Der Sonntag ist ein prädestinierter Tag für Weltschmerz, staatlich verordnet durch geschlossene Behörden und Geschäfte. Gar nicht so schlecht, um mal zu reflektieren, was die Woche über so los war, oder um einfach nur Wunden zu lecken, wenn es am Samstag mal wieder später wurde. Aber der Weltschmerz macht den Sonntag auch zu einem Tag, an dem man die Welt düster betrachtet – ob angemessen düster, oder düsterer, als eigentlich nötig, sei dahingestellt.
Heute steht der Weltschmerz-Sonntag ganz im Zeichen der Olympischen Spiele. Sie sollten - wie immer - ein rauschendes Fest sein, die bunten Bilder haben es häufig geschafft, die sozialen Missstände, unter denen die brasilianische Bevölkerung leidet, zu überdecken, manchmal haben sie vom Doping-Skandal abgelenkt - und glückliche Sportler sieht man ja eh lieber im Fernsehen als verhaftete Funktionäre.
Sportliche Versöhnung für die Brasilianer zum Schluss
So erlebten die Brasilianer gestern im Maracana-Stadion eine Genugtuung. Der Olympiasieg der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft - im Elfmeterschießen, ausgerechnet gegen Deutschland. Balsam für die Gastgeber nach dem 7:1 bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren. Neymar, der damals verletzt nicht dabei sein konnte, verwandelte den entscheidenden Elfmeter. Es gab beide Male Tränen - 2014 waren sie bitter, 2016 süß.
Doch auch diese Euphorie wird dem Kater weichen, auch wenn man sich in Brasilien mit gutem Recht noch eine Weile am Erfolg der letzten Nacht berauschen wird.
Wenn der Zirkus weg ist, meldet sich der Kater zurück
Was haben die Brasilianer von den Spielen? Trotz des erhöhten Sicherheitsaufgebots in der Stadt sind in der ersten Olympia-Woche in Rio 14 Menschen durch Kugeln gestorben, mindestens 32 wurden zum Teil schwer verletzt. In den ersten fünf Monaten 2016 wurden durchschnittlich sogar 428 Menschen getötet, also fast 14 pro Tag. Wenn der olympische Zirkus das Land verlassen hat – und damit auch das erhöhte Sicherheitsgebot die Ausrichterstadt, wird Rio mit seinen Problemen wieder sich selbst überlassen sein – und der Kater dürfte im Vergleich zur Party unverhältnismäßig ausgeprägt sein. Das gilt auch für die Wirtschaft des Landes, die in einer tiefen Krise ist.
Was wird von der Atmosphäre in Erinnerung bleiben? Die Leichtigkeit fehlte bei den Spielen – Stadien waren häufig halbleer, und wenn man mal volle Arenen sah, hörte man häufig brasilianische Fans Sportler aus anderen Ländern ausbuhen - die Tränen des französischen Stabhochspringers Renaud Lavillenie wurden zum Sinnbild der mangelnden brasilianischen Fairness.
Deutsche Unzufriedenheit und überhöhte Erwartungen
Auch die deutsche Leichtathletik erlebte in der vergangenen Nacht einen letzten Rauschmoment. Der Weltjahresbeste Thomas Röhler holte Gold im Speerwerfen. Nicht unerwartet, aber angesichts des bisherigen Verlaufs für die deutsche Leichtathletik auch nicht selbstverständlich. Insgesamt gewannen die deutschen Leichtathleten drei Medaillen – "unbefriedigend" für den Deutschen Leichtathletik-Verband. Doch spielt es wirklich eine Rolle, ob es nun drei Medaillen sind oder zehn? Sollte man nicht den sechsten Platz von Gesa-Felicitas Krause über 3.000 Meter Hindernis genauso würdigen wie eine Bronze-Medaille?
Aber die viel grundsätzlichere Frage lautet, wie die deutsche Gesellschaft mit Sportlern umgeht, die eigentlich nur einmal in vier Jahren in der breiten Fernseh-Öffentlichkeit stehen (in Ausnahmefällen vielleicht noch zwischendurch bei Welt- und Europameisterschaften). Schauen wir jetzt wieder vier Jahre weg und erwarten, dass in vier Jahren deutsche Sportler dann doppelt so viele Medaillen holen wie 2016?
Kreisligist soll gegen Champions-League-Teilnehmer triumphieren
Wenn der Schwimmer Philip Heintz in der "Welt am Sonntag" erläutert, dass er von der Sporthilfe nicht einmal Miete und Essen bezahlen kann und die Konkurrenz mit den Worten beschreibt, es sei, als trete ein "Kreisligist gegen einen Champions-League-Teilnehmer an. Keine Chance." Dann ist es eigentlich fast unverschämt, überhaupt Medaillenerwartungen ans deutsche Schwimmteam gehabt zu haben. Die Schwimmer holten aber keine Medaille, auch die Fechter nicht.
In einigen Sportarten ist es ähnlich, in anderen wie im Schießen oder bei den Kanuten gab es massig Erfolge – sei es, weil sie durch die duale Karriere bei Bundeswehr oder Polizei auf den Sport konzentrieren können, oder weil die Verbandsstrukturen effizienter funktionieren. Um den Kater der aus seiner Sicht ausgebliebenen Medaillen loszuwerden, wird der deutsche Sport eine komplexe Lösung finden müssen.
Alles Schlechte in IOC-Strukturen zementiert
Dass die negativen Seiten der Spiele schnell in Vergessenheit geraten könnten, ist wohl Wunschdenken. Alles, woran diese Spiele kranken, wurde nun sogar noch einmal zementiert in der Wahl der russischen Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa in die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees. Sie ist nicht nur Teil des russischen Leichtathletik-Teams gewesen, das wegen Dopings von den Spielen ausgeschlossen wurde. Sie verleidet auch ihren Konkurrentinnen den Erfolg. "Ich denke, die Siegerin wird fühlen, dass sie nicht das ganze Gold gewonnen hat, wenn Issinbajewa nicht am Start war", so Issinbajewa über Issinbajewa. Dass die Russin in der Athletenkommission künftig als Botschafterin des olympischen Geistes wirken könnte, ist schwer vorstellbar.
Solange diejenigen, die für das Verharren in kaputten Systemen, für den Unwillen zur Aufarbeitung und für mangelnden Respekt gegenüber anderen Sportlern stehen – solange wird er wohl pulsieren, der Weltschmerz beim Gedanken an Olympia. Wenigstens etwas, woran man sich berauschen kann.
"Abgefackelt" endet nun - in der Kolumne hat die DLF-Sportredaktion Hintergründiges, Humorvolles, Abseitiges rund um die Olympischen Sommerspiele in Rio abgebildet.