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Abgesang auf die Wende-Euphorie

Alexander Osang, Jahrgang 1962, hat Journalistik in Leipzig studiert, arbeitete nach der Wende als Chefreporter bei der Berliner Zeitung, danach sieben Jahre als Reporter für den "Spiegel" in New York. Für seine Reportagen ist er mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis (mehrmals) und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden. Sein erster Roman "Die Nachrichten" hat ihm ebenfalls zahlreiche Preise und eine Verfilmung eingebracht. Heute lebt Osang in Berlin - dort, wo auch sein neuer Roman "Königstorkinder" spielt: im Bötzowviertel am Prenzlauer Berg.

Von Dina Netz |
    Andreas Hermann kommt aus dem Osten, lebt im Prenzlauer Berg in einer Einzimmerwohnung, schläft allein im Hochbett und jobbt tagsüber bei einer Beschäftigungsagentur; im Moment arbeitet er an einem Theaterstück zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Ulrike Beerenstein kommt aus dem Westen, lebt auch im Prenzlauer Berg, allerdings in einem neuen weißen Townhouse, zusammen mit Ehemann, Au Pair und Tochter, und arbeitet Teilzeit als Sekretärin in einer Werbeagentur, in einem dieser neuen Ladenlokalbüros. Die einzige Schnittmenge zwischen den Leben der beiden ist der Stadtteil, in dem sie wohnen. Und der ist auch der Ausgangspunkt für Alexander Osangs Roman:

    "Ich war ja lange weg, hab sieben Jahre lang in New York gelebt, kam zurück nach Berlin und zog genau in dieses Viertel, in dem ich vorher gewohnt habe. Das war eigentlich ein Arbeiterviertel damals. Und das hat sich komplett verändert. Im Prinzip ist die Bevölkerung ausgetauscht worden. All die Leute, die aus Westdeutschland kamen und irgendwas mit Medien machen, sind jetzt da eingezogen und haben viele Kinder bekommen. Das liegt direkt am Park, die haben es für sich entdeckt. Und damit war die ältere Bevölkerung - ist weggezogen. Es hat einen völlig neuen Charakter bekommen, dieses Viertel. Und trotzdem gibt's immer noch so Trutzburgen, wo ursprüngliche Leute wohnen. Und ich finde, dass der gesamte Prenzlauer Berg sich so verändert hat."

    Das ist nun eine Beobachtung, die für die Bewohner des Bötzowviertels und überhaupt alle, die sich für Gentrifizierungsprozesse interessieren, nicht so neu ist wie für einen Heimkehrer. Die Herausforderung ist also, aus dieser nicht ganz frischen Erkenntnis einen lesenswerten Roman zu machen.

    Alexander Osang lässt Andreas und Ulrike ein paar Mal aufeinandertreffen, bis sie schließlich eine Affäre beginnen. Natürlich kann Andreas Ulrike nicht in sein Wohn-Loch einladen, und so verbringen sie ihre gemeinsame Zeit im schicken weißen Townhaus, das Andreas wie einen fremden Planeten betritt. Was sieht diese Frau, die alles hat, in diesem Versager-Mann?

    "Ich glaube, dass sie natürlich überhaupt kein perfektes, glückliches Leben aus ihrer Warte hat. Sie hat ein Leben, von dem sie denkt, das es sie immer mehr in die Künstlichkeit führt. Ich glaube, sie ist in ihrer Ehe nicht besonders glücklich mit ihrem Mann, und sie ist jetzt auch noch in diesem Townhouse-Viertel, wo sie das Gefühl hat - sie wollte eigentlich in die Stadt ziehen, ganz bewusst, und lebt jetzt wieder auf dem Land, in so einer Art Vorstadtsiedlung mitten in der Stadt mit den Nachbarn usw. und sie hat das Gefühl, sie lebt überhaupt kein richtiges Leben mehr. Sondern es ist wie auf Schienen so'n Leben und hat eine extreme Sehnsucht, diese Mauer zu durchbrechen."

    In Andreas Hermann sieht Ulrike einen, der "authentisch" lebt. Und übersieht dabei, dass er genau so unglücklich ist wie sie mit seiner gescheiterten Journalisten-Karriere und seinen Ein-Euro-Jobs. In Ulrikes Badezimmerschrank findet Andreas die Antidepressiva, die auch er nimmt.

    "Ich wollte eine Geschichte [...] erzählen, eine Liebesgeschichte von zwei aus unterschiedlichen Milieus, und das ist ein Märchen, glaube ich."

    Oder eher ein Antimärchen, denn natürlich währt das fragile Glück der Königskinder nur die Länge der Geschäftsreise von Ulrikes Ehemann.
    Osang gibt unumwunden zu, dass auch er seine Hauptfigur Andreas Hermann romantisiert:

    "Ich hab mich natürlich, was meine sozialen Bedingungen angeht, sehr weit weg bewegt von vielen meiner Freunde und hab oft gedacht und denke das immer noch teilweise, dass es für mich viel, viel schwerer ist, mir selbst treu zu bleiben, dass ich meine Wurzeln vielleicht verrate, dass man so ein Leben leben muss, um über diese Gesellschaft berichten zu können. Dass ich mich sozusagen aus der Gesellschaft rausbewegt habe. Das sind Ängste, die ich habe. Und andererseits habe ich in meinem Leben sehr viel Druck und Stress und Terminnöte und so. Und die hat der Held eigentlich weniger. Er wirkt schon gelassener auf mich, vor allen Dingen langsamer, viel langsamer als ich. Ich finde das manchmal schon extrem beneidenswert."

    Das ist der Kern von "Königstorkinder": Das Buch ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ein endgültiger Abgesang auf die Wende-Euphorie. Und trotzdem bleibt für Osang die Frage, ob nicht jeder Einzelne doch sein Leben ändern kann:

    "Eigentlich ist das Thema des Buches, was ja mein Thema ist: Gibt's eine Chance, aus seinem Leben zu entfliehen? Gibt's wirklich eine Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen? Oder ist das nur eine Vorstellung, die wir haben? Können wir wirklich wegrennen vor unserem Leben? [...] Und wäre es nicht wirklich schön gewesen, dass die Wende eine Chance gewesen wäre für uns alle? Darum geht's letztlich. [...] Ich persönlich glaube ja, dass es nicht funktioniert, dass wir uns immer mitnehmen. Aber ich möchte eben auch die Hoffnung nicht zerstören, das bin ja nur ick. Ich finde, dass uns das sozusagen am Leben hält, dass wir die Möglichkeit haben, wegzukommen von dem, was wir mal waren."

    Dass er in "Königstorkinder" alle Ost-West-Klischees bestätigt - die Wessis sind reiche Schnösel vom Film oder Anwälte, die Ossis sind arbeitslos und kauzig -, stört den Autor nicht. Ihm geht's beim literarischen Schreiben eben auch um das, was der Journalist Osang sich nicht herausnimmt: Ironie und Unterhaltung.

    Dennoch wäre das Stadtmärchen vom schönen weißen Schwan und dem hässlichen grauen Entlein wahrscheinlich ziemlich fad, wenn Osang nicht mehr auffahren würde: den DDR-Professor und sein Tagebuch zum Beispiel, das sich Andreas und Ulrike gegenseitig vorlesen und das den Blick erweitert auf eine andere Generation Ostler und ihr kurzes Nach-Wende-Leben. Oder die Kumpels von Andreas bei der Beschäftigungsagentur, die von der Gesellschaft vergessen auf einem Scheinarbeitsmarkt geparkt sind.

    Zum Schluss schlägt Osang einen wirklich überraschenden erzählerischen Haken, indem er seinen Protagonisten in ein Marsflugexperiment schickt und der dafür zuständige Arzt feststellt, dass Andreas ihm mit seiner Geschichte einen riesigen Bären aufgebunden hat. Eigentlich ist "Königstorkinder" also eine Geschichte über den manischen Erzähler Andreas Hermann - vom manischen Erzähler Alexander Osang.

    Alexander Osang: Königstorkinder
    Roman, S. Fischer Verlag, 334 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-10-057613-2