Archiv


Abgründe und Aufbrüche in der Republik

Wegen des Rheinhochwassers musste das Festival kurzfristig aufs Festland umziehen, ein Großbrand zwang zu einem Tag Pause. Nach 19 Tagen und acht Weltpremieren endet es nun. Eine Bilanz.

Von Klaus Gronenborn |
    "Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt." Diesen Satz schrieb Heinrich von Kleist im Mai 1799 an seine Schwester Ulrike. Wörtlich zitiert in "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel", dem Abschlussfilm des Regiestudenten Aron Lehmann an der Potsdamer Filmhochschule, begleitete dieser Satz darüber hinaus wie ein Basso continuo das Repertoire der insgesamt 19 Filme im Wettbewerb um den diesjährigen Filmkunstpreis. Das Festival des deutschen Films hat sich in seinem neunten Jahr zu einem stilistisch reichen Premierenfestival entwickelt. Es fand mit der Verleihung des Preises für Schauspielkunst an Bruno Ganz seinen ersten Höhepunkt.

    Um Abgründe und Aufbrüche ging es im Wettbewerbsprogramm in der Summe und um die alte und gleichwohl immer noch offene Frage: Wie kann man leben und dann noch mit anderen? Aktuelle Antworten darauf bot der mehrfache wortwörtliche Rekurs auf die Klassiker der deutschen Literatur. Und es ist sicherlich kein Zufall, das gerade Heinrich von Kleist und Georg Büchner, diese sprachmächtigen Rebellen in der deutschen Literaturgeschichte, als geistige Paten zweier der interessantesten Filme des diesjährigen Festivals im Gedächtnis blieben.

    "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel" erzählt auf dem ersten Blick die Geschichte eines scheiternden Filmprojekts. Dem Produzenten einer Michael-Kohlhaas-Verfilmung in der niederbayerischen Provinz geht das Geld aus. Der Regisseur steht vor der Frage: Aufgeben oder Weitermachen? Natürlich macht er weiter und der Film wird zum Projekt trotzigen Widerstandes wie poetischer Imagination, in der Fallhöhe gelungen balancierend zwischen heiligem Ernst und sarkastisch geerdeter Komik.

    Jenseits der Fassade aller Provinzkomik beim Dreh geht es in "Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel" aber um mehr: um das Kino im Kopf des Zuschauers, um Kinomagie. Diese kommt in jenen Momenten zur Anschauung, in denen der Regisseur in der Verzweiflungschoreografie seines Kampfes gegen die widrigen Verhältnisse selbst zu einem Michael Kohlhaas mutiert.

    Das Kino als Ort der Magie, der Wunder, war gleich im Eröffnungsfilm des Festivals präsent.

    "Geschichten erzählen, das hat früher die Religion gemacht. Heute tut dies das Kino", betonte Regisseurin Anne Wild nach der Uraufführung ihres Films "Schwestern", der im Spätherbst in die deutschen Kinos kommt.

    Kati, jüngste Tochter der Familie Kerkhoff, hat sich entschlossen, als Novizin in ein Kloster zu gegen. Ihre Entscheidung wird zum Katalysator für Konflikte innerhalb der angereisten Geschwister, Eltern und Anverwandten. Denn die Familie reagiert auf Katis Entschluss mit sehr gemischten Gefühlen.

    "Schwestern" ist ein Film der Aufbrüche. Anne Wilds Regie erzählt ihn in eher leisen Tönen und sehr poetischen Bildern. Sie lässt die Frage offen, wer die Mutigere der beiden Schwestern ist: Kati, die ins Kloster geht, oder ihre Lieblingsschwester Saskia, die als erfolgreiche Businessfrau sich der Komplexität der Moderne stellt, sie aushält und ihre Schwester Kati dennoch nicht verlieren will.

    Leben heißt: Entscheidungen treffen. Dieser Satz galt beim "Festival des deutschen Films" nicht nur für den Eröffnungsfilm "Schwestern". Er galt auch für den von Achim von Borries in gediegen-kühler Farbdramaturgie inszenierten Psychothriller "Alaska Johannson". Hier gerät die herb-schöne und erfolgreiche Headhunterin gleichen Namens eines Tages durch ein paar ominöse Ereignisse in eine Situation, die ihr Leben auseinanderbrechen lässt. Und er galt für "Adieu Paris" von Franziska Buch - ausgezeichnet mit dem neuen Ludwigshafener Drehbuchpreis für den Autor Martin Rauhaus -, eine melodramatisch pointierte Dreiecksgeschichte zwischen einem Bankmanager, einer Starautorin und ihrem Geliebten in Paris, der nach einem Autounfall im Koma liegt.

    Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. Man ersetze den unbestimmten Artikel "ein" vor "Abgrund" durch das Possessivpronomen "sein" - und schon taugt dieser Satz aus Georg Büchners Dramenfragment "Woyzeck" zu einem zweiten thematischen Grundton des Festivals, im Blick auf die Beziehungsdramen.

    In Bild und Ton auf ebenso radikale wie eindrückliche Art und Weise nicht dem konventionellen Fernsehspielrealismus verpflichtet ist die "Woyzeck"-Adaption von Nuran David Calis. Calis, der sich auch als Theaterregisseur einen Namen gemacht hat, siedelt seinen "Woyzeck" im zeitgenössischen Berlin an.

    Physisch erschöpft zwischen seinen Jobs als Müllwerker im U-Bahn-Tunnel und Aushilfe im arabischen Kiezrestaurant im Wedding driftet Woyzeck, hervorragend gespielt von Tom Schilling, durch das zeitgenössische Berlin. Weil das Geld für ihn, seine Freundin Marie und ihr Baby nicht zum Lebensunterhalt reicht, nimmt Woyzeck - statt der Büchnerschen Erbsendiät - an einer ominösen medizinischen Studie des ihn betreuenden Doktors teil.

    Die akustisch eindrucksvolle Tonspur des "Woyzeck" Filmes, die seine ebenso packende wie verstörende Bildwelt begleitet, komponiert Sätze aus Büchners Bühnentext und Echos aus seiner Erzählung "Lenz" mit Berliner Kiezslang zu einer hochmusikalisch verdichteten Sprachpartitur.