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Abgründe

Am Ende des neuen Buches von Hans Joachim Schädlich reist sein Erzähler, ein pensionierter deutscher Meteorologe, mit seinem Freund Antonio zur Regionalen Klimakonferenz nach Sydney. Bei einem Zwischenstop in Singapore geschieht etwas Räselhaftes. Antonio trifft eine chinesisch-malaiische Frau, die anscheinend Hilfe sucht: Sie schreibt und redet unentwegt vor sich hin, und als er sie anspricht, folgt sie ihm ins Hotel, zieht sich aus, badet, setzt sich auf den Teppich und schreibt weiter, zerreißt, was sie geschrieben hat, und auf die erste Ansprache, englisch, was sie da schreibe, �stieß sie hervor: �Alle haben mich verraten!�� Sie füllt Blatt um Blatt, bittet um ein Kuvert, stopft die beschriebenen Blätter hinein und geht. Im Hotelrestaurant treffen sie sie wieder; sie schreit den Kellner an: �Verräter�, und verschwindet.

Heinz Ludwig Arnold |
    Der Erzähler geht ins Hotel zurück und schreibt seinen Freunden Ida und Awa einen Brief voller meteorologischer Angaben über Singapore, kein Wort von der merkwürdigen Begegnung, aber die Überlegung: �Ich sollte mich mit der Anpassung der Lebewesen an veränderte klimatische Bedingungen beschäftigen. Präziser: an veränderte Bedingungen. Ich hoffe, daß ich auf der Klimakonferenz Biologen treffe. Ich verbinde das Thema mit unseren �Fällen�.�

    Dieses 23. von 26 Kapiteln des Romans �Anders� von Schädlich wirkt wie eine versteckte Schlüsselszene. Sie benennt eines der wichtigen Motive der Literatur Schädlichs: den Verrat, will sich mit der Anpassung von Lebewesen an �veränderte Bedingungen� beschäftigen und diese Arbeit mit �unseren �Fällen�� verbinden. Die Szene baut nachträglich und gleichsam aus dem Inneren des bis dahin Erzählten die Begründung einer Rahmenhandlung auf, die bislang nur sehr locker und anscheinend willkürlich verband, worum es in diesem Buch, und worum es Schädlich eigentlich geht: die Erörterung der �Fälle�.

    Zwei pensionierte Meteorologen, Awa und der Icherzähler, und Ida, die beide liebt und von beiden geliebt wird, sammeln Fälle: Es sind dies Beispiele von Menschen, die in negierender Abwandlung einer Wendung Ciceros nicht für das gehalten werden wollen, was sie sind, und sich deshalb nicht so geben, wie sie sind. Es geht also um Menschen, die anders sind, als sie scheinen; um Menschen, die anders sind, als sie waren; um Menschen, die sich hinter einer anderen Geschichte verbergen, oder die ihre alte Geschichte mit einer neuen camouflieren.

    Als ersten Fall erzählt Awa einen, von dem sein Kollege, der Erzähler, durchaus anzweifelt, ob er in die Reihe, die sich dann später ergibt, überhaupt paßt: Wie der Theologe und Paläograph Konstantin von Tischendorf in der Mitte des 19. Jahrhunderts dreimal das 530 unangreifbar an den Dschebel Santa Katarina gebaute Katharinenkloster im südlichen Sinai besucht, dort beim ersten Male 129 Blätter aus der Septuaginta, der im 3. vorchristlichen Jahrhundert angefertigten griechischen Übersetzung des Alten Testaments, entdeckt, und die meisten davon mit List und Geld nach und nach in russischen Zarenbesitz bringt (notabene: Stalin verkaufte sie 1933 an England; sie liegen heute im Britischen Museum).

    Was hat, fragt der Erzähler, diese Geschichte mit den �Fällen� zu tun? �Tischendorf war nicht der, für den er sich bei den Sinaiten ausgegeben hat.� Aber hat er nicht für die Menschheit wertvolle Manuskripte gerettet? Ist damit sein Verrat nicht sanktioniert?

    Der zweite Fall erzählt eine Eulenspiegelei von dem serbischen Philosophen Bogoboj Joksimovič, kurz Bogo, den die beiden in einem Internationalen Forschungsinstitut kennen lernen und der sich von Stipendium zu Stipendium hangelt, denn �zu Hause könne er keine philosophische Arbeit finden, weil er weder Nationalist noch Kommunist sei� � wunderbar sachlich wird diese Hochstapelei erzählt, und entlarvt wird das Ganze durch Zitate aus Bogos Arbeit � ein Beispiel: �Das Verhältnis zwischen Fundamentalontologie und Poesie konstituiert sätzliche d.h. ontologische Möglichkeit der gegenseitige unendliche Mit-Verhaltung. Die Befragung nach der Grund des Seins steht in einer Reihe mit der Befragung nach der Grund der Sprache, wobei die Herausspringen des Menschen in das Sein und die Herausspringen des Menschen in das Sein und die Herausspringen der Sprache als Ins-Wort-Entstehung-des-Seins sind das Selbe...Unser Wohnen im Sprache bestimmt sich durch die Weise auf welchem wir...zu den Struktur des Seins des Daseins selbst gehören.� Man darf darin durchaus das Zitat eines gedruckten Texts und hinter der Eulenspiegelei eine wahre Geschichte vermuten.

    Und worum geht es da immer? Schädlich führt Rollenspiele vor, noch erst von harmloser Art und verschiedenem Ansatz. Doch es wird ernster, bitterernst. Schädlich führt mit Hilfe seiner beiden Meteorologen, die ja qua Beruf im Voraus wissen, woher der Wind kommt und wohin er weht, in die Abgründe der menschlichen Camouflage, wie sie in den Wechseln der zur Macht gekommenen mörderischen Ideologien des 20.Jahrhunderts gang und gäbe war; denn da wurden der Verrat, die Verstellung, die Lüge geradezu endemisch, weil, wie es Primo Levi formuliert hat, den Menschen der �Zugang zur Wahrheit verboten und verweigert� und so eine �Versuchung ihrer Moral und ihrer Erinnerung� betrieben wurde.

    Die Menschen sind ihr auf unterschiedliche Weise erlegen. Schädlichs Meteorologen beschreiben und untersuchen genau und intensiv, wie zum Beispiel die Menschen in Weimar neben, mit und vor allem von dem Konzentrationslager Buchenwald lebten � und wie sie ihr Erleben dann verdrängten: denn wer wußte schon was?

    Sie erzählen einander die Geschichte von dem jüdischen Jungen Stefan Jerzy Zweig, der in Buchenwald überlebte, weil ihn die im Lager am besten organisierten kommunistischen Häftlinge verborgen und schließlich gerettet haben, als er ins Gas sollte; und für ihn den Zigeunerknaben Willy Blum in den Tod schickten. Und wie der DDR-Schriftsteller Bruno Apitz aus dieser realen Geschichte mit dem Roman �Wolf unter Wölfen� eine antifaschistische Heldenlegende machte, von der Selbstbefreiung des Lagers durch die Kommunisten, das tatsächlich von den Amerikanern befreit worden ist; und mit einem Jungen, der zum Maskottchen einer verlogenen Gloriole wurde und der, nachdem er später als Kameramann in der DDR lebte, nicht an die eigene Geschichte, sondern an die verlogene Legende glaubte � auch noch als es die DDR nicht mehr gab.

    Alles Anders-Geschichten. Schädlichs Titel greift weit. Nebenfiguren tauchen auf, in Miniaturen knapp, realistisch und zugleich lakonisch porträtiert: der Türke, der zwei Leben leben will; Antonio, von dem der eigene Sohn sagt, er sei ein ganz großer Meteorologe, aber ein ganz mieser Vater; die an Alzheimer leidende Mutter des Erzählers, deren fortschreitende Krankheit mit sparsamsten Mitteln knapp, dialogisch, treffend und eindrucksvoll beschrieben wird, ohne daß der Name der Krankheit nur einmal genannt wird. Und einmal erzählt sogar Ida: die geradezu burleske Verwandlungs-Geschichte von Dschidschi, hinter dem unschwer der flinke Gregor Gysi erkennbar wird.

    Im Zentrum dieses Romans vom �Anders�-Werden steht die spektakuläre Verwandlunggeschichte des SS-Mannes Hans Ernst Schneider in den renommierten Germanisten Hans Schwerte, die vor Jahren entdeckt wurde. So genau, wie die beiden Meteorologen sie beschreiben und analysieren, ist sie noch nie erzählt worden, und nie so, wie sie hier gleichsam den ganzen Hof der sich um Schneider/Schwerte scharenden Figuren versammelt, von denen ja einige wissen mußten, wer dieser Schwerte eigentlich war. So wirft diese Geschichte nebenher auch ein Schlaglicht auf die Geschichte der deutschen Germanistik, genauer: auf deren Transformation aus der nationalisierten Wissenschaft von germanischem Erbe- und Ahnenkult in eine neue, zeitweise gar linke Germanistik, von deren Matadoren einer eben Schwerte wurde.

    Der hatte keine Scheu. Setzte sich zusammen ausgerechnet mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Auschwitzprozeß initiert hat, auf ein öffentliches Podium zum Thema: �Was hat Auschwitz mit dem �Deutschen Menschen� zu tun?� und �redete davon, daß die Deutschen vor sich selbst ehrlich werden müßten, um wieder identisch mit sich werden zu können�. Von Schwerte stammt auch Johannes Raus liebster Spruch vom �Versöhnen statt spalten�.

    Ähnlich pervers wie die �Anders�-Geschichte von Schneider ist jene des Hans Rößner, der 1934 in die SS eintrat und �1938 eine �Denkschrift� für den Sicherheitsdienst der SS über die �Lage und Aufgabe der Germanistik� (schrieb). Darin denunzierte er 50 Germanisten als �Gegner� und teilte sie in Juden, Freimaurer, Katholiken ein.� Er tauchte nach 1945 als Verleger wieder auf � nicht bei irgendeiner rechtslastigen Schmiere, sondern als Geschäftsführer im Piper Verlag, betreute der Mitscherlichs Buch �Unfähigkeit zu trauern� (1967) und das Werk von Hannah Arendt � so deren Report �Eichmann in Jerusalem� (und hatte selbst einst mit Eichmann im Reichssicherheitshauptamt gesessen).

    Aber auch anders wendeten sich Wissenschaftler � so blieb der Leipziger Führer der NS-Dozentenschaft, der Indogermanist Heinrich Junker im Lande und wurde ein als �hervorragender Wissenschaftler des Volkes� hochdekorierter Mitarbeiter im Staatssekretariat für das Hochschulwesen der DDR. Und so mancher alte NS-Offizier tauchte in der Generalität der DDR-Volksarmee wieder auf.

    �Anders� ist kein Enthüllungsbuch. Aber wohl ein Anschauungsbuch � das Musterbuch zumeist uneinsehbarer menschlicher Abgründe. Schädlich läßt seine Meteorologen nicht polemisieren oder attackieren, er läßt sie ihre Fälle fast kalt erzählen. Sie sind Wissenschaftler, beobachten das Wetter aus großer räumlicher und zeitlicher Distanz. Und gerade das macht angesichts der Perfidie der Fälle sprachlos. Die Literarisierung der Stoffe, die Schädlich da auf seine typisch distanzierte, unaufgeregte, ja geradezu alltägliche Erzählweise unternimmt, führt nämlich weiter als bloß zur Kenntnis der widrigen Geschichten; sie führt zur eindringlichen Erkenntnis der wandelbaren unauslotbaren menschlichen Natur.

    So reist der Erzähler am Ende von Singapore weiter nach Sydney zur meteorologischen Regionalkonferenz. Dort trifft er, der sich einen Biologen wünschte, einen Zoologen. Mit ihm unterhält er sich über Tarnungs- und Täuschungsmanöver in der Tierwelt, deren Anpassungsprozesse nicht nur schnell verlaufen, wie beim Chamäleon, sondern manchmal auch lange, bis zu drei Jahren, dauern. Diese Anpassungen, doziert der Zoologe, geschehen bei Tieren instinktiv; und beim Menschen? fragt unser Erzähler; da geschehen sie bewußt � denn dem Menschen komme �die Fähigkeit zur Lüge zustatten, jene Glanzleistung des menschlichen Geistes...Tiere können nicht lügen.�

    Nach dem Kongress bleibt der Erzähler erst einmal in Australien, bei den Antipoden, in der anderen Welt. Er scheint ratlos wie die chinesisch-malaiische Frau in Singapore. Aber er schreibt nicht und er schreit auch nicht. Sein Interesse an weiteren Fällen ist erloschen. Er sagt, er habe resigniert: �Weil sich nichts ändert.� Denn auch das Andere bleibt dasselbe.

    Hans Joachim Schädlich
    Anders
    Rowohlt, 224 S., EUR 19,90.