Wahlrechtsreformen
So soll der Bundestag verkleinert werden

Zwei Regierungen, zwei Wahlrechtsreformen, zwei Mal ging es nach Karlsruhe. Die Reform von 2020 ist laut Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Neuregelung der Ampelkoalition in weiten Teilen ebenso, bis auf einige Korrekturen.

    Umbauarbeiten im Plenarsaal des Deutschen Bundestags, aufgenommen am 15. Oktober 2021
    Umbauarbeiten im Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Das Parlament soll wieder kleiner werden. (Imago | Ipon )
    Der Deutsche Bundestag ist in den vergangenen Wahlperioden wegen des in Deutschland einmaligen Zusammenspiels von Erst- und Zweitstimme sowie Direkt- und Listenmandaten immer voller geworden. Seine gesetzliche Größe liegt bei 598 Sitzen. Tatsächlich sind es zurzeit aber 736 Sitze, also 138 mehr als vorgesehen.
    Daher haben die Große Koalition (2020) und die Ampelkoalition (2023) Reformen angestoßen. Die Gesetzesreform der Ampelkoalition vom März 2023 sieht unter anderem eine Verkleinerung des Bundestags auf dauerhaft 630 Abgeordnete vor und ist seit Juni 2023 in Kraft.
    Gegen beide Reformen gab es Protest und Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Das hat entschieden: die Neuregelung der Ampel ist überwiegend verfassungsgemäß – allein die Fünf-Prozent-Sperrklausel ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten Maßgaben fort. Noch Ende November 2023 scheiterte die Klage von FDP, Grünen und Linken gegen die Reform von 2020.

    Inhalt


    Was hatte die Ampel mit der Reform des Wahlrechts 2023 geplant?

    Seit Jahren wird über den angewachsenen Bundestag gestritten. Mitte Januar 2023 legte die Koalition einen Gesetzentwurf für eine Wahlrechtsreform vor. Eine solche Reform kann mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. In den vergangenen Jahrzehnten galt es allerdings als guter parlamentarischer Stil, beim Wahlrecht einen überparteilichen Konsens anzustreben.
    Nach heftiger Kritik legte die Ampel dann Mitte März ein überarbeitetes Konzept vor. Die Fraktionen von SPD, Grüne und FDP verständigten sich darauf, die Regelgröße des Parlaments von 598 Abgeordneten, wie im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehen, auf dauerhaft 630 anzuheben. Die leichte Erhöhung sei ein Entgegenkommen an die Opposition, sagte Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion.
    Erreicht wird die Verkleinerung, indem auf Überhang- und Ausgleichsmandate verzichtet wird. Diese sorgten bisher immer dann für eine Vergrößerung des Bundestages, wenn Parteien über Direktmandate der Erststimmen mehr Sitze im Bundestag erlangten als ihnen eigentlich nach den Zweitstimmen zustanden.
    Innenansicht des Deutschen Bundestags in Berlin. Foto vom 22. Januar 2016.
    Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament wird allein ihr Zweitstimmenergebnis sein. (picture alliance / Daniel Kalker)
    Gestrichen wird auch die Grundmandatsklausel. Diese besagt, dass Parteien, die drei Direktmandate erringen, auf jeden Fall in den Bundestag einziehen, auch wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten haben. Die Reform kann also dazu führen, dass nicht alle Wahlkreisgewinner ins Parlament einziehen.
    So war etwa die Linke wegen drei direkt gewonnener Mandate in Fraktionsstärke im Parlament vertreten, obwohl die Partei bei der letzten Bundestagswahl mit 4,9 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Wegen der Grundmandatsklausel erhielt die Linke jedoch Parlamentssitze entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil. Zukünftig geht das nicht mehr.
    Dem Gesetzesbeschluss zufolge bleibt es wie bisher bei 299 Wahlkreisen und zwei Stimmen. Die Erststimme für den Direktkandidaten, die Zweitstimme für eine Parteienliste. Die Zweitstimmen entscheiden dann darüber, wer im Bundestag vertreten ist. Den Direktkandidaten aus der Erststimme wird das Mandat nur zugeteilt, wenn das durch das Ergebnis der Zweitstimme gedeckt ist. 
    Anfang Juni 2023 unterzeichnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz. 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die Bayerische Staatsregierung, die Linke-Bundestagsfraktion sowie die Parteien CSU und Die Linke haben dagegen vor dem Verfassungsgericht geklagt.
    Die Linke und die CSU sind potenziell von den neuen Regeln betroffen. Sie befürchten, nicht mehr in den Bundestag zu kommen. Ihnen geht es in Karlsruhe vor allem um die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der sogenannten Grundmandatsklausel. Eine Verfassungsbeschwerde haben auch mehr als 4.000 Privatpersonen eingereicht.

    Was besagt das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

    Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung Ende Juli 2024 einen Teil der Gesamtreform kassiert, nämlich die Streichung der Grundmandatsklausel. Von ihr hatte die Linkspartei bei der Wahl 2021 profitiert. Sie konnte trotz des Scheiterns an der Fünf-Prozent-Hürde in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen, weil sie drei Direktmandate erzielte.
    In Zukunft könnte die Klausel auch für die CSU Bedeutung haben, auf die das Gericht in der Urteilsbegründung nun auch ausführlich abhob. Die Partei tritt nur in Bayern an und wäre selbst bei zahlreichen Direktmandaten nach dem neuen Wahlrecht nicht im Bundestag vertreten, wenn sie bundesweit unter die Fünf-Prozent-Marke fällt. Bei der letzten Wahl war sie noch auf 5,2 Prozent gekommen.

    Zweitstimmendeckung

    Das Gericht wies bei der Zweitstimmendeckung die Argumentation der Union zurück. So stelle die Vorgabe zur Deckung von Direktmandaten durch Zweitstimmen "keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts" dar, heißt es in dem Urteil. Der Gesetzgeber habe hier einen "weiten Gestaltungsspielraum". Die Regelung in der Ampel-Reform verstoße weder gegen die Chancengleichheit der Parteien, noch führe sie zu einer Ungleichbehandlung von Wählerstimmen.

    Muss das Wahlgesetz jetzt wieder geändert werden?

    Nein. Schon durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts gilt die Grundmandatsklausel bis zu einer Neuregelung wieder. Eine erneute Änderung des Wahlgesetzes vor der nächsten Bundestagswahl ist also nicht nötig. "Man könnte das jetzt einfach so laufen lassen", sagt ein Ampel-Vertreter. Es könnte demnach aber andere Gründe dafür geben, doch tätig zu werden. "Sonst müsste es die nächste Regierung tun." Dies wäre de facto eine Steilvorlage für die Union, das Wahlrecht nach einer Regierungsübernahme nochmals aufzuschnüren. Allerdings haben einige Unionsvertreter schon angekündigt, dass sie das in jeden Fall vorhaben.

    Wie wurde das Wahlrecht 2020 reformiert?

    Schon 2020 wurde unter der damals regierenden Großen Koalition ein kleiner Reformschritt für die Bundestagswahl 2021 durchgesetzt. Auch da war es das Ziel, das Anwachsen des Bundestags zu bremsen. Für die Wahl 2021 wurde die Zahl der Wahlkreise beibehalten. Es wurden aber erstmals Überhangmandate teilweise mit Listenplätzen der Partei in anderen Ländern verrechnet. Zudem wurden bis zu drei Überhangmandate einer Partei nicht ausgeglichen, weil die Regelgröße des Bundestages von 598 Abgeordneten überschritten wurde.
    Auch bei dieser eher kleinen Reform gab es Streit. Der Widerstand kam 2020 von Grünen, der FDP und Linken. Auch die SPD war ursprünglich nicht einverstanden. Der Grund: Drei Mandate wurden durch diese Reform bei der folgenden Bundestagswahl 2021 nicht ausgeglichen, und das, so argumentierten die Parteien, verzerre den Wählerwillen.
    Wie von Experten vor der Wahl prognostiziert, hatte diese Änderung des Wahlrechts nur eine geringe Auswirkung auf die Größe des Parlaments: Seit den Wahlen 2021 ist der Bundestag mit 736 Abgeordneten so groß wie noch nie. 

    Bundesverfassungsgericht erklärt Reform 2020 für rechtens

    FDP, Grüne und Linke hielten die Reform von 2020 für verfassungswidrig, unter anderem weil das Wahlrecht dadurch zu kompliziert geworden sei. Die Wählerinnen und Wähler würden nicht mehr durchblicken, wie aus ihren Stimmen am Ende Parlamentssitze werden. Das Bundesverfassungsgericht folgte dieser Kritik nicht. Die Wahlrechtsreform von 2020 sei nicht zu kompliziert, sie verstoße nicht gegen das Gebot der Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen.
    Bei der Reform von 2020 habe die damalige Große Koalition zudem die Überhangmandate, also die direkte Wahl von Abgeordneten, stärken dürfen.

    Was ist das Problem des bisherigen Wahlrechts?

    In Deutschland gibt es seit 1949 ein personalisiertes Verhältniswahlsystem. Durch das Zweitstimmensystem können die Wähler ihre Erst- und Zweitstimme gesondert abgeben. Mit der Erststimme wählt die Wählerin oder der Wähler eine Bewerberin oder einen Bewerber im Wahlkreis. Der Kandidat oder die Kandidatin muss nicht von einer Partei auf einer Landesliste aufgestellt worden sein. Die Zweitstimme bei der Wahl zum Deutschen Bundestag ist dagegen maßgeblich für die Sitzverteilung der Parteien.
    Balkendiagramm: Nach der Bundestagswahl im September 2021 werden nach dem amtlichen Wahlergebnis insgesamt 736 Abgeordnete einen Sitz im Deutschen Bundestag einnehmen. Auch in der 20. Wahlperiode werden 598 Mandate werden durch die Wahl der Erst- und Zweitstimme vergeben, der Rest sind Überhang- und Ausgleichsmandate. In den vergangenen Wahlperioden ist die Anzahl der Mandate kontinuierlich angewachsen.
    Anzahl der Sitze im Deutschen Bundestag von 1990 bis 2021 (Statista, Deutscher Bundestag)
    Das Problem war bisher: Erhielt eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate, als ihr eigentlich über die zweite Stimme zustanden, kam es zu Überhangmandaten. Diese wurden durch zusätzliche Sitze an die anderen Parteien ausgeglichen. Das sollte sicherstellen, dass zwar jeder über die Erststimmen direkt gewählte Abgeordnete im Bundestag sitzt, aber das Kräfteverhältnis bei den Zweitstimmen – mit denen man eine Partei wählt – trotzdem richtig war.
    Wegen dieser zahlreichen Überhang- und Ausgleichsmandate war das Parlament immer weiter angewachsen. Ziel der Wahlrechtsreform war es nun, den Bundestag arbeitsfähig zu halten und nicht zu groß werden zu lassen.

    Was sind die Probleme eines zu großen Parlaments?

    Eine größere Anzahl von Parlamentariern hat Folgen für die Steuerzahler: Der Bund der Steuerzahler (BdSt) mahnte auch aus Kostengründen eine Reform an. BdSt-Präsident Reiner Holznagel verwies auf zu erwartende Mehrkosten von mindestens 410 Millionen Euro in den kommenden vier Jahren im Vergleich zu einem Bundestag mit der gesetzlich vorgesehenen Mandatszahl von 598.
    Für die nun beschlossene Anzahl von 630 Abgeordneten sieht Holznagel ein Sparpotenzial von 340 Millionen Euro pro Legislaturperiode. Er bezeichnete die beschlossenen Pläne dennoch als „unambitioniert“. Für eine effiziente Parlamentsarbeit seien sogar 500 Abgeordnete ausreichend.
    Auch die Bundestagsabgeordneten selbst äußerten die Sorge, dass das Parlament nicht mehr arbeitsfähig sei, dass die Demokratie nicht mehr wirklich funktioniere, wenn der Bundestag zu groß werde. Zu große Fraktionen, Arbeitsgruppen und Ausschüsse erschweren die Abläufe und machen die parlamentarische Arbeit schwerfälliger. Auch gab es Platzprobleme: Ein Erweiterungsbau sollte schon längst fertiggestellt sein, doch der Termin verschob sich mindestens auf das Jahr 2024.

    Onlineredaktion