sagen die einen, als respektlos bezeichnen es andere. Der Betreuerstab der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Frauen hatte sogar Buh-Rufe beim Training simuliert, um die Spielerinnen auf die Stimmung einzustellen, die ihnen beim Halbfinale gegen Kanada entgegenschlagen würde. Wegen des 7:1 im WM-Halbfinale 2014 sind die deutschen Fußball-Teams besonders vom brasilianischen Negativapplaus betroffen. Das Training unter Extrembedingungen ist noch ganz amüsant.
Anders als das, was dem französischen Stabhochspringer Renaud Lavillenie widerfuhr. Er war vom brasilianischen Publikum, das so vermutlich den Lokalpatrioten und späteren Goldmedaillengewinner Thiago Braz da Silva zum Sieg schreien wollte, permanent ausgebuht worden. Und als die Menschen auf der Tribüne den Franzosen bei der Siegerehrung erneut ausbuhten, fing er an zu weinen. In einer ersten Reaktion hatte Lavillenie seine Situation mit Jesse Owens und den Nazi-Spielen von 1936 verglichen – unpassend, wie er später einräumte. Aber das Verhalten der brasilianischen Fans ist auch fragwürdig.
Die Brasilianer haben allen Grund zum Unmut. Wenn sie damit Sportler zum Weinen bringen, ist das aber keine Unterstützung mehr für eigene Athleten, sondern Sabotage ausländischer. Die offizielle Seite könnte mal einschreiten. Wo wir bei der dritten Ebene wären.
3. Die Vorbilder
Das Internationale Olympische Komitee zeigt sich nicht als Hüter seines eigenen Olympischen Eids. Der wird im Gegenteil durch das IOC selbst auf verschiedenen Ebenen verletzt. Man nehme nur den jüngsten Ticketskandal, aufgrund dessen nun ein enger Gefolgsmann von IOC-Chef Thomas Bach festgenommen wurde.
Worte wie Ruhm, Ehre und Sportlichkeit klingen da wie Hohn – dazu passt die fehlende Intervention gegen das unfaire Verhalten des Publikums.
Und einem Sport ohne Drogen und Doping, wie er im Eid festgehalten ist, hat man sich beim IOC offensichtlich auch nicht wahrhaftig verpflichtet – sonst müssten diejenigen, die den wohl größten Doping-Skandal im Sport aufgedeckt haben, nicht in einem Versteck in Todesangst leben.
Also – wer die Olympischen Werte nicht vorlebt, muss sich nicht wundern, dass sie von Sportlern und Zuschauern nicht eingehalten werden.
Immerhin: Einen Moment, in dem der Olympische Geist mal aus der Flasche entfleucht ist, gab es gestern auch. Beim 5.000-Meter-Halbfinale war die Neuseeländerin Nikki Hamblin gestürzt und hatte die Amerikanerin Abbey D’ Agostino mitgerissen. Die wiederum half ihrer Konkurrentin auf – und beide kämpften sich mit riesigem Abstand ins Ziel. Das Fairplay wurde mit Wildcards fürs Finale belohnt. Aber solange sportliches Verhalten von oberster Ebene nicht vorgelebt wird, wird diese Szene wohl leider ein Einzelfall bleiben.